Der Himmel ist blau: Roman
Von Markus Draxler
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Buchvorschau
Der Himmel ist blau - Markus Draxler
Acht
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Der Himmel ist blau. Ich liege in der Sonne. Da sind die Bäume. Die rauschen. Durch sie kommt das Meer zu mir. In die Mitte von Deutschland. Das Meer ist auch blau. Neben mir ist mein Freund Manni. Manni ist blau. Eigentlich sind wir alle ein bisschen blau. Nur ein bisschen. Reden wenig heute. Jeder hat seine Liege. Darin liegen wir. Gucken uns den Himmel an. Der blau ist. Morgen gehen wir arbeiten. Dann kommen wir wieder hierher.
EINS
Wenn einer viel Geld hat, dann baut der sich die schicken Häuser. Fährt die schnelleren Autos. Der muss sich bei der Arbeit vermutlich nicht schmutzig machen und duftet immer nach Frühling. Der bekommt eher die Frauen, die so zart sind, dass man sie kaum anfassen kann, ohne sie zu zerbrechen. So einer bringt die ganzen hübschen überflüssigen Dinge in seinen Besitz, um die irgendein anderer ihn sicher beneidet. Der sagt nicht Bitte und Danke, es sei denn er hat was davon. Wenn einer viel Geld hat, dann steht ihm die Welt offen. Der holt sich die Profis, wenn was zu tun ist. Und wenn das Schweine sind, Grenzdebile, halbseidene Stricher – da ist man halt auf einem Auge blind. Das Ergebnis zählt. Was auch sonst.
Ich erinnere mich an keine Saison, in der ein gewisser Verein aus dem Süden keine Mannschaft voller Halsabschneider, Nachtreter, Schauspieler aufs Feld geschickt hätte. Ein egomanischer Torwart, der auf dem Spielfeld Menschen beißt. Absurd hässliche Typen. Trainer, die sich von ihren eigenen Kindern Herr Vater nennen lassen, wie die bemitleidenswerten Großgrundbesitzer vergangener Jahrhunderte. Schwer geschädigte Leute. Kreaturen. Mein Gott, was flog denen schon um die Ohren, die in rot-weißen Trikots unter dem Wappen des Freistaats auf Gelsenkirchener Rasen aufliefen! Das ist eine Verachtung, ein Ausspucken, was dann von den Rängen hinabschlägt. Und wenn es irgendetwas gibt, das man diesen Halbaffen zugestehen muss, dann die Tatsache, dass sie unter diesem Gewitter nicht weinend zusammenbrechen und nach ihren vermutlich fetten, vermutlich ekelerregenden Müttern rufen.
Wir hatten nie besonders viel Geld. Kohle, irgendwann mal, aber das ist auch fast vorbei. Unsere Häuser sind grau, wenn wir welche besitzen, die Wohnungen gerade groß genug. Die Autos sparen wir uns vom Mund ab, wir schwitzen bei der Arbeit und riechen nach Erde oder Benzin. Unsere großen, festen Frauen wissen das zu schätzen, wenn es ihnen auch manches Mal nicht gefällt. Unsere Nächte sind laut und gehen erst mit den Sternen. Wir haben unsere Sachen, im Winter drehen wir die Heizungen auf, die Kinder haben zu essen und alles. Sommerurlaub ist fast jedes Jahr drin. Es gibt immer irgendwo einen Garten, in dem man sich treffen und in der Sonne liegen kann. Es ist Verlass aufeinander. Und samstags stehen wir zusammen in der Kurve, singend, schreiend, halbnackt.
Es ist der 26. Januar. 60.600 Menschen im Stadion. Sechs Grad. Stille ist nicht einmal vorstellbar. Dieser wahnsinnige Zeiger, der zwischen Sieg und Niederlage zappelt. Dass wir schreien können, wenn er sich in eine Richtung entscheidet. Die Erlaubnis, ja das Gebot, die Kontrolle zu verlieren, wenn in unseren Augen Unrecht geschieht oder eine Chance verpasst wird, oder wenn der Gegner dann geschlagen ist. Die bitteren, doch leicht vergossenen Tränen nach einer Niederlage. Dann die Hoffnung auf bessere Tage. Analyse. Wissenschaft. Ein fröhlicher Krieg ohne Tote und Verletzte. Immer das Gleiche. Doch immer auch anders und neu.
Dann Anpfiff. Tunnelblick. Wer jetzt hier ist, weiß nichts mehr von der Welt da draußen. Es gibt nur noch diesen grünen Rasen, zwei Tore, einen Ball, die Zweiundzwanzig, die ihn bewegen, und einen mit Pfeife. Und uns. 60.600 Menschen, die ungefähr das Gleiche fühlen. Eine halbe Stunde Zittern. Dann die Sensation durch Mpenza in der 34. Man überschlägt sich. Nur eine Minute später, noch bevor man sich wieder halbwegs sammeln kann, setzt Ebbe Sand nach. Irrenhausatmosphäre. Nach der Halbzeit trifft Scholl zum 2:1-Anschluss. Wieder Zähneklappern. Lauter schreien. Aber in der 54. gibt Jörg Böhme mit dem 3:1 Grund zur Beruhigung. Von Ruhe dabei natürlich keine Spur. Als der lange van Hoogdalem eine Viertelstunde vor Schluss das 4:1 macht, kippt neben mir einer um. Unten, im Graben zwischen Tribüne und Spielfeld, misst jemand den Lärmpegel und redet dann aufgeregt mit irgendwem anders. Es ist jetzt sehr, sehr laut. Oude Kamphuis macht in der 90. die Demütigung perfekt. 5:1. Und dann ist das Spiel aus. Das Spiel ist aus.
Wir sind wie in Trance, als sie das Vereinslied bringen. Manni ist so weggetreten, dass er den Text nicht mehr zusammenbringt. Er reckt mit beiden Händen den Schal in die Höhe, wie alle anderen auch, aber statt mitzusingen, grölt er nur unaufhörlich „Schalkeschalke", eingepuppt in diesen Singsang wie ein buddhistischer Mönch oder so was. Das heißt, von Grölen kann eigentlich keine Rede mehr sein. Wir haben alle unsere Stimmen so gut wie verloren. Wenn wir einander was sagen wollen, dann sieht man den Gesichtern zwar an, dass geschrien wird. Aber es kommen nur noch dünne, verrauchte Tönchen aus den Mündern, die keinen Sinn ergeben. Egal. Wir verstehen uns eh. Und zu sagen gibt es im Moment auch nicht viel. Wir haben alle das Fieber, wissen für eine ganze Weile nicht, was als Nächstes kommen könnte, was genau passiert ist und wer wir überhaupt sind. Letzteres gilt besonders für Manni. Er ist jenseits. Zwischendurch hat er den Blick vom letzten Spieltag 2001. Diesen leeren, in unendliche Ferne gerichteten Blick. Wahnsinn. Man kann sehen, dass er was verarbeitet, und wir stören ihn nicht.
Die Spieler kommen. Tosender Applaus, La Ola, ein bisschen Tanzen. Oli Reck lässt sich von einem der Fahnenschwenker die Fahne geben und schwenkt sie. Im Augenwinkel erkenne ich eine Träne in Gerds grinsendem Gesicht. Er klatscht und heult, ich haue ihm auf die schmale Schulter und drücke ihn an mich. Lieber, sensibler Gerd. Eigentlich ist dieser Verein die meiste Zeit zu aufregend für ihn. Manchmal kann man sich direkt Sorgen machen um sein kleines Herz. Er raucht ja noch viel dabei. Und mit seiner Frau und den Freundinnen, das ist wohl auch nicht mehr so. Da dreht sich gerade nicht alles um Fußball bei ihm. Klar. Aber jetzt denkt er: Es läuft. Alles ist möglich. Es läuft. Lieber, bisschen naiver Gerd. Das Lied ist immer noch nicht zu Ende. Ich drücke ihn und schreie – so laut ich kann – ein paar Textbrocken in sein Ohr. Er grinst mich an und drückt zurück.
Da kommt Bobbel vom Einkauf zurück. Er ist gereizt, zeigt sich ein paar Minuten lang wortkarg. Schließlich stellt sich heraus, dass ihm beim Bierkauf Folgendes passiert ist: Er wollte ungefähr seinen halben Monatslohn auf die Knappenkarte laden lassen. Man eröffnete ihm daraufhin, dass der maximale Aufladebetrag bei 150 € liegt. Infolgedessen stand Bobbel wohl ungefähr eine Viertelstunde an dem Stand und hat dem armen Mann darin einen Vortrag darüber gehalten, wie astrein der FC Schalke, dass das neue Stadion ja auch schön wäre, dass man aber wirklich aufpassen müsste, mit der Kommerzialisierung und so. Denn die Kommerzialisierung, das wäre so eine Sache, die mit Schalke nun wirklich nichts zu tun hätte. Und dann hat er so lange „Blau und Weiß ein Leben lang in das kleine Häuschen von dem Knappenkartenauflademann hineingeschmettert, bis dieser ihm schließlich drei Karten zu je 150 € verkaufte. Eine dieser Karten hat er, Bobbel, dann auf dem Weg zur Schenke sofort verloren. Vom restlichen Geld hat er anschließend zwanzig Biere geordert, von denen er auf dem Weg zurück in die Kurve wiederum die Hälfte verschüttete. Er verteilt also die halb leeren Becher und erzählt uns seine jüngsten Erlebnisse, und weil wir – trotz aller Tragik der Geschichte – nicht anders können, als uns halb totzulachen, und weil die Spieler sich immer noch feiern lassen, und weil noch einmal „Ob ich verroste und verkalke
angestimmt wird, kann Bobbel schon sehr bald seine grimmige Stimmung nicht mehr aufrechterhalten, trinkt drei halbe Becher in drei Schlücken aus, fällt uns in die Arme und stimmt in das Lied ein.
Ungefähr zwei Stunden vergehen in diesem Zustand glückseliger Singerei. Die Mannschaft ist längst verschwunden. Wir stehen da, auf die Metalllehnen gestützt wie an Bord eines Schiffes, und glotzen das grüne Meer an. Ruhig, ziemlich benebelt, versonnen und warm rekapitulieren wir das Spiel. Das Stadion ist fast leer. Gerd kommt von der Schenke zurück und überbringt die schlechte Nachricht, dass kein Bier mehr verkauft wird. Wir fassen den Entschluss zu gehen. Es wird auch Zeit. Besonders für Manni.
„Ich schlage vor, wir wecken ihn mal, sagt Bobbel. Manni steht immer noch da wie vor Stunden, wankt um seinen eigenen Körpermittelpunkt herum und bewegt die Lippen: „Schalke, Schalke.
Die Augen geschlossen.
„Wie machen wir’s?", frage ich.
„Kurz und schmerzlos am besten", meint Bobbel.
„Nee, lass mich das mal machen. Da darf man jetzt nicht zu rabiat sein. Wie bei Schlafwandlern musst du da vorgehen. Ich mach das schon. Gerd geht zum Manni rüber, fasst sanft seinen Arm und spricht ihn leise an. Ich verstehe nicht, was er sagt, aber tatsächlich öffnet Manni die Augen. Alles scheint ganz glatt zu verlaufen. Er guckt in die Runde, steht dann kurz gerade und still. Ein fragendes „Hm?
geht ihm über die Lippen. Gerd sagt: „Komm, Manni, es gibt kein Bier mehr. Wir gehen in die Kneipe. „Mja, klar
, entgegnet Manni, und ich sehe genau, dass er in seinem Kopf den Entschluss fasst, ein Bein vor das andere zu stellen. Leider gehorcht der Körper des Manni dem Kopf des Manni nicht, so dass er der Länge nach auf den harten Betonboden klatscht. Gerd hat ihn nicht halten können vor Überraschung. „Ajajaj, kommentiert Bobbel das Ereignis. Wir gehen zum Manni hin, drehen ihn um und reden auf ihn ein, fragen, ob er uns hören könne, etc. Er hat eine kleine Platzwunde an der Stirn, aus der ein dünner Blutfaden läuft. Wir sehen gleich, dass es nicht schlimm ist und nicht genäht werden muss. „Das gibt’n Horn
, sagt Bobbel und tätschelt ihm die Wange. Dann schlägt Manni wieder die Augen auf. Er ist prompt ganz klar und spricht fest, in seiner berühmten gestelzten Manier, die folgenden Worte: „Wenn ich heute Nacht sterbe, meine Freunde, dann lasst nur S04 in meinen Grabstein gravieren und erzählt den Leuten, dass ich starb als ein glücklicher Mann. Jetzt stellt mich auf meine zwei Beine und bringt mich zu der Kneipe, die da heißt: „Zur blanken Laterne. Wir wollen dem Alkohol zusprechen, und zwar aufs Allergemeinste.
Gesagt, getan.
Kurz bevor wir besagtes Etablissement erreichen, brechen die Wolken auseinander. Wir geraten für fünf Minuten in einen apokalyptischen Sturm und sind nass bis auf die Knochen, als wir uns am Tresen einfinden. Der Laden ist zum Bersten voll. Brütend heiß hier. Die Luftfeuchtigkeit liegt bei ungefähr siebenhundert Prozent. Uwe schenkt gerade aus und grüßt vergnügt zu uns rüber: „Mensch, Jungs, wie seht ihr denn aus? Das muss wohl mit dem Wetter zusammenhängen, was? Manni, im Block geirrt? Und er lacht. Lustiger Uwe. Bobbel tut gefährlich und raunt mit seinem brachialen Organ zurück: „Uwe. Schwatz kein Blech. Gib das Bier her.
„Na, na, mein Großer. An so einem schönen Tag wird dir das bisschen Feuchtigkeit doch nicht die Laune verderben!?"
„Ich sag’s nicht noch mal."
Uwe stellt vier große Biere vor uns ab, wischt sich die Flossen auf Uweart an seinem Lappen ab, stützt sich mit beiden Händen breit auf seine Arbeitsfläche und sieht uns verstohlen lächelnd, ein bisschen von unten an.
„Noch was Warmes dazu?"
Ohne die Antwort abzuwarten, drapiert er vier Pinnchen vor uns hin und geht höchst professionell ein Mal mit dem Klaren darüber hinweg. Bobbel erfindet Einwände: „Ich trink doch keinen Schnaps mehr." Spricht’s, hebt das Glas und trinkt aus.
„Mach nur nichts kaputt, du,