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Hooligans: Eine Welt zwischen Fußball, Gewalt und Politik
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eBook314 Seiten4 Stunden

Hooligans: Eine Welt zwischen Fußball, Gewalt und Politik

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Über dieses E-Book

Die Hooligans sind zurück. Seien es die "Hooligans gegen Salafisten", wieder erstarkte Gruppen in den Fankurven oder die russischen Schläger, die während der EM 2016 für massive Ausschreitungen sorgten.Robert Claus beleuchtet die zentralen Entwicklungen, Verbindungen in die Rockerszene und die Erfindung der Ackermatches. Dabei nimmt er auch den Kampfsport, geschäftliche Beziehungen, politische Einstellungen und internationale Netzwerke der Hooligans in den Blick.Zu Wort kommen: ehemalige und aktive Hooligans, Neonazi-Aussteiger, Kampfsportler, Kenner des osteuropäischen Hooliganismus sowie der Rockerszene, Berater von Opfern rechter Gewalt, Polizisten und Politiker, Fanarbeiter, Wissenschaftler, Fußballfans und weitere Experten.Robert Claus liefert eine differenzierte Analyse und spannende Reportagen der gewalttätigen und teils rechtsextremen Szene, über die viel zu wenig bekannt ist.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. Okt. 2017
ISBN9783730703625
Hooligans: Eine Welt zwischen Fußball, Gewalt und Politik

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    Buchvorschau

    Hooligans - Robert Claus

    Vorwort

    Von Gerd Dembowski

    Manager für Vielfalt und Antidiskriminierung der FIFA

    Der Ursprung des Fußballs europäischer Prägung ist die Gewalt. Er entsprang ihr nicht plötzlich, sondern schrittweise. Mittelalterlicher Massenfußball entstand als Reaktion auf zunehmende Selbstbeherrschung, auf sich entwickelnde Rollen und Charakterpanzer im sogenannten Zivilisationsprozess seit dem zehnten Jahrhundert. Der postmoderne Fußball wiederum, wie wir ihn heute kennen, ist domestizierte und institutionalisierte Gewalt, kontrollierte Emotion, ritualisierte Aggression – die „Überführung der Gewalt in eine Kunstform, wie es Horst Bredekamp für den Florentiner Fußball bis 1739 treffend formuliert. Christoph Bausenwein beschreibt die Genese des Fußballspiels, den darauf begründeten Fußballsport mit seinem Appendix, den Zuschauerkulturen seit den historischen Vorformen des Fußballs, dem mittelalterlichen „Folk Football der britischen Inseln sowie dem auf öffentlichen Plätzen volksfestartig zelebrierten Florentiner Calcio, als ritualisiertes „Mittel der Konfliktbewältigung sesshaft gewordener Gemeinschaften".

    Im Vergleich zum mittelalterlichen Massenfußball ist die Gewalt im heutigen Fußball und in seinen Fankulturen jedoch ein Pappenstiel. Denn er war regellos, ohne Teilnehmerbegrenzung. Mit der Nacht als Halbzeit, versuchten die männlichen Bewohner des einen Stadtteils den unkaputtbaren Ball zum mitunter kilometerweit entfernten Tor des anderen Stadtteils zu bugsieren. Verbote und die parallele Entwicklung von verregelten Spielen zunächst in den besseren Gesellschaften bis hin zum heutigen Fußballsport haben die Teilnehmerzahl schrittweise verringert, die Möglichkeiten zum Ausdruck von Gewalt dezimiert. Der Zivilisationsprozess übertrug sich auf die Ballspiele, die eigentlich zu seiner Verarbeitung aufgekommen waren. Rannten, traten und schlugen die Massen früher selbst mit, wurden sie im Zuge der Entwicklung des Fußballs an den Spielfeldrand verdrängt. Doppelt entkoppelt, bildeten Menschen Zuschauerkulturen, die die versportete Gewalt auf dem Spielfeld und das Prinzip von „Wir gegen „die Anderen auf den Rängen symbolisch nachvollziehen, bis hin zu den nur noch seltenen Massengewaltphänomenen einerseits und den konstant kleinen gewaltförmigen Hooligangruppen und Teilen der Ultragruppen andererseits. Aus dem Spiel gedrängt, fand die Gewalt ihren Weg auf die Zuschauerränge oder die Zuschauertreffpunkte oder auf die Anreise zu den Spielen.

    Im Laufe der Spezialisierung von Sicherheitsmaßnahmen wurde und wird Gewalt auch dort verstärkt eingedämmt. Zumindest so lange, bis Zuschauerkulturen kreativ darauf reagieren und immer wieder neu spezialisierte Nischen für gewaltförmiges Handeln entstehen. In diesen Nischen formiert sich Gewalt z. B. mittels durchdachterer Organisationsformen von kleinen oder Teilen von Zuschauergruppen, gewaltförmiger Rufe und Banneraufschriften, Social-Media-Einträgen und Videoclips, des Vertriebs von hooliganaffiner Kleidung, Fitnesstraining und zum Teil Mixed Martial Arts als Grundlage von kommerziell organisierten Hooligankämpfen.

    Auch die schrittweise zugenommene Brutalisierung des Calcio Storico kann als eine spezialisierte Nische, ja sogar als offizialisierte Form der Gewaltausübung bezeichnet werden. Vier männliche Stadtteilteams mit je 27 Spielern zelebrieren diese Körperverletzung mit Ball alljährlich im Juni auf den Stadtplätzen von Florenz. Und das ungleich brutaler, als es ihre Wurzeln im 15. Jahrhundert zulassen. In einer regellosen Mischung aus Gladiatorenkampf, Massenfußball und auch Hooliganismus finden diverse historische Gewaltrepräsentationen im Calcio Storico perpetuiert wieder zueinander. Würde man die Interviews seiner Protagonisten in der 2010 erschienenen Dokumentation „Florence Fight Club aus dem Zusammenhang reißen, könnten sie auch ins Hooliganmilieu passen. Genauso wie die Spieler des Calcio Storico konstituieren gewalttätige Fans, Ultras und insbesondere Hooligans das, was sie gern auch mal als „alte Werte bezeichnen.

    Diese kennzeichnen sich durch hegemonial männliche Ausformungen von trennscharfen Identitäten, ihrer Performanz, ihrer unmissverständlichen Manifestation, ihrer konstant wiederkehrenden Repräsentanz. Bestandteile davon sind die Selbstbestimmung in einem imaginierten Freiraum und stets flexible Aushandlungsprozesse zwischen Individuen und Kollektiven. Auffallend ist das Bedürfnis nach Gruppenidentitäten mit einem deutlichen „Wir hier und „die Anderen dort, nach sozialmächtigen wie personenfixierten Hackordnungen, nach Pejorisierung und Diskriminierung als Abgrenzungstechniken. Es geht um ein Patchwork aus Autoritarismus, „Destruktivität und Zynismus und „Projektivität (Theodor W. Adorno), territorialem – häufig weißem – Überlegenheitsdenken und Sozialdarwinismus, soldatischem Kämpferideal, Sozialchauvinismus, Antiintellektualismus, Überdrehung kapitalistisch geprägter Ellenbogenmentalität und einer entsprechenden, auf Selbstbeweisung angelegten Körperfokussierung. Die sich so konstituierenden „alten Werte" beinhalten und zelebrieren symbolisch wie physisch immer die Akzeptanz von Gewalt. Doch genug mit diesem Begriffsgeschwader.

    Robert Claus macht das anders. Er arbeitet eher erzählerisch, passagenweise tief aus dem Feld heraus. So zeigt sein Buch detailliert, wie solch hegemonial männlich überdüngtes Lebensgetue immer wieder und in neuen Formen die Straße hinuntergerollt kommt, den Weg freimachend für regressive Lebensweisen und Politiken mit archaischen, vormodernen, antidemokratischen Zügen mitsamt ihren Widersprüchen, Lernfähigkeiten und Winkelnischen. Um dies herauszuarbeiten, geht Claus nah ran und rein. Aus den so gesammelten Einblicken und Aussagen entstehen Abbildungen. Erst darauf basierend können Claus und auch die Lesenden dieses Buchs kühl analysieren und distanziert verstehen. Wenn mehr gewollt ist, als die Welt verschieden zu interpretieren, dann ist ein ständiges Neuverstehen doch so sehr die Grundlage für eine stets emanzipatorische Positionierung und Veränderung. Dieses Buch ist ein Angebot zu einem solchen Verständnis, nicht aber zur Akzeptanz von Gewalt.

    Zürich, 10. Juli 2017

    Gerd Dembowski

    Vorwort

    Von Julia Düvelsdorf

    Leiterin der Fan- und Mitgliederbetreuung des SV Werder Bremen Bundessprecherin der Fanbeauftragten

    Eine Begebenheit im Stadion werde ich niemals vergessen. Mir wurde einmal gesagt: „Julia, es ist mir doch egal, wer beim Fußball neben mir steht. Ob es ein Nazi ist oder nicht. Es geht doch um Werder. Die sollen mich doch wenigstens beim Fußball mit ihrer Politik in Ruhe lassen. Dieses entsetzte Gefühl nach diesen Sätzen begleitet meine Arbeit. Mein lautes „Nein, es ist eben nicht egal, wenn ein Nazi neben mir steht, hat sich fest eingeprägt.

    Nein, ich will keine menschenverachtende Denkweise, keine Diskriminierung in meiner Umgebung. Nein, auch nicht im Fußball. Diese Grundhaltung einfach als „linke Politik, „anstrengend, „zu kompliziert oder mit „Wir sind doch beim Fußball abzutun, öffnet das Tor für menschenfeindliche Gedanken in den Stadien. Als wäre der Fußball, als wäre ein Stadion ein rechtsfreier Raum. Ein Raum, in dem man Pause von der Gesellschaft draußen machen kann. In dem andere Regeln herrschen. In dem man endlich so sein kann, wie man will. Nein. Fußball ist Gesellschaft und Gesellschaft ist Fußball. Jeder Mensch, auch der Mensch, der sich im Kontext Fußball bewegt, ist ein Teil der Gesellschaft. Es gibt keinen Weg aus der Verantwortung, die jeder von uns für gutes Miteinander trägt. Das ist die Aufgabe, die man hat, wenn man in einer Demokratie lebt. Eine Aufgabe, aber auch eine ganz eigene Möglichkeit der Mitbestimmung. Jeder hat seinen Anteil an einem toleranten und offenen Zusammenleben in einer demokratischen und freien Gesellschaft. Es ist wichtig, diese Botschaft und Werte in den Fußball zu tragen. Sie als Selbstverständlichkeit in den Vereinen und in den Kurven zu verankern.

    Da fragt man sich: Ist das noch nicht passiert? Würde nicht jeder Bundesligaverein unterschreiben, dass er sich für Demokratie und gegen jegliche Form von Diskriminierung engagiert? Als kleinste Form der demokratischen Struktur steht jeder e.V. – und damit die Ursprünge der Bundesligavereine – für diese Werte. Wie kommt es dann, dass sich viele antidemokratische Strömungen und Alltagsdiskriminierungen in den Stadien verbreitet haben? Wie konnte es passieren, dass dies unter den Augen der Vereine geschehen ist? Wurde nicht hingeschaut oder nicht weit genug gesehen? Vielleicht das Problem unterschätzt? Wurde Beteiligten nicht zugehört? Wurden die Vereine vielleicht aber auch damit alleine gelassen? Und sind aber diese Werte – auch wenn deren Benennung in manchen Kreisen als anstrengend empfunden wird – nicht auch ein Grundbedürfnis vieler Fans, die Woche für Woche in die Stadien strömen? Das Gefühl von Zugehörigkeit, Akzeptanz, Gemeinschaft und der gegenseitigen Rücksichtnahme, das Anerkennen eigener Stärken und das Streben nach eigenen Zielen, wie dem sozialen Engagement vieler Fans? Es ist offensichtlich, dass es in weiten Teilen der deutschen Fankultur eben auch ein politisches Bewusstsein gibt, was sich vor allem im lokalen gesellschaftlichen Engagement widerspiegelt.

    Fragen über Fragen. Sich diesen als Verein zu stellen, erfordert eine kritische Selbstreflexion. Vor allem ein Bewusstsein dafür, dass man Verantwortung für die Wertebildung in seinem Stadion und rund um seinen Verein trägt. Diese Verantwortung sollte man selbstbewusst annehmen und nicht als Last, sondern als Chance verstehen. Die Chance, ein fester Baustein einer offenen, toleranten und lebendigen Fankultur zu sein. Und sie mit jedem Menschen, der mit an Bord ist, ein Stück zu festigen. Um hier nachhaltige Erfolge zu erzielen, sind vereinsinterne Strukturen, die sich mit sozialen Projekten beschäftigen und soziales Engagement dauerhaft konzipieren, ideal. Keine plakativen Aktionen, sondern nachhaltige Arbeit mit und für sozial Benachteiligte, die Vermittlung eines positiven Menschenbildes und integrative Angebote. Dies sind die besten Wegbereiter für Toleranz, Verständnis, Offenheit und Menschlichkeit. So bildet sich eine belastbare Basis für die Wertebildung und künftige Zusammenarbeit mit den Menschen rund um den Verein. Künftig? Aber was ist mit der aktuellen Kurve? Es ist unabdingbar, die Fanstrukturen zu kennen. Sich mit den Fans in ihrer unterschiedlichen Ausprägung zu beschäftigen, ihnen zuzuhören. Die Strukturen in einer Kurve sind kompliziert und verworren. Die Fanszenen haben sich über Jahre entwickelt. Regionale Eigenheiten spielen dabei ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle. Wenn man sich als Verein im Profifußball-Business befindet, kann man überhaupt einen kompletten Überblick über die Entwicklungen der Kurve haben? Seit einigen Jahren beschäftigen die Vereine Fanbeauftragte, um genau diesen Einblick zu bekommen.

    Fanbeauftragte sind Seismographen für Strömungen innerhalb der Fanszenen, haben im besten Fall ein Gespür für Entwicklungen innerhalb „ihrer" Kurven und können einschätzen, welchen Stellenwert Menschlichkeit, Offenheit und Toleranz bei den Fans einnehmen. Und welchen Stellenwert haben Werte in den Vereinen, die sich in einem immer härteren weltweiten wirtschaftlichen Wettbewerb befinden? Ist die Zeit da, um sich tiefgreifend mit diesem Thema zu beschäftigen, oder bleibt es bei Lippenbekenntnissen? Es reicht hier nicht, an der Oberfläche zu kratzen. Nein. Diese Werte müssen gelebt werden, sonst verpuffen sie. Vor allem ist es wichtig, sie gemeinsam zu leben: Fans, Verein, Stadion und Stadt. Die Arbeit für diese Werte und vor allem den Erhalt dieser ist effektiver, wenn sie auf mehrere Schultern verteilt ist. Dies sollte allen Beteiligten bewusst sein. Hier die Verantwortung von sich zu schieben, ist grob fahrlässig und birgt die Gefahr, dass sich populistische Denkweisen durchsetzen können. Eine starke und aufeinander abgestimmte Allianz gegen Menschen- und Demokratiefeindlichkeit zu bilden, gibt den Beteiligten die Chance, mutig zu sein, sich sicher zu fühlen und nicht alleine im Gegenwind zu stehen. Denn den wird es geben. Das ist sicher. Gemeinsam kann man sich Windschutz geben. Neben den regional verankerten Bündnissen sollte es auch standortübergreifende Zusammenarbeit geben. Wenn sich Bundesligavereine und ihre Fans für antidiskriminierende Aktionen zusammenschließen, hat dies eine enorme Strahlkraft. Mit ihrem Verein im Rücken, haben die Fans eine bessere Möglichkeit, klar Position gegen Menschenfeindlichkeit zu beziehen. Und sie wissen, dass sie damit nicht alleine sind. Sie können sich gegenseitig in der Kurve unterstützen und der jüngeren Fangeneration diese Werte mit auf den Weg geben.

    Es braucht eigentlich nicht viel, um dieses oben genannte „Nein zu sagen. Eben nur eine klare Position. Als Verein, als Kurve und am besten auch als gesamter Standort. Manchmal scheint dieser kleine Schritt enorm schwierig zu sein. Es braucht immer Menschen, die andere an die Hand nehmen und diesen Schritt gehen. Menschen, die sich in den Wind stellen, helfen, die aufklären, Veränderungsprozesse begleiten. Menschen, die über den Tellerrand schauen und sensibel für gesellschaftliche Entwicklungen sind. Sie begleiten den Fußball wissenschaftlich und stehen den Beteiligten zur Seite, auch wenn Hürden unüberwindbar erscheinen. Sie können die Akteure rund um den Fußball auf dem Laufenden halten und versetzen sie in die Lage, im besten Fall präventiv auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren zu können. Menschen, die die Courage haben, auch unangenehme Themen auf die Agenda zu setzen. Themen, die nicht in eine „heile, glitzernde Fußballwelt passen, aber dazugehören. Es braucht Menschen mit Mut, sich mit ihnen zu beschäftigen und diese öffentlich zu machen. Menschen, die genau dieses „Nein" hartnäckig und offen sagen.

    Bremen, 10. Juli 2017

    Julia Düvelsdorf

    Einleitung

    Hooligans – eine ausdifferenzierte Szene

    Marseille, Juni 2016: Das Vorrundenspiel der Europameisterschaft zwischen England und Russland steht an. Doch schon am Vortag sind die Bilder nicht vom Fußball, sondern von brutalen Szenen am Hafen der am Mittelmeer gelegenen Stadt geprägt. Hunderte russische Hooligans attackieren englische Schlachtenbummler. Schrecken nicht davor zurück, am Boden liegende Gegner auf den Kopf zu treten. Bilder blutüberströmter Engländer geistern durch die Medien. Doch nicht nur das. Wenige Tage später taucht in den sozialen Medien ein weiteres Video auf. Es ist mit einer „GoPro" aufgenommen, einer hochauflösenden Kamera, die ein russischer Hooligan während der Ausschreitungen auf dem Kopf trug und somit seine Sicht der Dinge mit der Welt teilt. Das Video zeigt, wie gut geordnet und in Kleingruppen organisiert die Russen vorgegangen sind. Das war keine alkoholisierte Fußballrandale vergangener Jahrzehnte, sondern das taktisch ausgeklügelte Manöver bestens trainierter Hooligangruppen. Es war eine Machtdemonstration gegen die einstmals gefürchteten englischen Hools und sollte die Wachablösung aufzeigen.

    Zugleich war es das Aufeinandertreffen zweier Generationen an Hooligans, die sich voneinander unterscheiden. Zwar sind beide männlich und gewaltaffin, doch die Praxis ihrer Gewalt unterscheidet sich enorm. Gut zu unterscheiden an einem weiteren Post, der in den sozialen Medien die Runde durch die Foren der Hooliganwelt machte. Der Post ist zweigeteilt. Links darauf zu sehen: ein durchtrainierter junger Mann in Kampfsportmontur. Rechts: ein Mann mittleren Alters mit Sonnenbrille in Jeans. Die englische Fahne auf den Bauch gepinselt. Die Bildunterschrift links: Name: Andrei „Death" Nikolayev, Age: 24, MMA-Record: 78-0-0, Favorite Food: Raw Bear Meet, Favorite Drink: Water, Speciality: Spinning Elbow. Die Bildunterschrift rechts: Name: Dave „Big Lad" Johnson, Age: 49, MMARecord: Yes Sky Plussed it, Favorite Food: Pie and Chips, Favorite Drink: Stella, Speciality: Jägerbombs.

    Natürlich kommt dieser Post von russischen Hooligans, die ihren Sieg in Marseille feiern wollen. Natürlich arbeitet er mit Ironie. Und natürlich gibt es auch in Russland Hooligans, die Bier trinken, in England welche, die Kampfsport trainieren. So homogen ist keine Szene. Und doch kommen in dem Post zwei höchst unterschiedliche Ideen von Hooliganismus zum Tragen: Viele der heutigen Hooligans trainieren Kampfsport unter (semi-)professionellen Umständen, nicht wenige nehmen aktiv an Kampfsportveranstaltungen teil. Sie ernähren sich gesund, manchmal vegetarisch und konsumieren weniger Bier oder Nikotin, sondern eher aufputschende Mittel. Auch verdingen sie sich teilweise in gesellschaftlich renommierten Berufen. Noch während der Europameisterschaft wurden in Köln russische Hooligans auf der Durchreise festgenommen, die spanische Touristen angegriffen hatten. Es waren zwei Köche, ein Manager, ein Wirtschaftsprüfer und ein Mathelehrer. Hooliganismus hat sich weiterentwickelt: weg von den alkoholisierten Randalen, hin zu durchtrainierten und organisierten Manövern. Die Ereignisse in Marseille gaben der breiten Öffentlichkeit einen kleinen Einblick.

    Vier zentrale Entwicklungen

    Doch haben uns nicht nur die russischen Hooligans bei der Europameisterschaft vor Augen geführt, dass es sich um eine lebendige Szene handelt. Bereits im Oktober 2014 sorgten die „Hooligans gegen Salafisten" für Aufruhr, als sie mit knapp 5.000 Menschen durch die Kölner Innenstadt zogen. Sie gehören seither zu den Bildern rechter Demonstrationen gegen die staatliche Migrationspolitik. Hooligans stellten einen Teil des Ordnungsdienstes bei den Pegida-Aufmärschen in Dresden und randalierten mit 300 Menschen durch die Leipziger Innenstadt am Rande des ersten Geburtstags von Legida – dem Leipziger Ableger.

    Dabei gestaltet sich die dynamische Szene für Außenstehende oft unübersichtlich. Viele Fragen werden aufgeworfen, wenn Hooligans – wie in den aufgeführten Beispielen – für Aufruhr sorgen: Woher kommen diese Hooligans nach den vielen Jahren? Ist Hooliganismus nicht eine Fankultur der 1980er Jahre? Sind alle Hooligans rechts? Gibt es das nur im Osten? Wo überschneiden sich Hooligan-, Rocker- und Kampfsportszene?

    Hooligans existieren in Deutschland seit über 40 Jahren und haben über die Zeit viele Entwicklungen mitgemacht. Auch leben sie nicht fernab dieser Gesellschaft, sondern verändern sich – sowohl durch eigene Lerneffekte wie auch äußere Einflüsse. So lassen sich letztlich vier zentrale Entwicklungen beschreiben, die in der Hooliganszene stattgefunden und ihren Werdegang entscheidend geprägt haben.

    I. Hooligans altern

    Durch „Hooligans gegen Salafisten (HoGeSa) wurde offensichtlich, was lange Zeit vergessen war: Große Teile der Hooligannetzwerke und -szenen, die in den 1980er und 1990er Jahren entstanden, existieren noch immer. Zwar haben sich die Lebenswege ein Stück weit verstreut: Manche sind Väter geworden oder haben ihre Erfahrungen in Büchern verarbeitet, andere sind den Weg in die Security- oder Rockerszene gegangen, die seit Ende der 1990er Jahre verstärkt Hooligans umwirbt. Doch auch wenn ihre Zeit als aktive „Kämpfer meist hinter ihnen liegt und sie ins Alter gekommen sind, halten die sozialen Kontakte. Ihr Fußballbezug existiert ungebrochen.

    II. Hooligans erfinden den „Acker"

    Infolge der gestiegenen Repression um das Jahr 2000 verlagern Hooligans ihre Kämpfe immer stärker auf Plätze fernab der Innenstädte und Stadien, auf Äcker und Feldwege – an sogenannte Drittorte. Dabei entstehen detailliert organisierte Gruppenkämpfe. Es schützt die Szene vor Strafverfolgung und öffnet sie zugleich für Türsteher und Kampfsportler jenseits der Fanszenen. Nicht selten jedoch gerät „der Acker" zum zentralen Trainings- und Vernetzungsort für rassistische Schläger.

    III. Hooligans und rechte Ultras

    Stand ein Großteil der Ultrakultur der Gewalt lange Zeit eher fern, waren rechte Ultras schon immer Brüder im Geiste der Hooligans und haben sich über die vergangenen Jahre angenähert. Sie verbinden zwei zentrale Eigenschaften der beiden Szenen: die Gewalt der Hooligans und den hohen Grad der Selbstorganisation der Ultras. Somit bewegen sie sich sicher in beiden Welten – ihre Gewalt zielt dabei auch auf die eigene Fanszene ab, mit dem Ziel der Machtausübung.

    IV. Hooligans professionalisieren ihre Gewalt

    Waren die Ausschreitungen von Hooligans in früheren Jahrzehnten oftmals von alkoholgeschwängerten und wüsten Randalen geprägt, haben viele aus der jüngeren Generation den Weg in den organisierten Kampfsport gefunden. Dies wurde auch durch die generelle Professionalisierung des Kampfsports jenseits des klassischen Boxens befördert. Mittlerweile betreiben Hooligans eigene Gyms und veranstalten eigene Events. Sie dienen als Infrastruktur sowie als Treffpunkt der Szene: für aktive Kämpfer, für das gewaltaffine Umfeld sowie für Schaulustige, für rechtsoffene Hooligans und gewalttätige Neonazis. Nicht nur ihre Events, sondern auch ihre Produkte, ihre Werbung und ihre Präsenz in den sozialen Medien sind professionell organisiert.

    Nicht selten sind aus diesen einzelnen Entwicklungen auch spezifische Gruppen und Organisationen entstanden: Gehört beispielsweise die Bremer Band Kategorie C zu den alten Hooligans, ist die Dortmunder „Northside eine Gruppe, die ihre Kämpfe „auf dem Acker austrägt. Stehen die „Boyz Köln wiederum für eine Vereinigung von rechten Hooligans und Ultras, verdeutlicht das „Imperium Fight Team aus Leipzig, wie sich Hooligans im Kampfsport professionalisieren. Darüber hinaus sind diese Gruppen und Szenen mannigfaltig miteinander verbunden: Einerseits bilden sie ein gewaltaffines Milieu, das durch Fußball, Kampfsport, Konzerte einschlägiger Bands und Social Media miteinander vernetzt ist. Andererseits griffe es zu kurz, die Widersprüche zwischen ihnen nicht auch wahrzunehmen. Denn mancherorts tragen sie einen gewalttätigen Kampf darüber aus, wer die dominante Gruppe in der Szene bzw. Stadt ist und das jeweilige Gewaltmonopol innehat. Es folgt einer Logik des territorialen Besitzes und des zugespitzten Männlichkeitsfetischs. Es geht stets um das Faustrecht des Stärkeren.

    Dieses Buch ist entsprechend den vier dargestellten Entwicklungen aufgebaut: Nach einem Abriss der Geschichte des Hooliganismus in Deutschland werden sie anhand der lokalen Geschichten einzelner Orte geschildert. Stets sind dabei Hinweise auf die anderen Entwicklungen zu finden. Ebenso verlaufen die Themen Gewalt, Politik und Netzwerke sowie Verständnisse von Ehre und Macht quer durch die Kapitel. Sie werden außerdem gerahmt durch Interviews mit Experten zu Hooligans in der DDR sowie in Osteuropa, zu Mixed Martial Arts (MMA) sowie der Forschung zu Gewalt. Das Ziel ist eine sachliche und differenzierte Schilderung einer Szene, die sich vielfach ausdifferenziert hat – auch wenn die Gewalt schockierend ist, die Szenen undurchsichtig sind und die Motivation vielen fremd bleibt.

    Eine gewachsene Jugendkultur

    Doch wäre es zu einfach, diese Kultur pauschal zu verurteilen. Denn sie ist ein lebendiger Teil dieser Gesellschaft, der sich stets fortentwickelt hat: Zum einen laufen verabredete Kämpfe zwischen organisierten Gruppen entgegen der landläufigen Meinung sehr strukturiert ab. Man trifft sich an einem etwas abgelegenen Ort, spricht vorher über die Größe der Gruppen und Regeln. Nicht selten kommt man nach einem Kampf zu einem gemeinsamen Gruppenfoto zusammen, um sich die Ehre zu erweisen. Es gibt immer Ausnahmen, doch in den meisten Duellen ist keine Spur von Hass zu sehen. Vielmehr geht es für die Beteiligten um einen Sport, der sich seine eigenen Regeln setzt, stetig neu verhandelt und sich selbst reguliert – fernab großer Institutionen.

    Weshalb er bis heute illegal ist. Jede andere Sportart bzw. Jugendkultur etabliert nach einer gewissen Entstehungszeit ihre Organisationen: Ehemalige Punks betreiben Musiklabels, Plattenläden und Konzerte, Skater produzieren Kleidung, Boards und Parcours. Derartige Entwicklungen sind im Hooliganismus eher im Kampfsport zu sehen. Doch auch wenn sich die Szene seit 40 Jahren prügelt, existiert bis heute kein Sportverband der Hooligans, der Strukturen stellt und Lobbyarbeit leistet. Versuche ihrer Legalisierung sind marginal. Und dennoch gehört die Hooliganszene zu den ältesten Jugendkulturen der Bundesrepublik.

    Eine Szene, die ihre Erfahrungen und Einstellungen auch künstlerisch verarbeitet. Graffitis mit dem eigenen Gruppennamen oder zum Gedenken der Toten werden gesprüht sowie Musik produziert. Zudem haben es zwei Hooliganfilme in der Szene zu einem besonderen Standing gebracht. Zum einen ist dies „Green Street Hooligans (2005), der in Deutschland nur den Titel „Hooligans trägt. Er handelt von der „Green Street Elite, einer „Firm, wie englische Hools ihre Gruppen nennen, des West Ham United FC. Hauptfigur Matt Buckner kommt frisch vom College und erlebt eine Welt aus roher Gewalt und brüderlicher Gemeinschaft. Am Ende stirbt sein Idol und Gruppenanführer. Und doch – bzw. gerade deshalb – romantisiert der Film die Gewalt in diesen Szenen,

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