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Fußball, deine Fans: Ein Jahrhundert deutsche Fankultur
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Fußball, deine Fans: Ein Jahrhundert deutsche Fankultur
eBook365 Seiten4 Stunden

Fußball, deine Fans: Ein Jahrhundert deutsche Fankultur

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Über dieses E-Book

Fußballfans gibt es in Deutschland seit ungefähr einem Jahrhundert. Von ihrer Rolle als kleine Minderheit haben sie sich in den gesellschaftlichen Mainstream vorgearbeitet: Heutzutage fühlt sich fast jeder in Deutschland als Fan einer Mannschaft. Dieser Sammelband ist als 'Zeitreise' konzipiert, beginnend mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Alle relevanten Entwicklungen sowie phänomenbezogenen Aspekte werden thematisiert: Kuttenfans, Hooligans, Ultras, Papa mit Sohn, Fanclubs, Frauen etc. Das Buch nähert sich diesen Themen nicht streng wissenschaftlich, sondern gibt 'normalen' Fußballanhängern die Möglichkeit, das letzte Jahrhundert Fangeschichte Revue passieren zu lassen. Ihre eigene Kultur wird porträtiert – in all ihren wunderbaren und auch ihren weniger schönen Facetten.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. März 2013
ISBN9783730700273
Fußball, deine Fans: Ein Jahrhundert deutsche Fankultur

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    Buchvorschau

    Fußball, deine Fans - Martin Thein

    Martin Thein (Hrsg.)

    Fußball, deine Fans

    Ein Jahrhundert deutsche Fankultur

    VERLAG DIE WERKSTATT

    „Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden."

    Nick Hornby

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

    Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

    Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Copyright © 2013 Verlag Die Werkstatt GmbH

    Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen

    www.werkstatt-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten.

    Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt

    Umschlagfotos: imago (oben), Getty Images (unten)

    ISBN 978-3-7307-0027-3

    Inhalt

    Peter Lohmeyer

    Vorwort

    Teil 1

    100 Jahre Fankultur in Deutschland

    …………………………………………………..

    Thomas Wark

    Beobachtungen von der anderen Tribünenseite

    Christian Winkle

    Sie lieben nur ein Stück Tuch

    Prof. Jo Groebel

    Fans. Eine kleine Motivpsychologie

    Teil 2

    Fankultur in der Vor- und Nachkriegszeit

    …………………………………………………..

    Rudolf Oswald

    „Von Tschammer und Osten – dein Pokal soll verrosten"

    Teil 3

    Die Fanlandschaft seit den 1960er Jahren

    …………………………………………………..

    Martin Thein interviewt den Kultfan Heino Hassler

    40 Jahre für den Club

    Anne Hahn und Frank Willmann

    Anhang Ost

    Nicole Selmer

    „Das Grüne ist der Rasen"

    Holger W. Sitter

    Fans, Fanklubs & Fanfreundschaften

    Stefan Viehauser

    In München, in ganz Deutschland und Europa

    Susanne Hein-Reipen

    In guten wie in schlechten Zeiten

    Robert Pohl

    Getrennt in den Farben – vereint in der Sache!

    Teil 4

    Deutsche Fans aus der Sicht ausländischer Beobachter

    …………………………………………………..

    Jörg Jakob

    Deutschland – England

    Martin Thein

    „Die Bundesliga hat meine Kindheit geprägt"

    Roman Beliutin

    Das Bild deutscher Fans aus Sicht eines Russen

    Kai Tippmann

    Italienische Verhältnisse

    Teil 5

    Im Rausch der Gefühle

    …………………………………………………..

    Michael Horeni

    Die deutsche Nationalmannschaft und ihre Fans

    Elmar Vieregge

    Fußballkneipen und Public Viewing

    Hardy Grüne

    Vom Zauber des Fandaseins im Amateurfußball

    Olaf Sundermeyer

    Im hässlichen Scheitelpunkt der Kurve

    Teil 6

    Subkulturen

    …………………………………………………..

    Mirko Otto und Volker Herold

    Groundhopping

    Burkhard Mathiak

    Unter Hooligans

    Fabian Beyer

    Evolution Ultrà

    Teil 7

    Quo vadis, Fankultur?

    …………………………………………………..

    Christoph Burr

    Fans gegen Verbände: Das neue Risikospiel?

    Daniel Killy

    Die Fankultur der Zukunft?

    Martin Thein

    Gedanken über eine Fankultur von morgen

    Autorenangaben

    Peter Lohmeyer

    Vorwort

    Ein Leben lang

    Ein nicht wirklich schönes Stadion, aber rappelvoll. DFB-Pokal, damals noch möglich, das Hinspiel. Auf einem Stehplatz dicht an dicht, neben mir zwei Untertagerentner, um die ich mir spätestens beim 4:4 ernste Sorgen mache. Die halbvolle Lord-Extra-Packung längst zerdrückt, weigert sich der eine, überhaupt noch aufs Spielfeld zu blicken, während der andere sprachlos meine Schulter malträtiert. Ich denke nur, hoffentlich halten die das bis zum Abpfiff durch – keine Lust jetzt, die Sanitäter zu holen. Meine Fresse, das Spiel endet 6:6. Der Sprachlose fällt mir um den Hals und meint bloß: „So jung komm wa nich mehr zusammen." Recht hat er, denke ich bei mir, und wirklich erleben kannst du so was nur, wenn du auf einer Seite stehst.

    Deshalb musst du dich irgendwann entscheiden. Am besten natürlich so früh wie möglich, bevor dich dein Vater oder Onkel durch einen Stadionbesuch manipuliert.

    Bei mir war es mit sechs Jahren ganz klar die Farbe des Trikots und ein genialer Rechtsaußen, dessen Flankenläufe ich bei der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko 1970 um vier Uhr früh ungläubig – von meinem Versteck hinter dem braunen Cord-Sofa meiner Eltern aus – bestaunen durfte. LI BU DA, viel zu laut kamen mir die drei magischen Silben über die Lippen, so dass mich mein Vater an meinem linken Ohr schnurstracks ins Kinderzimmer bugsierte. Ich hatte mich entschieden, und wenn man sich mal entschieden hat, dann bleibt man dabei, ein Leben lang.

    Mein lieber Kollege Joachim Król hat einmal auf die Frage, was er an mir schätze, geantwortet: „Seine Leidensfähigkeit." Ja, das stimmt, die habe ich, also so wie jeder Fan. Also, wie der wahre Fan, der nicht nur leidet, sondern auch liebt. Denn ohne Liebe kein Leid. Und lieben kann man überall, in der Kurve, auf der Haupttribüne, vor dem Fernseher oder am Radio, auch auf der Arbeit, im Urlaub oder am Küchentisch.

    Ohne Liebe geht nämlich gar nichts.

    Das heißt, wenn wir uns zurückziehen und nicht mehr jubeln, zittern, hoffen, weinen, mitfiebern und schimpfen würden, dann können die Jungs, die da jede Woche für ’ne Menge Kohle ihre Knochen hinhalten, ihre Sachen packen. Wär’ doch Schade, für alle.

    Deshalb wollen wir, dass man uns ernst nimmt, dass man uns zuhört, dass man auf uns zählt. Wir wollen einfach nur Respekt. Respekt vor unserer Liebe.

    Denn die ist da, ein Leben lang!

    Teil 1

    …………….

    100 Jahre Fankultur in Deutschland

    Zuschauer beim Spiel zwischen Berlin und Hamburg im Jahr 1920.

    Thomas Wark

    Beobachtungen von der anderen Tribünenseite

    Ich gebe zu, niemals ein Fanatiker gewesen zu sein. War niemals besessen von einer religiösen Idee, von einer politischen Partei, von einem Verein oder einer Mannschaft. Mir waren Menschen immer suspekt, die sich einer Besessenheit hingeben und Idealen und Ideen nacheifern. Ich konnte noch nie etwas empfinden für das Eintauchen in die große, anonyme Masse, die sich doch oft nur von Dogmen leiten lässt. Fanatismus ist ein Hort der Intoleranz, Fanatismus erniedrigt den Andersdenkenden, Fanatismus ist eine eindimensionale Lebensführung. Besteht eines der Phänomene unserer Zeit nicht wieder in der Erkenntnis, wie leicht sich Fanatiker und Eiferer instrumentalisieren und für bestimmte Ideen einspannen lassen? In Dortmund prallen Hunderte von Fans des BVB und von Schalke aufeinander und lassen ihrem Hass aufeinander freien Lauf, die Polizei konstatiert die härtesten Auseinandersetzungen seit Jahren. Der Ursprung eines solchen Vorfalls: Hass und Gewalt als Folge eines emotional hochgeschaukelten Fanatismus, der in der Erniedrigung und Vernichtung des Andersdenkenden seine Erfüllung findet.

    Der deutsche Schriftsteller Hans Kasper hat das Problem des Fanatismus einmal so beschrieben: „Mit Fanatikern zu diskutieren heißt, mit einer gegnerischen Mannschaft Tauziehen spielen, die ihr Seilende um einen Baum gebunden hat."

    Gänsehautatmosphäre in Dortmund – Operettenpublikum bei Arsenal

    Ich gebe zu, niemals ein Fanatiker gewesen zu sein. Ich muss aber auch zugeben, mich dem Fanatismus in der Fußballszene niemals ganz entzogen zu haben. Damals auf dem alten Mönchengladbacher Bökelberg nicht, wo ich als Jugendlicher die Spiele der Borussia am liebsten mitten in der Nordkurve erlebt habe. Und auch heute nicht, wenn ich Samstag für Samstag auf der anderen Seite sitze, in welchem Stadion auch immer. Aus der sicheren Distanz zwischen Reporterplatz und Stehtribüne lässt sich eine klammheimliche Bewunderung für die Fankultur nicht leugnen, im Gegenteil. Ich kann mich begeistern für die fantasievollen und martialischen Choreografien und versuche jedes Mal, so viel wie möglich davon in meinen Berichten zu zeigen. Ich bin angetan vom „Dauer-Support" in Frankfurt, der in der Saison 2012/13 beim Spiel gegen Borussia Dortmund seine Krönung erfahren hat. Da lag die Eintracht zur Pause hoffnungslos unterlegen mit 0:2 zurück und wurde, als sie nach der Halbzeit zurück auf den Platz kam, doch mit außergewöhnlich guter Stimmung empfangen.

    Die Folge war eines dieser extrem intensiven „Gänsehautspiele", das nach dramatischem Verlauf 3:3 endete und selbst neutrale Kollegen zu einer Wortwahl der Schwärmerei verführte.

    Das sind Tage, an denen du nach Hause fährst und dich freust, deinem Beruf nicht in englischen Stadien nachzugehen. In diesem Mutterland des Fußballs, wo die Stimmung nur noch in den Pubs an die legendäre Fankultur erinnert, weil die Eintrittspreise parallel zur totalen Kommerzialisierung der Premier League zu teuer geworden sind. Die Folgen sind unüberhörbar. Als Dortmund 2011 und zuletzt auch Schalke in der Champions League bei Arsenal London spielten, hatte ich Gelegenheit, mit einigen mitgereisten Fans zu sprechen. Die sonst so gespaltenen Lager waren sich in einer Sache absolut einig: Die Unterstützung der Engländer für ihre Mannschaft war peinlich – ein Operettenpublikum, das sich in seiner Sattheit und Selbstzufriedenheit nur dann zu leisen Gesängen durchrang, wenn Dortmunder oder Schalker zu laut zu werden drohten.

    Am Abend dieses Frankfurter Fußballfestes wurden mir die Unterschiede zwischen der deutschen Bundesliga und der englischen Premier League mehr als deutlich. Ob Dortmund, Schalke, Frankfurt, Köln, Dresden, Freiburg oder Aue: Fast überall ist mehr los als in englischen Stadien. Detailreich vorbereitete Choreografien, variables Liedgut und nicht selten ebenso humorvolle wie hintergründig formulierte politische Postulate stehen für eine deutsche Fankultur, die Woche für Woche neue Blüten treibt. Es wäre der perfekte Rahmen für den schönsten Sport der Welt, gäbe es nicht auch die andere Seite des deutschen Fanwesens. Dieses aggressive, gewalttätige Potenzial, das es regelmäßig schafft, eine ganze Kultur in Verruf zu bringen. Denn wenn diese Minderheit zuschlägt, gerät ein reflexartiger Mechanismus in Bewegung, an dessen Ende die große Verallgemeinerung steht. Ultras, Pyros, Neonazis, Hooligans, Gewalt, die hässliche Fratze des Fußballs: Eine durch eine stark vereinfachende Einschätzung der Medien desinformierte Öffentlichkeit übernimmt bereitwillig Vorurteile und Vorverurteilungen, die eine ganze Szene an die Wand stellt. Nach den Ausschreitungen beim Pokalspiel zwischen Borussia Dortmund und Dynamo Dresden sowie dem Platzsturm nach dem Relegationsspiel zwischen Fortuna Düsseldorf und Hertha BSC schien sogar der Fortbestand des Abendlandes auf dem Spiel zu stehen. Es dauerte nicht lange, da gerieten Statistiken in Umlauf, nach denen es noch nie so viel Gewalt in den Stadien gegeben hat wie 2012. Das Szenario wiederholt sich Jahr für Jahr.

    Die Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) liefert Zahlen, die teilweise unreflektiert von den Medien übernommen werden und in der Öffentlichkeit zu einem Aufschrei führen. Es dauert nicht lange, da lassen wahlkampforientierte Innenminister populistische Forderungen nach härterer Gangart verlautbaren.

    Für 2012 hat die ZIS 1.142 Verletzte rund um die Spiele der 1. Bundesliga errechnet – eine Zahl, die erschreckend hoch scheint, in Relation zu anderen großen Ereignissen aber auch anders interpretierbar ist. Die Zahl der Verletzten auf dem Münchner Oktoberfest betrug im selben Jahr 351 bei insgesamt 6,4 Millionen Besuchern.

    Zu den Fußballspielen aber kamen mehr als 18 Millionen Besucher! Ähnlich verhält es sich mit den sogenannten Ingewahrsamnahmen: 1.137 dieser Maßnahmen gab es nach diversen Vorkommnissen in oder rund um die Stadien bei insgesamt 757 Spielen, auf dem Oktoberfest waren es 793 an 16 Tagen. Wird Bayern deshalb sein größtes Volksfest verbieten oder müssen die Wirte von jetzt an für die Polizeieinsätze bezahlen?

    Ein Bundesligaspiel wird mit durchschnittlich 45.000 Zuschauern berechnet, die Verletztenquote liegt bei zwei pro Begegnung – diese Fakten wünschte ich mir manchmal in den Berichten meiner Kollegen! Aber ein Foto mit Bengalo-Fans auf den Titelseiten und der Frage, ob die Gewalt in den Stadien noch zu stoppen ist, sorgt für mehr Aufsehen als eine Relativierung tendenziöser Statistiken. Kein exklusiver Vorwurf an die Print-Kollegen, auch die Freunde in meiner Redaktion erliegen immer wieder dem populären Mainstream und vermengen scheinbar seriöse Statistiken mit „schrecklichen" Bengalo-Bildern – viele journalistische Missverständnisse resultieren aus Unkenntnis der Ursachen und Hintergründe.

    Meine ersten Kontakte zur Borussenfront

    Mein erster beruflicher Kontakt zu einer Fanszene kam 1983 zustande. Ich hatte gerade als freier Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk angefangen, als die Nachrichten über eine bestimmte Gruppe zunahmen. Die Borussenfront beherrschte die Szene in Dortmund und stand stellvertretend für ein Anwachsen der Neonazis im Fußball. Die Fotos von den Jungs auf der alten Südtribüne machten Eindruck, denn die Mittelbuchstaben ihres Namenszugs auf der Brust waren durch SS-Runen ersetzt worden, und um ihren Gründer und Anführer Siegfried Borchert begannen sich Legenden zu ranken. Ich sah einen interessanten Job vor mir und hatte nicht wenig Hoffnung, das immer größer werdende Thema der gewaltbereiten Fans wegen meiner guten Kontakte nach Dortmund griffig bearbeiten zu können. Ich fuhr also nach Dortmund, im Gepäck den Auftrag, 45 möglichst spannende Minuten zu liefern. Die ersten vier Tage meiner Recherchen entwickelten sich ebenso turbulent wie fröhlich. Am ersten Abend Bier und Korn im „Grobschmied, der damaligen Stammkneipe der Borussenfront. Am zweiten Abend Bier und Korn „Bei Erbse – ich trank mit den Guten und Bösen der Dortmunder Fanszene. Tagsüber Interviews mit den Opfern rechter Gewalt rund um den Borsigplatz, abends wieder Bier und Korn.

    Bier, Korn und meine flammenden Worte zeigten Wirkung. Die Jungs öffneten sich allmählich. Ihren Anführer, den die Kameraden voller Ehrfurcht nur „SS-Siggi" nannten, bekam ich allerdings nie zu Gesicht. Die einen glaubten, er habe nach Argentinien verschwinden müssen, andere hingegen versicherten mir, er säße im Knast – schwere Körperverletzung, zum wiederholten Mal.

    Im Verlauf meines Interviews im „Grobschmied konnte ich sehr bald feststellen, dass ich es mit eher unpolitischen Jungs zu tun hatte. Der Wirt, dessen Namen ich vergessen habe, führte die zwölf bis 14 Jungs, die sich rund um den Tresen gegenüber unserer Kamera versammelt hatten. Sie erzählten gerade so viel, dass sie juristisch nicht belangbar waren. Sie berichteten voller Stolz über ihre „Beulereien, von ihrem Hass auf Ausländer, von „kleineren Straßenbahnbränden".

    Die, die noch Arbeit hatten, erzählten von ihrer Angst vor der Arbeitslosigkeit. Die, die sozial schon abgerutscht waren, konnten mir glaubhaft schildern, wie es sich anfühlt, wenn man seine Freundin nicht mal auf ein Bier einladen kann und sie deshalb irgendwann mit einem anderen abhaut. Ich habe in dieser Zeit viele Sozialstudien gelesen, die sich mit der großen gesellschaftlichen Relevanz des Fußballs befassten. Ich wollte die Zusammenhänge dieses Massensports wissenschaftlich verstehen lernen. Die insgesamt zwölf Tage in dieser Subkultur aber haben mir mehr gegeben als alle Theorie. Ich erhielt Einblicke in eine Welt, die für mich bis dahin ein Sozialklischee gewesen war und die ich von Berufs wegen bis dahin nur an ihrer Peripherie wahrgenommen hatte. Die Borussenfront auf der einen Seite, zwei Straßen weiter „Erbse" Erdmann, der mit dieser Gruppe in einem Streit lag, der irgendwann in einem nächtlichen Überfall endete. Dabei haben Mitglieder der Borussenfront Erdmanns Vater, der als Bluter bekannt war, schwer misshandelt. Ob Erdmanns Vater tatsächlich an den Folgen dieses Überfalls gestorben war, konnte die Staatsanwaltschaft nie zweifelsfrei klären. Die Täter bekamen eine Gefängnisstrafe von 18 Monaten.

    Bevor ich damals nach Hamburg zurück musste, half mir ein kleiner Zufall, doch noch eine konkrete Verbindung der Borussenfont zur rechten Szene nachzuweisen.

    Im Umlauf des Stadions traf ich auf eine Gruppe in damals szenetypischer Kleidung. Grüne und schwarze Bomberjacken mit kariertem Futter, umgeschlagene Jeans, Springerstiefel. Im „Grobschmied waren mir diese Jungs nie aufgefallen, und jetzt – weit weg vom strengen Wirt – plauderten die Jungs fast ohne Aufforderung. Nach zwei kleinen Nachfragen gaben sie zu, als Ordner der NPD bei Demonstrationen und Parteiversammlungen eingespannt zu sein. Eine kleine Horde von 18- bis 20-Jährigen, auf der Suche nach dem Kick beim Fußball und nebenbei für „das Gute in Deutschland kämpfend. „Juden, Ausländer – alles unsere Feinde", sprach mir ihr Anführer in die Kamera. Die Story stand, auch wenn mir persönlich ein paar Action-Bilder fehlten. Meine erste lange Hervorbringung hätte schon ein bisschen spektakulärer ausfallen können.

    Ein paar Wochen später, meine Reportage „Der Treueste Fan" war inzwischen gesendet worden, bekam ich eine Ausgabe des Stern in die Hand. Da sah ich sie wieder, die Jungs von der Borussenfront. Sie hatten ihren Bus auf der Autobahn zu einem Spiel in Frankfurt zum Stopp gezwungen. Es gab schwere Ausschreitungen auf der Fahrbahn, Verkehrschaos, Schlägereien. Das Magazin hatte genau die Bilder, die ich mir während der Dreharbeiten in Dortmund gewünscht hatte. Ganze Nächte hatten mein Kameramann und ich unter einer LKW-Plane am Straßenrand gehockt, weil wir gehört hatten, die Borussenfront plane den nächsten Überfall auf einen „Kanackenimbiss. Ein Anruf im „Grobschmied, und ich bekam eine Nachhilfestunde in „moderner Medientechnik".

    Ein Reporter des Stern soll sich, ähnlich wie es Günter Wallraff zuvor einige Male erfolgreich praktiziert hatte, undercover in die Borussenfront eingeschlichen haben. Er war im Bus dabei und hatte mit ein paar Kästen Bier den üblichen Ablauf einer Auswärtsfahrt beschleunigt.

    Statt erst nach der Ankunft auf einem der Frankfurter Busparkplätze zielorientiert nach möglichen Gegnern für die obligatorischen Schlägereien Ausschau zu halten, kamen die etwa 60 Dortmunder schon auf der Autobahn der Aufforderung des Kollegen nach und machten Randale. Ein Journalist des Stern soll die Ausschreitungen geplant und schließlich initiiert haben – so erklärten mir Mitglieder der Borussenfront den Ablauf der Bustour. Ich begann zu verstehen, wie Medien funktionieren, auch wenn ich die ganze Geschichte nicht glauben mochte. Eigentlich, so hörte ich aus dem „Grobschmied, wollten sie gar nicht mehr mit mir reden, weil ich auch nur einer von der „Lügenpresse war. Aber diese „angezettelte Bambule" auf der A 45 sei selbst für sie eine Nummer zu groß, und das wollten sie jetzt mal loswerden.

    Es war das letzte Mal, dass ich damals, im Herbst 1983, Kontakt zur Borussenfront hatte. Später lernte ich in Hamburg einen Fotografen kennen, der mir bestätigte, wie das auf der A 45 abgelaufen war. Er selbst war scharf auf die Fotos gewesen und hätte sie gerne eigenhändig gemacht, um seine noch junge berufliche Laufbahn schneller in Gang zu bringen.

    Meine Kontakte in die Fanszene schliefen allmählich ein, es gab in den Jahren danach so viele andere interessante Themen, mit denen ich mich beschäftigen wollte. Erst als mein Sohn Mitte der 1990er Jahre in das Alter kam, ein vehementes Verlangen nach seinem ersten Stadionbesuch zu zeigen, änderten sich die Dinge wieder. Ich nahm ihn mit, und ich erinnere mich genau daran, wie ich versuchte, ihm bestimmte Regeln und Mechanismen des schönsten Spiels der Welt zu erklären. Da saßen wir also, stolzer Vater und neugieriger Sohn, auf der Tribüne, und ich musste doch sehr bald feststellen, dass es ihn so gut wie gar nicht interessierte, ob der Freiburger Abwehr mit lang geschlagenen Diagonalbällen beizukommen sein würde oder nicht. Der Bengel hatte nur Augen für die Stehtribüne. Mit diesem Tag begann auch ich, mich wieder mehr für den anderen Teil der großen deutschen Fußballkultur zu interessieren. Mit 11Freunde kam ein Magazin auf den Markt, das es in dieser Form vorher nicht gegeben hatte. Die Perspektive der Fans auf das wöchentliche Geschehen stand im Mittelpunkt und ging über die Grenzen der Bundesliga hinaus. Abseitige Storys, viel Kult und manchmal auch ein bisschen Fußballkitsch – da konnte man auch lachen, wenn man selbst in der Fernsehkritik wieder etwas auf die Mütze bekommen hatte. Der Fußballfan bekam eine neue Plattform, nonkonformistisch und politisch, emanzipiert und ernst genommen, historisch und aktuell.

    Die Lage im Spätherbst 2012

    Im Spätherbst 2012 häuften sich auch in 11Freunde wieder die Berichte über die Zunahme des Einflusses der Neonazi-Szene in den Fußball. Im WDR entdeckte ich frische Bilder der Borussenfront, es gab sie wieder, wenn auch die SS-Runen von den Trikots verschwunden waren – die eindeutige Symbolik ist geblieben. Ich beschloss, wieder nach Dortmund zu fahren. Den „Grobschmied gibt es nicht mehr, die Jungs von damals sind auch nicht mehr aufzutreiben. SS-Siggi ist heute Kreisvorsitzender der neugegründeten Partei „Die Rechte. Das Stadion ist größer, der BVB zu einem bedeutenderen Verein geworden. Allein auf der Südtribüne stehen jetzt fast 25.000 Fans, 60 bis 100 davon sollen dieses Gesamtkunstwerk als Rekrutierungsfläche für rechte Parteien oder Kameradschaften benutzen. Altes Thema, neuer Bericht: also wieder Recherche, wieder heimliche Interviews und wieder jede Mende Empörung in der Öffentlichkeit über die Wiedergeburt der Nazis in Dortmund.

    Auch dieses Mal haben wir bekennende Neonazis und Opfer rechter Gewalt vor die Kamera bekommen, 29 Jahre nach meinem ersten Dreh in Dortmund hat sich also vordergründig nichts geändert.

    Wie das nun mal so ist, wenn der Fanatismus die große anonyme Masse als Versteck wählt und von hier aus seinen eindimensionalen Weg einschlägt.

    Am Ende der neuen Story in der ZDF-„Sportreportage" konnten wir nicht klären, ob das Problem mit der Gefahr von rechts größer geworden ist oder nicht. Wir konnten aber wieder zu einem sorgfältigeren Umgang mit dem Thema auffordern. 60 bis 100 Neonazis: Wenn 0,2 bis 0,3 Prozent aller Zuschauer auf der Südtribüne in Dortmund einen rechtsradikalen Hintergrund haben, dann werden die selbstreinigenden Kräfte das Problem schon in den Griff bekommen können. 100 Jahre Fankultur in Deutschland haben schon ganz andere Sachen erlebt, davon können Sie sich in jedem Kapitel dieses Buchs einen Eindruck verschaffen.

    Christian Winkle

    Sie lieben nur ein Stück Tuch

    Von den Fans der Blauen und Grünen im Circus Maximus

    Eine Historie der Fankultur(en)

    „Geht ihr aber ins Stadion, wer könnte da noch das Geschrei und den Lärm und die Aufregungen schildern, die Verrenkungen und Verfärbungen und zahllosen schweren Schmähungen, die ihr ausstoßt! […] Warum seid ihr so erregt? Was für ein Eifer ist das? […] Es geht nicht um ein Königreich, nicht um eine Frau, nicht um Leben und Tod." Dion Chrysostomos, griechischer Redner und Schriftsteller, im 1. oder 2. Jahrhundert nach Christus (32,74f.)

    Das fast abfällige Zitat des antiken Redners Dion Chrysostomos könnte auch von einem Zeitgenossen stammen und sich an Zuschauer eines Fußballspiels richten. Doch richtet sich die Kritik an die Zuschauer der Wagenrennen im ägyptischen Alexandria der römischen Kaiserzeit und liegt somit fast 2.000 Jahre zurück. Zwar sind nicht alle Zuschauer Fans, doch spricht aus dem Zitat des Dion Chrysostomos das Unverständnis vieler antiker Intellektueller für die Sportbegeisterung der Massen. Es stellt sich die Frage, ob eine so weit zurückliegende Äußerung für die deutsche Fankultur der vergangenen hundert Jahre überhaupt von Wert sein kann? Ist die kritische Haltung damaliger Eliten mit der heutiger zu vergleichen? Kann man für die antiken Kulturen überhaupt von einer Fankultur sprechen und wenn ja, welchen Beitrag kann die wissenschaftliche Aufarbeitung für die Gegenwart leisten? Diese und andere Fragen werden im Folgenden angesprochen.

    Noch vor gut zwanzig Jahren hätte die kritische Haltung des antiken Redners auch bei vielen Historikern und Bildungsbürgern besonders in Bezug auf Fußball Zustimmung gefunden. Inzwischen jedoch haben die „Kinder der Bundesliga die Lehrstühle an den Universitäten erreicht, und dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Forschung, die seit geraumer Zeit wieder Interesse an der Sportgeschichte und auch am Fußball gefunden hat, wie beispielsweise der von Wolfram Pyta herausgegebene Sammelband „Der lange Weg zur Bundesliga. Zum Siegeszug des Fußballs in Deutschland (Münster 2004) zeigt.

    Dass der Fußball mitten in der Universität angekommen ist, erfuhr der Autor dieses Beitrags auch in Sitzungen universitärer Gremien. Da kann es unmittelbar vor der Europa- oder Weltmeisterschaft schon mal vorkommen, dass bei der Terminierung von Vorträgen und Sitzungen durch die Intervention der Mehrheit der Professoren alles so weit wie möglich am Spielplan des Turniers ausgerichtet wird. Bei der Terminierung von Vorträgen auf ein sportliches und gar auf ein fußballerisches Ereignis Rücksicht zu nehmen, ja dies sogar in den Vordergrund zu stellen, wäre in den 1960er bis 1980er Jahren für viele Geisteswissenschaftler wohl undenkbar gewesen. Heute haben die „Kinder der Bundesliga, jene „seit den frühen 1960er Jahren mit einer expandierenden Sportberichterstattung aufgewachsenen Alterskohorten, für welche die ‚Sportschau‘, Franz Beckenbauer und Günter Netzer, die Olympischen Spiele 1972 in München sowie die Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land zu den vergemeinschaftenden Medienereignissen zählen¹, höhere Weihen erfahren. Sie leiten Fakultäten, Institute, Lehrstühle und haben in ihrer Jugend oder bei universitären Fußballturnieren selbst gegen den Ball getreten.

    Mit welchen Fragen beschäftigen sich jedoch Wissenschaftler, wenn sie sich mit Fans auseinandersetzen? Eine schwierige Frage, denn bei allen sportlichen Veranstaltungen seit der Antike gibt es zwar Zuschauer, aber ab wann kann man von Fans sprechen, und was unterscheidet den Fan vom Zuschauer?

    Der Begriff „Fan als Kurzform des englischen „fanatic ist letztlich auf das lateinische „fanaticus von lateinisch „fanum (ein heiliger, der Gottheit geweihter Ort) zurückzuführen. „Fanaticus kann mit „von einer Gottheit in Entzückung geraten, in Raserei versetzt oder einfach „begeistert, schwärmerisch, fanatisch oder „rasend übersetzt werden. Deutlich ist also in der lateinischen Sprache und damit in der römischen Antike der Bezug auf den religiösen Bereich. Im Englischen bezeichnet „Fan seit dem 19. Jahrhundert den Anhänger und besonders den Sportanhänger. Aber was ist mit dieser Begriffserklärung gewonnen? Der „Fan als Sportanhänger wäre damit eine Schöpfung des späten 19. Jahrhunderts

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