Atemlos: Meine schönsten Sportgeschichten und was sie mit Politik zu tun haben
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Über dieses E-Book
Univ. Prof. Dr. Peter Filzmaier
Peter Filzmaier ist Professor für Politikwissenschaft an den Universitäten Graz und Krems sowie Leiter des Instituts für Strategieanalysen (ISA) in Wien. Er ist politischer Analytiker des ORF und seit Jahrzehnten Gastkommentator in mehreren österreichischen Tageszeitungen. Als „Politikerklärer“ wurde er 2019 für den „Romy“-Fernsehpreis nominiert, für seine politischen Analysen erhielt er einen Sonderpreis im Rahmen der Ehrungen Österreichischer Journalist des Jahres, vom Public Relations-Verband Austria wurde er als Österreichischer Kommunikator des Jahres ausgezeichnet. 2019 erschien im Brandstätter Verlag sein Bestseller Atemlos. Meine schönsten Sportgeschichten und was sie mit Politik zu tun haben.
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Buchvorschau
Atemlos - Univ. Prof. Dr. Peter Filzmaier
EPILOG
PROLOG
Was hat ein Politikwissenschaftler mit Sportgeschichten zu tun? Ganz einfach: Mein Berufstraum war nie der angebliche Bubenwunsch Feuerwehrmann. Ich wollte nie Grisu, der kleine Drache sein, sondern Sportreporter. Jahrzehnte später erfülle ich mir wenigstens indirekt meinen Traum, indem ich dieses Buch schreibe.
Eine Art aufgelegter Elfmeter, bei dem der Tormann gerade am Klo ist, wäre hingegen folgende Antwort auf die Frage nach meinem Bezug zum Sport: Mein für manche bester „Sager" in einer Politikanalyse im Fernsehen hatte mehr mit Sport als mit Politik zu tun. Wie das?
Im Mai 2017 war Sebastian Kurz soeben Chef der ÖVP geworden. Das war auch Thema der Diskussionssendung „Im Zentrum" des ORF. Unter den Gästen waren, neben meiner Wenigkeit, Elisabeth Köstinger und Bernhard Görg, ihres Zeichens Geschäftsführerin der Bundespartei und ein Ex-Vorsitzender der Landespartei aus Wien. Wenig überraschend lobten beide Kurz über den grünen – oder der neuen Parteifarbe entsprechend türkisen – Klee. Das konnte ihnen keiner vorwerfen. Nur trugen sie allzu arg dick auf.
Also meinte ich zunächst, sie müssten gaaanz stark sein, weil selbst Herr Kurz nicht über Wasser gehen könne. Dann verstieg Bernhard Görg sich zu einem gewagten Vergleich, den er lang und breit ausführte. Kurz sei wie der Formel-1-Rennfahrer Ayrton Senna: dynamisch und offensiv und alle Gegner schlagend. Wenn Senna beziehungsweise Kurz im Rückspiegel auftauche und zum Überholen ansetze, würden seine Gegner fast von selbst aufgeben. So sehr fürchteten sie ihn.
Was immer Görg damit ausdrücken wollte, meine Antwort war extratrocken: „Senna ist tot. In Imola 1994 mit 300 Stundenkilometern gegen die Mauer gekracht. Was wollen Sie uns mit Ihrem Vergleich sagen?" Ich muss es übrigens Görg hoch anrechnen, dass er nach der Sendung mit einem Lächeln eingestand, dass dieser Punkt an mich gegangen war.
Es gibt noch eine dritte Antwort auf die Frage, was ich als Politikwissenschaftler mit Sport zu tun habe. Meine Dissertation habe ich einst über die politischen Aspekte der Olympischen Spiele verfasst. Da gab es genug zu schreiben. Das allerübelste Beispiel: 1936 in Berlin konnte Adolf Hitler die Spiele ungestört zur Nazipropaganda nutzen. Die Boykottdiskussion war tragisch und widerwärtig. Die USA entsandten eine „Kommission" nach Deutschland. Deren einziges Mitglied Avery Brundage war bekennender Rassist und Antisemit.
Brundage, der kein Wort Deutsch sprach, traf während seines sechstägigen Aufenthalts lediglich im Berliner Hotel Kaiserhof hohe NSDAP-Beamte und von diesen ausgewählte „Sportfunktionäre. Danach argumentierte er, dass kein Unrecht geschehe, denn sein eigener Verein in Chicago nehme schließlich genauso „keine Juden und Neger
auf. Avery Brundage war also ein extrem widerlicher Kerl, der dennoch später von 1952 bis 1972 als Präsident des Internationalen Olympischen Komitees amtieren durfte.
Dass das in Österreich zunächst niemanden störte, hat mir klar gemacht, dass man die Sportberichterstattung nicht allein den Sportreportern überlassen darf. Erst 36 Jahre nach den Spielen in Berlin und 20 Jahre nach seiner Wahl zum Präsidenten des IOC fand man diesen Herrn Brundage bei uns schlecht. Als er den Schifahrer Karl Schranz als Nicht-Amateur von den Winterspielen in Sapporo 1972 ausschloss. Schranz hingegen wurde in Wien bei seiner Rückkehr triumphal empfangen. So weit, so gut.
Schon am Flughafen warteten tausende Fans auf Karl Schranz, darunter die gesamte Führung der ÖVP als größter Oppositionspartei. Die heutige Flughafenautobahn gab es noch nicht. Daher standen auf der Straße bis ins Wiener Stadtzentrum 100.000 Schranz zujubelnde Wiener. Bundeskanzler Bruno Kreisky von der SPÖ gab ihm zu Ehren einen Empfang in der historischen Hofburg. Der sportliche Karli musste mehrmals auf den Balkon, um die Menge zu begrüßen.
Das war Kreisky zu viel. Er blieb im Zimmer, obwohl sich jeder Politiker gerne beim Bad in der Menge mit den Sportstars sonnt. Der Sonnenkönig genannte Kreisky sicher auch. Nur waren ihm das Kanzleramt, die Hofburg und vor allem der Balkon zu nahe am angrenzenden Heldenplatz. Dort hatte es den vor Schranz letzten hysterischen Menschenauflauf im Jahr 1938 gegeben: als Adolf Hitler mit seinen Nazis einmarschierte und ebenda vor die Massen trat.
Doch ich schweife ins Politische ab, obwohl ich aus einem anderen Grund viel mehr mit Sport zu tun habe: Ich bin ganz einfach Sportfan. Das schreibt sich so leicht. Aber wissen Sie, was das in meinem Fall als Politikwissenschaftler bedeutet? Mehr Widerspruch zwischen seriöser Wissenschaft und anständiger Politik einerseits sowie meinen Sportgeschichten andererseits, das geht nicht.
Ich mache meinen Ersteindruck von Menschen nämlich davon abhängig, zu wem er oder sie beim Fußball hält. Ich drücke Schifahrern je nach Nationalität die Daumen oder nicht, egal wie wenig politisch korrekt das ist. Ich schaue mir Formel-1-Rennen an, obwohl die umweltpolitische Intelligenz mir sagt, dass bestenfalls die Formel E vertretbar ist. Ich juble beim Tennis innerlich über Doppelfehler der Gegner meines Favoriten, was besonders fies ist. Ich schaue stundenlang Läufern, Schwimmern und Radfahrern begeistert zu, wissend, dass da womöglich alle gedopt sind.
Ich missgönne Sportstars ihren Erfolg, nur weil mir der Verlierer sympathischer ist. Ich freue mich über Fehlentscheidungen von Schiedsrichtern, die meiner Mannschaft helfen. Selbst wenn ich dafür die Objektivität in der Garderobe abgebe. Ich dauerfernsehe während der Olympischen Spiele, obwohl das ein Spektakel der Reichen ist, von dem in allen Ländern die Ärmsten der Armen nichts haben.
Ich habe zwar Angst, mich als Nichtexperte mit meinen Sportgeschichten lächerlich zu machen. Aber meine Lust, über Sport zu schreiben, ist einfach größer. Erst jetzt, bei der Niederschrift dieses Buches merke ich, dass fast lauter Männer als Sportler in meinen Geschichten vorkommen, während ich ansonsten jedes Lippenbekenntnis für einen höheren Frauenanteil in allen Gesellschaftsbereichen abgebe. Ich schreibe ein Sportbuch, obwohl ich all diese Dinge gar nicht eingestehen wollte und sollte: Ich bin eben ein Sportfan.
FUSSBALLGESCHICHTEN
In Bayern war Fußball bis 1927 verboten. Auch wenn Fans von Bayern München das kaum glauben wollen. Deutschland ist nicht das Mutterland des Fußballs, mein Österreich noch weniger.
Im deutschen Spielfilm „Der ganz große Traum" holt ein junger Lehrer den Fußball im Jahr 1874 nach Deutschland. An einem stockkonservativen Gymnasium für den Englischunterricht angestellt, bringt er den Schülern gegen alle Widerstände das Ballspiel bei. Vom Teamgeist bis zur die sozialen Gegensätze überwindenden Liebesgeschichte wird kein Klischee ausgelassen.
Ein bisschen ist dieser Fußballfilm wie „Club der toten Dichter" mit dem unvergleichbaren Robin Williams – für Arme. Doch er hat mich fasziniert. Irgendetwas muss dran sein an der Fußballsache. Vielleicht ist es das gemeinsame Erlebnis? Wissenschaftler wie ich sind manchmal Eigenbrötler vor ihrem Computer. Fußball allein, das geht nicht. Als Spieler auf keinen Fall, aber als Zuschauer ebenfalls nur schlecht. Womöglich sind es die Gefühle: Wo sonst dürfen Wissenschaftler und andere Männer Freude und Ärger heute noch schamlos brüllend oder sogar weinend zeigen?
WIE MAN VERLIERT
Beim Fußball bin ich Spanienfan. Immer gewesen. Mir gefällt sogar die spanische Hymne, obwohl sie nicht singbar weil ein Instrumentalstück ist. Doch endgültig mein Herz erobert hat das Land durch eine Niederlage.
Im Sport sind Debakel unvermeidbar. Kein Superstar und keine Siegernation sind davor gefeit. Was würde an Österreichs Stammtischen und medial passieren, wenn wir einmal von Olympischen Winterspielen ohne Medaille nach Hause kommen?
Vermutlich eine Art öffentliche Hinrichtung aller Funktionäre, Trainer und Sportler. Im Fernsehen und in jeder Zeitschrift, im Internet erst recht. Aber so ist es natürlich nicht nur bei uns: Bei den Olympischen Winterspielen 1992 in Albertville verspottete eine schwedische Zeitung die eigene Mannschaft, und zwar, indem sie eine bis auf wenige Zeilen leere Seite druckte: „Hier sollte über Erfolge der Athleten berichtet werden. Es gibt keine."
Was aber stand in Spaniens Zeitungen, nachdem der Titelverteidiger und zweifache Europameister bei der Fußball-WM 2014 in Brasilien in der Vorrunde kläglich gescheitert war? Die Schlagzeile lautete: „Danke für sechs wunderschöne Jahre!" Es folgte die Aufforderung an alle Spieler, sich bloß nicht für ein Versagen zu entschuldigen.
Nichts hätte meine Stimmung als Fan der „Furia Roja" besser beschreiben können. Ja, man war in der Vorrunde ausgeschieden. Na und? Für die goldene Generation rund um die Mittelfeldgenies Xavi und Iniesta war es eben das eine Turnier zu viel. Sie hatten ihren Karrierehöhepunkt überschritten. Doch davor war für mich jedes Spiel Lustgewinn pur gewesen.
Der jeweilige Gegner wurde vorgeführt und sah beim Kurzpassspiel Tiki-Taka keinen Ball, sechs herrliche Jahre lang. Als Spanien verlor, fiel mir der irische Schriftsteller Samuel Beckett ein. Er sagte sinngemäß: „Schon mal versucht, und schon mal versagt? Macht nichts. Versuch’s nochmal, versage besser!" Mein Spanien wird es wieder versuchen. Bis zum nächsten Europa- und Weltmeistertitel.
Die Leichtigkeit der Furia Roja: Fernando Torres, ESP–BRD 1:0, EURO 2008.
VON DEUTSCHLAND NACH BRASILIEN
Fernando Torres traf im Wiener EM-Finale 2008 zum Sieg gegen Deutschland. Das war besonders lustvoll für mich, weil meine Frau und meine Tochter Deutsche sind. Da machte es mir oft Spaß, aus ein bisschen Anti-Germanismus und viel purem Protest immer justament zur gegnerischen Mannschaft zu halten. Denn der Ball ist rund, das Spiel dauert 90 Minuten und am Ende gewinnen immer die Deutschen. Das sagte bekanntlich die englische Fußballerikone Gary Lineker. Aber der hat ja keine Ahnung.
Lineker war als Stürmerstar der 80er-Jahre zugegeben WM-Rekordtorschütze seines Landes. Wer zudem drei Jahre beim FC Barcelona in Spanien gespielt hat, der ist für mich sowieso ein Fußballgott. Gerade deshalb hätte Lineker jedoch vorausahnen müssen, was ich 2008 im Wiener Stadion sah: Spanien dominierte das EM-Finale gegen Deutschland, der für mich gefühlt haushohe Favorit mit Bastian Schweinsteiger, Michael Ballack und Miroslav Klose sah fast keinen Ball. Das einzige Tor für die Spanier gab nicht annähernd den Spielverlauf wieder. Ein 3:0 wäre nach Stangenkopfball und Riesenchancen gerechter gewesen.
Heute ist Lineker ein berühmter Fernsehmoderator und weiterhin ahnungslos. Ihm verdanke ich es, dass ich meine Tochter Sonja wenigstens ein bisschen für Fußballgeschichten begeistern konnte. Denn höchst unvorsichtig verkündete Lineker 2016, er würde in Unterhosen moderieren, wenn das wenige Jahre zuvor noch drittklassige Leicester City die Premier League gewinnt.
Linekers Unterhosen-Wette, 2016
Das Team der namenlosen Underdogs mit dem Österreicher Christian Fuchs wurde wirklich Meister des fußballerischen Mutterlandes. In der Highlight-Show „Match of the Day" zum ersten Spieltag der neuen Saison hielt Lineker als guter Verlierer Wort. Seine Unterhose ist übrigens weiß, das wissen außer mir und meiner Tochter seither auch ein paar Millionen britischer Fernsehzuschauer.
Wie man lieber nicht verlieren sollte, das ist übrigens recht klar: Im Veranstalterland Brasilien brach nach dem 1:7 im WM-Halbfinale 2014 gegen Deutschland eine Staatskrise aus. Bereits 1978 war der brasilianische Trainer Claudio Coutinho geschockt gewesen, dass sich Menschen nach einem verlorenen Spiel seinetwegen umgebracht haben sollen. Verwandte der Toten benannten beim nächsten Sieg der Mannschaft ihre Kinder nach dem nun erfolgreichen Trainer.
IMMER GEGEN DEUTSCHLAND
Für Österreich liegt die statistische Wahrscheinlichkeit, dass wir einmal Fußballweltmeister werden, im nicht messbaren Bereich. Das muss ich als Wissenschaftler so klar sagen. Doch ein Kleinstaat – nach der Bevölkerungszahl Nummer 94 in der Welt – wird nicht durch seine wirtschaftliche Potenz beeindrucken. Zum Glück noch weniger durch militärische Kraft. Da bleibt uns fast nur der Sport.
Schifahren freilich wird in geschätzt fünf bis sieben Ländern weltweit professionell betrieben und ist dem Rest der Welt herzlich egal. Fußball dagegen wird überall gespielt. Also bestimmen Tore unseren Selbstwert im In- und Ausland.
In meiner Jugend passierte die größte Einmaligkeit des österreichischen Fußballs: Wir haben gegen Deutschland gewonnen. 3:2 in Córdoba bei der Weltmeisterschaft in Argentinien. Hans Krankl schoss knapp vor Schluss das entscheidende Tor. Die Österreicher haben den Radiokommentar „I wer narrisch!" so sehr in ewiger Erinnerung, dass sie fälschlich glauben, er wäre im Fernsehen ausgestrahlt worden.
Ich war damals knapp elf Jahre alt. So ganz konnte ich nicht verstehen, warum eine trotzdem ausgeschiedene Mannschaft umjubelt wurde, als hätte sie das Endspiel erreicht. Wenige Tage vorher hatte ich im Fernsehen das 1:5 gegen Holland gesehen. Das war echt nicht so prickelnd. Die Österreicher spielten wie auf einer Badewiese, war nach der WM treffend zu lesen: technisch verspielt und die Zuschauer unterhaltend. Die Holländer waren intelligenter. Sie hatten kapiert, dass es ums Toreschießen ging.
Da war der Sieg gegen Deutschland für mich nicht mehr als ein kleiner Trost. Nur eine Geschichte hat sich in meiner Erinnerung eingeprägt. Mit meinem Vater und Freunden fuhr ich auf der Westautobahn. Jedes Auto mit deutschem Kennzeichen wurde erbarmungslos angehupt, um mit den Fingern 3:2 – dreiiiii zu zwei – zu zeigen. Unter den Reaktionen war eine herzhaft lachende Frau am Beifahrersitz, während der Mann mit verbissenem Gesicht