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Ernst Happel - Genie und Grantler: Eine Biografie
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eBook459 Seiten14 Stunden

Ernst Happel - Genie und Grantler: Eine Biografie

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Über dieses E-Book

In Österreich wie in Deutschland ist Ernst Happel eine Fußball-Legende. Der Mann, nach dem heute in Wien das größte Stadion benannt ist, war ein herausragender Spieler, doch Weltgeltung erlangte er als Trainer. Bei niederländischen Vereinen entwickelte er einen offensiven, attraktiven Spielstil, der ihn zu einemder Väter des berühmten 'totaal voetbal' und des modernen 'Pressings' machte. Später gewann Happel mit dem Hamburger SV zweimal die Deutsche Meisterschaft (1982, 1983) sowie den Europapokal der Landesmeister (1983) – bis heute der größte Erfolg in der HSV-Vereinsgeschichte. Das Buch stellt nicht nur den Erfolgstrainer Happel vor, sondern auch den Menschen, der als Grantler bekannt und gefürchtet, aber in Wahrheit eine scheue Persönlichkeit war. Abgedruckt sind auch zwei sehr intensive Interviews, die der Autor mit Happel vor dessen Tod führen konnte.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum22. Jan. 2013
ISBN9783895339356
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    Buchvorschau

    Ernst Happel - Genie und Grantler - Klaus Dermutz

    Klaus Dermutz

    Ernst Happel

    Genie und Grantler

    VERLAG DIE WERKSTATT

    Gefördert durch die Wissenschafts- und Forschungsförderung der Kulturabteilung der Stadt Wien.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

    der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

    sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Copyright © 2012 Verlag Die Werkstatt GmbH

    Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen

    www.werkstatt-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt

    Titelfoto: Sportfotodienst Imago

    ISBN 978-3-89533-935-6

    Inhalt

    Für paul Julian,

    der sich am Beginn seiner Reise in die Welt des Fußballs befindet

    »Laat de leeuw niet in z’n hempie staan«

    DANIEL KOERFER

    Vorwort

    Schon zu Lebzeiten wurde Ernst Happel zur Legende. Einst, in den Hochzeiten des österreichischen Fußballs, ein begnadeter Spieler, erreichte er als Trainer ganz unterschiedlicher Vereins- und Nationalmannschaften wirklichen Weltruhm. Gewiss, er war nach außen hin ein schwieriger Schweiger und gefürchteter Grantler, war ein passionierter Zocker am Karten- und Roulettetisch, ein Kettenraucher noch dazu, der manchem Sportjournalisten schlaflose Nächte bereiten sollte, nachdem er ihn zusammengestaucht und ohne auch nur einen winzigen Hauch von Information wieder fortgeschickt hatte. Und doch, wenn es einen heiligen Stein im Mekka des Fußballs geben würde, sein Name wäre für alle Zeiten eingeschrieben auf ihm. Denn Ernst Happel gelang, was nur wenige vermochten: Immer auf der Suche nach dem »perfekten« Spielzug, dem »absoluten« Spiel, revolutionierte er mit seinem »Pressing« den europäischen Fußball und schrieb wahrlich Sportgeschichte. Als er starb und sich die Massen in Wien zu Tausenden bei seinem Begräbnis drängten, titelte die Kronen-Zeitung wehmütig: »An seinem Sarg war das Pressing so, wie er es sich zu Lebzeiten immer gewünscht hat«.

    »Ein Tag ohne Fußball ist ein verlorener Tag« – so lautete sein häufig wiederholtes Lebensmotto. Fußball wurde Ernst Happel, dem die Großmutter zum ersten Geburtstag grün-weiße Söckchen gestrickt und geschenkt hatte, tatsächlich zum Schicksal. Grün-Weiß, die Farben von Rapid Wien, ein Omen mit weitreichenden Folgen – von diesem Verein wird der kleine Straßenfußballer etwas mehr als ein Jahrzehnt später, während Hitler in Wien einzieht, unter Hunderten von Jugendlichen ausgewählt, darf mit den »Auserwählten« trainieren, darf bald schon als 17-Jähriger in ihrem Kreise mittun, mitspielen, bestaunt, bewundert ob seiner technischen Beschlagenheit.

    Fußball rettet Happel im Zweiten Weltkrieg möglicherweise das Leben, sein Hauptmann war ein Fußballfanatiker, der den jungen Soldaten für Spiele in der Etappe in seiner Nähe haben wollte. Fußball führt Happel nach dem Krieg aus seinem Milieu, öffnet ihm, dem »Schmäh- und Rädelsführer« der Spieler von Rapid, Türen »von der Unterwelt bis zum Minister«, lässt ihn die Anfänge der Professionalisierung erleben. Gegen die »Königlichen« macht der »Wödmasda« das Spiel seines Lebens, schießt am 14. November 1956 innerhalb von 22 Minuten drei Tore, ein lupenreiner Hattrick. Zwei Weltmeisterschaften – 1954 und 1958 – erlebt er als Spieler, wird dabei im Halbfinale 1954 »Opfer« des Taktikfuchses Sepp Herberger und als Hauptschuldiger für den deutschen 6:1-Kantersieg in seiner Heimat verunglimpft. Wegen der massiven, ja infamen Vorwürfe geht er ins Ausland, zu Racing Paris, und kehrt erst nach knapp zwei Jahren wieder in seine Heimat zurück.

    In seines Lebens Mitte, ohne jegliches Fachdiplom, wechselt er bei seinem Heimatverein ins Trainerfach – bei Rapid wird er Sektionsleiter, gewinnt gleich auf Anhieb Meisterschaft und Pokal. Die internationale Karriere des neben Sepp Herberger »interessantesten Trainers der Welt« im 20. Jahrhundert, so Der Spiegel, beginnt 1962 mit ADO Den Haag. Mit Teams von Underdogs und Außenseitern – FC Feyenoord, FC Brügge – in ganz Europa Triumphe zu feiern, sollte sein Markenzeichen werden. Aber auch bittere Niederlagen lernt er kennen und trägt sie mit stoischer Gelassenheit, etwa die brutale 1:3-Niederlage 1978 im dramatischen WM-Finale nach Verlängerung mit Holland gegen Argentinien. Rob Rensenbrink schießt kurz vor Schluss der regulären Spielzeit an den Pfosten – hätte er getroffen, Happel wäre wirklich und tatsächlich »Wödmasda« geworden. So trug er diesen Ehrentitel in seiner Heimat gewissermaßen als »Wödmasda der Herzen«, die Kerben in seinem markanten Gesicht mögen etwas tiefer geworden sein.

    Happel setzt Anfang der 1980er Jahre seine Laufbahn beim Hamburger SV fort, wo er sowohl national als auch international erfolgreich ist und 1983 gegen eine mit frischgebackenen Weltmeistern gespickte Elf von Juventus Turin im Endspiel der damaligen »Champions League«, dem Europapokal der Landesmeister, in Athen einen 1:0-Sieg feiern kann. Das entscheidende Tor sollte einem seiner Lieblingsspieler, Felix Magath, gelingen. Aufgrund einer Krebserkrankung entschließt Happel sich, beim FC Tirol das nächste Engagement anzunehmen. Den Tiroler Klub führt er an die nationale Spitze, internationale Erfolge bleiben jedoch aus. Auf seiner letzten Station gibt der von der Krebserkrankung schon schwer gezeichnete Happel dem österreichischen Nationalteam neue Energie und Selbstvertrauen.

    Fußball bleibt seine Leidenschaft, ein Leben lang bis in die letzten Tage hinein. Lakonisch, wortkarg, mit trockenem Witz, von seinen Spielern verehrt, von den Sportjournalisten gefürchtet, vom Publikum bestaunt, ging Ernst Happel seinen Weg. Er ist wohl stets eine hochsensible Mischung aus Sentiment und Härte gewesen, war mit seiner hinter einer Attitüde von Unnahbarkeit verborgenen Verletzlichkeit ein im Kern rastlos-einsamer Skeptiker, immer auf der Suche nach den Lösungen jenes Rätsels, das über Sieg und Niederlage, Glück und Unglück entscheidet.

    Eine fundierte Biographie dieses großen und zugleich kantig-kauzigen Mannes war überfällig. Das Ernst-Happel-Porträt von Klaus Dermutz zeichnet den Lebensweg dieses großartigen Sportlers einfühlsam nach, der fünf Jahrzehnte als aktiver Fußballer und Trainer seinen Sport auf seine höchst eigenwillige Art und Weise geprägt hat. In dieser Monographie leuchtet die imposante Karriere dieses begnadeten Fußballers und Trainers noch einmal auf, der überall, auf all seinen Stationen, im Herzen doch ein Wiener geblieben ist. Wer immer ihn erlebt, wer immer unter ihm trainiert hat, behält ihn wehmütig in Erinnerung, nicht zuletzt auch seine lakonische Schlussfloskel, mit der er, gleichzeitig die Brille absetzend, seine überaus kurzen Spielerbesprechungen oder auch Pressekonferenzen zu beenden pflegte: »Danke – und schließe.«

    Daniel koerfer wurde 1955 in Bern geboren, hat als Schüler noch im alten Wankdorf-Stadion trainiert und von diesem gerade für den deutschen Fußball »historischen Ort« aus sein Faible für diesen Sport entwickelt. Er lehrt Neuere Geschichte/Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin und hat in seinem Buch Hertha unter dem Hakenkreuz – Ein Berliner Fussballclub im Dritten Reich (Verlag Die Werkstatt, 2009) eine Alltagsgeschichte aus der ersten deutschen Diktatur erzählt, bei der es auch um Fußball, in erster Linie aber um das Leben und Überleben von »kleinen Leuten« in schwierigen Zeiten geht.

    Einleitung

    »Happel, Hanappi, Ocwirk« waren die Namen, die mein Vater in den 1960er Jahren oft in einem wehmütigen Singsang wiederholte. Ich begriff nicht, warum er immer wieder die drei Namen nannte, an manchen Tagen noch »Zeman« hinzufügte. Erst allmählich begann ich zu verstehen, dass die Namen dieser begnadeten Fußballer für meinen Vater, derselbe Jahrgang wie Ernst Happel, eine Erinnerung an jene Zeit war, als Österreich zu den besten Fußballnationen der Welt zählte. Mit »Happel, Hanappi, Ocwirk« erhielt ich mit sechs, sieben Jahren die Initiation in die Welt des Fußballs.

    In den 1970er Jahren waren die Auftritte von Happel im österreichischen Fernsehen außergewöhnliche Ereignisse. Während Fußball-Österreich den vertanen Chancen hinterhertrauerte, sagte Happel mit einem provokativen Lachen auf die Frage, ob er Nationaltrainer werden wolle: Der österreichische Fußball könne international nicht mithalten, er sei zwar Patriot, aber kein Idiot. Seine Kommentare standen quer zur österreichischen Mentalität, die auf eine diffuse und die betrübliche Realität verschleiernde Ausgewogenheit aus war. Happel hatte das Charisma eines freien, furchtlosen Geistes.

    Mitte der 1980er Jahre schlug ich einem Grazer Redakteur ein Interview mit Happel vor. Ich fuhr im August 1986 von West-Berlin aus nach Hamburg. Die Spieler des Hamburger SV kamen an jenem Morgen von einem Auswärtsspiel in der Saisonvorbereitung zurück. Miroslaw Okonski, den Happel von Lech Poznan geholt hatte, hatte blaue Badeschlappen an, einen weißen Verband um den linken Knöchel und humpelte. Ich ging auf Happel zu und stellte mich vor. Er fragte mich, von welchem Boulevardblatt ich komme. Happel hatte einen Trainingsanzug an, er sagte mir, er könne das Interview nicht wie vereinbart am Vormittag geben, ich möge auf ihn warten, um 15 Uhr habe er Zeit.

    Ich sah beim Training zu, die älteren Spieler lockerten sich ein wenig, mit den jüngeren übte Ristić noch eine halbe Stunde länger Flanken und Kopfbälle. Es war heiß an jenem Montag, und die Zeit bis 15 Uhr verging nur langsam.

    Kurz vor dem zugesagten Termin fuhr Happel in einem eleganten Sportwagen vor, er hatte sich umgezogen, er trug einen feinen Anzug, weißes Hemd und Krawatte. Das Klubgebäude wurde gerade umgebaut, der Boden neu verlegt. Ein Arbeiter fragte Happel, was vor drei Tagen gegen Liverpool los gewesen sei, der HSV habe nur ein »Törchen« geschossen. Happel erwiderte nur, der HSV schieße keine »Törchen«, sondern »Tore«. Das Interview dauerte eine Stunde. Im Hintergrund hämmerten die Zimmerleute.

    Ich weiß gar nicht mehr, wie ich auf die Idee kam, Happel nach dem Gespräch vorzuschlagen, ein Buch über ihn zu schreiben. Vermutlich kam mir die Idee deswegen in den Sinn, weil Happel gesprächig gewesen war. Er hatte nichts dagegen, meinte nur, der Verlag müsse ihm ein Honorar von 500.000 Mark zahlen, dafür setze er sich 14 Tage auf ein Schiff und erzähle sein Leben. Ich begrub das Projekt, ich konnte mir nicht vorstellen, einen Verlag zu finden, der bereit sei, Happel diese Summe zu zahlen.

    Am Ende des Gesprächs fragte ich ihn, ob ich am nächsten Tag beim Training zusehen könne. Er war damit einverstanden. Als wir auseinander gingen, erzählte er noch, dass Arigo Sacchi und andere italienische Trainer 14 Tage sein Training beobachtet hätten. Am nächsten Tag kam Happel nach dem Training auf mich zu, schenkte mir einen HSV-Schlüsselanhänger. Ich fragte ihn, ob ich auch ein Trikot bekommen könnte. Er brachte mir eines mit der Nummer sechs. Beides habe ich heute noch.

    Bevor der HSV im vorletzten Spiel der Hinrunde Ende November 1986 zum Spiel gegen Blau-Weiß Berlin fuhr, rief ich kurz vor neun Uhr am Trainingsgelände an, sagte Happel, ich würde ihn gern wiedersehen. Er meinte, es gehe nicht, er treffe am Freitagabend Freunde, am Samstag habe er das Spiel. Der Samstag war sein 61. Geburtstag. Happel hatte zu den Spielern gesagt, sie mögen ihm einen Sieg zum Geburtstag schenken, was sie auch taten. Der HSV gewann vor 22.000 Zuschauern mit 3:1. Ich war ins Olympiastadion gegangen, hatte die meiste Zeit nur Happel beobachtet, konnte aus der Ferne aber nicht viel erkennen. Als das Spiel zu Ende war, ging Happel in Richtung Marathontor, hob kurz die Hand, grüßte die Fans.

    Da ich gelesen hatte, Happel gehe gern ins Casino, schickte ich ihm zum Geburtstag Fjodor M. Dostojewskis Roman Der Spieler. Ich weiß nicht, ob er ihn gelesen hat.

    Bevor ich im Oktober 1991 nach Innsbruck zum zweiten Interview fuhr, unterhielt ich mich mit einem Freund über Happels Gesundheitszustand. Ich fragte den Freund, einen Mediziner, was Happel für eine Krankheit habe, er spreche immer von einem Virus, der seine Leber befallen habe. Der Freund meinte, er habe Krebs, Happel gingen die Haare aus, die Chemotherapie greife vor allem die schnell wachsenden Haarzellen an.

    Als Happel beim Interview vom Virus sprach, sagte ich im Stillen zu mir, die Wahrheit müsse nicht ausgesprochen werden, erwiderte nur, ich hätte Angst gehabt, es könne Krebs sein. Das Interview fand im ersten Stock einer Tankstelle statt – an einem Ort für passagere Emotionen. Happel hat sich dort wohlgefühlt, war gut gelaunt gewesen.

    26 Jahre nach der ersten Idee habe ich das Happel-Buch geschrieben, ihm den Titel Genie und Grantler gegeben.

    Vom Soziologen Georg Simmel habe ich die Überlegung aufgenommen, das Genie eines Menschen nicht als die Leistung eines Einzelnen zu sehen. Es ist vielmehr so, dass die »Summierung physisch verdichteter Erfahrungen ganz besonders entschieden nach einer Richtung hin und in einer solchen Lagerung der Elemente erfolgt ist, dass schon der leisesten Anregung ein fruchtbares Spiel bedeutsamer und zweckmäßiger Funktionen antwortet. Dass das Genie so viel weniger zu lernen braucht wie der gewöhnliche Mensch zu der gleichartigen Leistung, dass es Dinge weiß, die es nicht erfahren hat – dieses Wunder scheint auf eine ausnahmsweise reiche und leicht ansprechende Koordination vererbter Energien hinzuweisen.«

    Bei Happel sind es die Energien jener technisch brillanten und fantasievollen Fußballer gewesen, deren Eltern als tschechische Saisonarbeiter am Beginn des 20. Jahrhunderts nach Wien gekommen waren, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Von ihnen wird im ersten Kapitel der vorliegenden Biographie berichtet; unter ihnen war auch der Mittelstürmer Matthias Sindelar, Happels Lieblingsspieler. 20 Fotos hatte Happel als Kind von dem exzellenten Techniker gesammelt.

    Für Sigmund Freud liegt der Mensch, der seine Wünsche nicht nach dem Lustprinzip erfüllen kann, »mit der ganzen Welt im Hader«. Mit der Welt des Fußballs lag Happel oft im Hader, und sein Granteln war der Ausdruck des Unbehagens, wenn nicht lustvoller Angriffsfußball gespielt wurde.

    Das Granteln ist für Happel jedoch kein Selbstzweck gewesen, sondern Movens und Motor für neue Entwicklungen und Erfolge. Für »grantig« wird im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm u. a. auch die Bedeutung »gierig«, »spitz, scharf sein« angegeben. Als Grantler war Happel gierig und scharf auf schöne Spiele und die aus ihnen resultierenden Siege. Nur sie haben den Hunger dieses Genies gestillt.

    Die vorliegende Publikation ist der Versuch, Happels Genialität als Spieler und Trainer in den Kontext der Zeitgeschichte und der Professionalisierung des Fußballs zu sehen, um ein Verständnis dafür zu erlangen, von welchem Ausgangspunkt und in welcher Weise Happel den Fußball weiterentwickelt hat.

    Mein Vater lebt nicht mehr, Happel ist seit 20 Jahren tot. In der Vergegenwärtigung der beiden Verluste wiederhole ich mit den Lippen eines in die Jahre gekommenen Mannes das »Mantra« meiner Kindheit: »Happel, Hanappi, Ocwirk.«

    Berlin, 2. August 2012

    Klaus Dermutz

    1925 BIS 1943

    Einsame Kindheit,

    entbehrungsreiche Jugend

    In eine massive wirtschaftliche und politische Krisenzeit fällt der Beginn von Ernst Franz Hermann Happels Leben am 29. November 1925 in Wien. Happel hat, so würde man heute dazu sagen, einen tschechischen Migrationshintergrund; er wächst größtenteils im 15. Bezirk bei seiner aus Böhmen stammenden Großmutter auf. Die Welt, in die er hineingeboren wurde und die ihm seine Prägung gab, den meisten heutigen Lesern vermutlich fremd, soll zu Beginn dieser Biografie dargestellt werden.

    Wien am Gebirge

    Das Ende des Ersten Weltkrieges brachte für die österreichische Bevölkerung einen dramatischen Verlust an Identität und Nationalstolz. Die mächtige Doppel-Monarchie Österreich-Ungarn (1867-1918) hatte einen kleinen Staat zurückgelassen, in dem die Bürgerinnen und Bürger sich mit melancholischen Empfindungen einrichteten. In einer rasant sich wandelnden Welt wurde die nationale Größe der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beschworen.

    Wie tief der Schock saß, lässt sich auch daran ablesen, dass der später weltberühmte Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951) noch zwei Jahre nach dem Ende des Krieges in Wien in der Uniform der k.u.k. Monarchie umherlief. Eine einflussreiche Nation hatte ihre Macht und auch ihr Selbstbewusstsein verloren.

    Für den aus einer Prager Familie stammenden Essayisten und Erzähler Anton Kuh (1890-1941) hatte Wien als Hauptstadt nach dem Ende der Monarchie die frühere Bedeutung verloren. Im Essay Wien am Gebirge rückt er aufgrund der politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen Wien sogar von der Donau weg: »Als Wien noch Reichshaupt- und Residenzstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie war, da hieß die Stadt mit ihrem vollen volksschulgeographischen Titel: Wien an der Donau. Der unendliche Strom war das Wichtige, der, Industrien schaffend, Handel bindend, von Europas Herz fast bis zu Asiens Pforte reichte und das Reich in der Mitte durchschnitt. Dieser Strom war die Zufahrtsstraße der Stadt, ihr Vorrang in der Staatsgeographie. Das Wien, das nichts als Hauptstadt ist, liegt nur noch an der Donau, wird von ihr flüchtig mitbeschenkt, aber es gebietet nicht mehr über sie. Es hat an dem Strom nicht mehr das Recht als das frühere Königreich Serbien oder irgendeines der balkanischen Unterländer, denen er noch zum Abschied den Boden stärkt. Man sagt nicht mehr ›Wien an der Donau‹, und wenn man es sagt, so hat es nicht mehr den weitgebietenden, imperialen Glanz. Wien liegt nicht mehr an der Donau – wo es streng genommen niemals lag –, sondern am Gebirge (lies für: a. G.): nicht in der weltoffenen, ausblicksreichen Ebene, sondern angepresst an gemütsumdämmerndes Bergland.«1

    Tschechische Minderheit

    In breiten Bevölkerungsschichten herrschte eine große Angst vor Immigranten, die um 1900 vor allem aus Böhmen und Mähren nach Wien kamen, um den Sprung in die feine Gesellschaft zu schaffen oder um, wie die meisten der Arbeitssuchenden, die schwerste und am schlechtesten bezahlte Arbeit zu verrichten.

    Zwischen 250.000 und 300.000 Tschechen lebten als Wanderarbeiter um die Jahrhundertwende in Wien, sie ließen sich für einige Monate in der Donaumetropole nieder, kehrten im Spätherbst in ihre Heimat zurück und brachen erneut auf, wenn es im Frühjahr in den Ziegelfabriken wieder Arbeit gab. Wien war damit die zweitgrößte tschechische Stadt.

    Der Segregation der Tschechen in den einzelnen Bezirken können nach Michael Johns und Albert Lichtblaus Studie Schmelztiegel Wien. Einst und jetzt mit folgenden Zahlen unterlegt werden: »1900 lebten etwa ein Viertel in Favoriten, 12 Prozent in Brigittenau und Leopoldstadt, 11 Prozent in Ottakring; ungefähr ein Viertel der tschechischsprachigen Bevölkerung Wiens wohnte in den inneren Bezirken, wobei die weibliche Bevölkerung die Mehrheit stellte. An dieser Verteilung wird deutlich, dass sich die tschechischen Zuwanderer an die funktionelle Differenzierung der Stadtteile angepasst haben: Die zu einem hohen Anteil in Industrie und Gewerbe unselbständig beschäftigten Zuwanderer siedelten sich in erster Linie in den Industrie- und Arbeiterbezirken 10, 16 und 20 an; ein großer Teil der weiblichen Zuwanderer lebte in den inneren Ober- und Mittelstandsbezirken, dem Arbeitsort der Dienstmädchen, böhmischen Köchinnen und tschechischen Ammen; im peripheren Nobelbezirk Döbling wohnte eine relativ kleine Gruppe Tschechen, die sich in diesem Zeitraum weder nennenswert verkleinert noch vergrößert hat.«2

    Auch die Vorfahren von Happel gehörten zur tschechischen Minderheit in Wien. Sie waren in die Donau-Metropole gekommen, um sich unter schwierigen Bedingungen einen Lebensunterhalt zu sichern.

    Kaltes Wien

    Der Kultur- und Musikwissenschaftler Viktor Velek unterscheidet zwischen zwei Gruppen von tschechischen Migranten, den »Wiener Tschechen«, einer Mittelklasse von Händlern, Kaufleuten, Beamten, zum Reichtum gekommenen Handwerkern, und den »Wiener Böhmen«, der großen Anzahl von Arbeiterinnen und Arbeitern aus Böhmen, Mähren oder der Slowakei. Die Handwerker, die Dienstmäderl, Köchinnen und Schneiderinnen fristeten in den Außenbezirken der Donaumetropole ein entbehrungsreiches Dasein. »Das 19. Jahrhundert war«, so Velek, »das Jahrhundert des Nationalismus. Nach dem Revolutionsjahr 1848 wuchs die Angst vor den Slawen und der ›Tschechisierung‹ Wiens. Z.B. musste man, um das Bürgerrecht zu erhalten, zuerst auf den ›deutschen Charakter Wiens‹ schwören.«3

    Den Tschechen wurde in Wien das Leben schwergemacht, es kam immer wieder zu gewalttätigen Konflikten: »Alle diese Dinge haben dazu geführt«, so Velek, »dass sich die Tschechen nie mit ihrer neuen Heimatstadt ausgesöhnt haben. In Liedern, tschechischen Zeitungen und in der Literatur wird Wien immer als die ›böse‹ bzw. die ›fremde Stadt‹ geschildert.«4

    Die Tschechen stellten um 1900 ein knappes Viertel der Wiener Bevölkerung. Die Einwanderer wurden häufig mit abfälligen Redewendungen und Liedern bedacht. Auch die Arbeiter-Zeitung brachte im Oktober 1918 ihre Empörung über die Zuwanderung zum Ausdruck, die für ihr politisches und nationales Verständnis ein nicht mehr tragbares Ausmaß erreicht hatte. Der Traum einer Vormachtstellung Österreichs im neu zu gestaltenden Europa war mit der Ausrufung der Ersten Republik im November 1918 ausgeträumt. Das einstmals glorreiche Habsburgerreich war zu Splittern zerbrochen. Wien wurde in der Zwischenkriegszeit zu einer Metropole für schlamperte Genies. Und das galt auch für den Fußball.

    In Mehr als ein Spiel – Zwei Studien zum Wiener Fußball der Zwischenkriegszeit legt Kulturwissenschaftler Wolfgang Maderthaner dar, dass »die Arbeitsmigration zu Beginn der zwanziger Jahre gleichsam zu einer alltäglichen Erscheinung im Fußballbetrieb« wurde: »Nun war der Fußball in Wien um diese Zeit bereits ein höchst internationales Phänomen geworden, eben weil er Ausdruck einer zutiefst urbanen Kultur, konzentriert auf die multikulturell geprägte ehemalige Habsburgerresidenz, war. Die Wiener Spitzenvereine fanden ihre wesentlichen Gegner nicht im eigenen Land, vielmehr wurde mit Prag und Budapest ein reger Spielverkehr gepflogen, die regelmäßigen Oster-, Pfingst- und Weihnachtstourneen der Großclubs fanden ein ausführliches und aufgeregtes Echo in der Sportpresse.«5

    »Aufschrei der Masse«

    In Wien stritten die Politiker verschiedenster Couleur um die Gunst der Bevölkerung und versuchten, einer schwierigen sozialen Lage Herr zu werden, die großen Zündstoff in sich trug.

    Die politische Landschaft war zerklüftet. Die Christdemokraten kämpften erbittert gegen die Sozialdemokraten. Die illegalen Nationalsozialisten nutzen die Zeit des Übergangs, um ihre Propaganda und ihre Parolen unter die Leute zu bringen. Die Spannungen zwischen der rechtsradikalen »Frontkämpfervereinigung« und den Mitgliedern des sozialdemokratischen »Schutzbundes« wurden immer größer und führten am 15. Juli 1927 zum Justizpalastbrand. Der Grund dafür war ein mildes Urteil gegen die »Frontkämpfervereinigung«, die auf Mitglieder des »Schutzbundes« geschossen hatten. Ein Kind war bei dem Schusswechsel getötet worden. Die Arbeiter ließen sich in ihrer Empörung nicht mehr stoppen und zündeten den Justizpalast an. Die darauf folgende Auseinandersetzung mit der bewaffneten Polizei, bei der 89 Menschen starben, brachte die Erste Republik an den Rand eines Bürgerkrieges.

    Der Schriftsteller Elias Canetti sah mit 22 Jahren den Justizpalast brennen. Es wurde ihm in jenen Tagen bewusst, was es für ein Individuum heißt, in der Masse zu stehen. Für den Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler war dieses Ereignis, wie er in Hamlet oder Happel ausführt, »noch nicht die wichtige Keimzelle für sein Werk Masse und Macht, nein, diese war der Sportklub Rapid.«6 Also jener Verein, dem Ernst Happel lebenslang verbunden bleiben sollte.

    Als der Justizpalast brannte, wohnte Canetti in Hietzing und arbeitete an einer Dissertation in Chemie. In Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931, dem 1980 publizierten zweiten Teil seiner dreibändigen Autobiographie, schreibt er über diesen Tag: »Eine schwache Viertelstunde Weges von meinem Zimmer, auf der anderen Talseite in Hütteldorf, lag der Sportplatz Rapid, wo Fußball-Kämpfe ausgetragen wurden. An Feiertagen strömten Menschen hin, die sich ein Match dieser berühmten Mannschaft nicht leicht entgehen ließen. Ich hatte wenig darauf geachtet, da mich Fußball nicht interessierte. Aber an einem Sonntag nach dem 15. Juli, es war ein heißer Tag wie damals, ich erwartete Besuch und hatte die Fenster geöffnet, hörte ich plötzlich den Aufschrei der Masse. Ich dachte, es seien Pfuirufe, und so erfüllt war ich noch vom Erlebnis des furchtbaren Tages, dass ich mich einen Augenblick verwirrte und Ausschau hielt nach dem Feuer, von dem er erleuchtet war. Doch da war kein Feuer, in der Sonne glänzte die Kuppel der Kirche von Steinhof. Ich kam zur Besinnung und überlegte: Das mußte vom Sportplatz kommen. Als Bestätigung wiederholten sich bald die Laute, in ungeheurer Anspannung horchte ich hin, es waren keine Pfuirufe, aber es war der Aufschrei der Masse. (…) Es fällt mir schwer, die Spannung zu beschreiben, mit der ich dem unsichtbaren Match aus der Ferne folgte. Ich war nicht Partei, da ich die Parteien nicht kannte. Es waren zwei Massen, das war alles, was ich wusste, von gleicher Erregbarkeit beide und sie sprachen dieselbe Sprache. Damals (…) bekam ich ein Gefühl für das, was ich später als Doppel-Masse beschrieb und zu schildern versuchte. (…) Aber was immer es war, was ich schrieb, kein Laut vom Rapid-Platz entging mir. Ich gewöhnte mich nie daran, jeder einzelne Laut der Masse wirkte auf mich ein. In Manuskripten jener Zeit, die ich bewahrt habe, glaube ich noch heute jede Stelle eines solchen Lautes zu hören, als wäre er durch eine geheime Notenschrift bezeichnet.«7

    Für Schmidt-Dengler wäre es fair gewesen, wenn Canetti den Nobelpreis mit dem Sportklub Rapid geteilt hätte. Der Wiener Germanist legte 2002 dar, welchem Ereignis wir die bahnbrechende Studie Masse und Macht (1960) verdanken, und stellte die rhetorische Frage, welcher Fußballverein der Welt sich rühmen könne, ein mit dem Nobelpreis gekröntes Werk verursacht zu haben.

    Von den Dichtern und Intellektuellen wurden Rapid und die bei dem Verein spielenden Tschechen nicht nur einhellig verehrt und geliebt. Der Journalist und Dichter Soma Morgenstern (1890-1976) schrieb am 13. Juli 1928 voller Empörung an seinen Freund Alban Berg, dem Komponisten von Lulu und Wozzeck, einem ebenso glühenden wie ahnungslosen Rapid-Fan: »Dein Triumph mit ›Rapid‹ macht mir gar nichts. Über ›Hakoah‹ siegten die Rapidler auf eigenem Platz wie immer mit der Hilfe des Schiedsrichters. (…) Ich hasse diese Tschechen von ›Rapid‹!«8

    Pfiffe für Mussolinis Fußballer

    Für die Verbreitung der Ideologie des Faschismus sorgten inzwischen die Heimwehren, die in allen Bevölkerungsschichten präsent waren. Ab 1927 wurden von den Unternehmern gelbe Gewerkschaften organisiert. Die Aufmärsche im Oktober 1927 in Linz waren so erfolgreich, dass sie den Sozialdemokraten schwere Verluste zufügten, zumal diese lautstark verkündet hatten, solche Aufmärsche in Arbeiterstädten zu verhindern: »Im Februar 1928 marschierten die Heimwehren durch Meidling«, so Jürgen Dolls Analyse, »ohne dass jedoch dieser ›Marsch auf Wien‹ wie beim italienischen Vorbild den Auftakt zur Machtübernahme bedeutet hätte. Da es den Heimwehren nicht gelang, zu einer Massenbewegung im Stile der Schwesternorganisationen zu Deutschland und Italien zu werden, wovon ihre schwachen Resultate bei den Wahlen von 1930 zeugen, verlegten sie ihre Hoffnungen auf einen gewaltsamen Umsturz. (….) Im größten österreichischen Industrieunternehmen, der von der deutschen Großindustrie dominierten Alpinen Montangesellschaft, wurden nur mehr heimwehrorganisierte Arbeiter beschäftigt.«9

    Seit dem Frühjahr 1928 wurden die Heimwehren nicht nur vom Hauptverband der Industrie und von den Banken, sondern auch vom faschistischen Italien mit Geld und Waffen versorgt.

    1931 führt die Weltwirtschaftskrise zum Zusammenbruch der Österreichischen Creditanstalt. Das Bankdesaster verschlimmert die soziale Lage vieler Österreicher/innen und ermöglicht einen immer stärker werdenden Einfluss rechtsradikaler Kräfte. Die Konflikte schaukeln sich in den 1930er Jahren immer stärker auf.

    Das Burgtheater, die Identität stiftende Institution Wiens, bringt am 22. April 1933 das Stück Hundert Tage von Benito Mussolini und Giovacchino Forzano zur Aufführung und »Geld ins Land«, wie die Wiener Sonn- und Montags-Zeitung (2.5.1933) mit der Überschrift »›Hundert Tage‹ und die österreichische Industrie. Große italienische Aufträge an verschiedene österreichische Industrieunternehmen« berichtet: »Die Herzlichkeit der österreichisch-italienischen Beziehungen trägt auch wirtschaftlich Früchte. In der letzten Zeit flossen namhafte Bestellungen aus Italien bei verschiedenen österreichischen Firmen ein. Dieser Ordereinlauf hat sich seit der glanzvollen Aufführung von Mussolinis Napoleon-Drama erheblich gesteigert, und man führt in eingeweihten Kreisen diese Tatsache auf persönliche Initiative des Duce zurück. Namentlich die völlig reorganisierten Krupp-Werke mit einem derzeitigen Arbeiterstand von 1.100 Mann sind voll beschäftigt, vornehmlich dank italienischer Aufträge. So ereignet sich die selten zu beobachtende Tatsache, dass ein gut gebrachtes Drama im Staatstheater ein anderes Drama, das Drama in den industriellen Elendsorten Österreichs zu mildern vermag.«

    Mussolini verzichtet auf die Tantiemen, die ihm durch die Burgtheateraufführungen zugeflossen wären, zugunsten arbeitsloser Wiener Schauspieler. Der Duce lädt Werner Krauß, den Darsteller des Napoleon, nach Rom ein und empfängt den Mimen, der als einziger Passagier in einer Sondermaschine reist, am 5. Mai – am Todestag und in der Todesstunde von Napoleon.

    Die Bedeutung der Hundert Tage, so das Wiener Morgenblatt (24.3.1933), liege darin, »dass sie zu den politischen Verhältnissen unserer Zeit eine so lebendige Beziehung herstellen, die niemand zu verkennen vermag«. Mussolinis Stück klinge »wie eine temperamentvolle Verteidigungsrede für die Diktatur, für das alleinige Entscheidungsrecht des großen Mannes, dem in bedrängendsten Zeiten niemand in den Arm fallen sollte, das zu tun, was dem Vaterland frommt. Dass Napoleon zu nobel war, von dieser Diktatur rückhaltlos Gebrauch zu machen, wird nicht nur ihm, es wird auch dem französischen Volk zum tragischen Verhängnis. Dies, offenkundig nur dies ist der letzte und in hohem Maße aktuelle Sinn eines historischen Schauspiels, dessen Autor Mussolini heißt und das im Burgtheater (mit außerordentlicher Besetzung: Werner Krauß als Napoleon) mit gebührender Achtung und Aufmerksamkeit aufgenommen wurde.« Mussolinis Stück wird am Burgtheater vom 22. April 1933 bis zum 18. April 1937 insgesamt 53-mal gespielt.

    Die Anhänger der österreichischen Nationalmannschaft sind von Mussolinis Fußballern nicht so betört wie das Burgtheater-Publikum und die Kritiker. Als es am 24. März 1935, knapp zwei Jahre nach der Premiere der Hundert Tage, zu einem Fußballländerspiel zwischen Österreich und Italien kommt, entlädt sich – nach einem Bericht der Brünner Arbeiterzeitung (31.3.1935) – der Unmut: »Als die Italiener vor Beginn des Spieles das Spielfeld betraten und sich mit dem Faschistengruß am Mittelkreis des Spielfeldes aufstellten, brach im Stadion tosendes Pfuigeschrei los. Die Demonstrationen nahmen auch kein Ende, als das Spiel begann; das Publikum benützte jede Gelegenheit, den Faschisten seine Antipathie zu zeigen. In der ersten Spielhälfte gab es ein ununterbrochenes Gejohle und Gepfeife gegen die Italiener. (…) Solange ein Italiener auf dem Spielfeld zu sehen war, hielt die Demonstration an. Während des Spieles versuchten wiederholt die Anhänger der Italiener ihre Landsleute durch Sprechchöre aufzumuntern, wurden aber sofort durch Gegenreaktionen – Pfeifkonzerte usw. – niedergeschrien.« Weltmeister Italien unterliegt Österreich mit 0:2.

    Geburtsname Ernst Nechiba

    Zu diesem Zeitpunkt ist Ernst Happel neun Jahre alt und lebt bei seiner Großmutter. Trotz intensiver Recherchen konnte der Autor im Wiener Geburtsregister keinen Eintrag des begnadeten Fußballers und Star-Trainers ausfindig machen.

    In vielen Porträts über ihn ist zu lesen, dass er das Kind von Karoline und Franz Happel sei. Im belgischen Dokumentarfilm Ernst Happel: Altijd in de aanval (Immer im Angriff, 2009) von Lieven de Wispelaere, Steven van de Perre und Jan Antonissen wird eine andere Herkunftsgeschichte erzählt. Happel hieß zunächst Ernst Nechiba, seine Mutter Karoline brachte ihren Sohn ledig zur Welt und heiratete ein Jahr nach der Geburt ihres Kindes den Wirt Franz Happel, der das Kind als Stiefsohn annahm. Seinen leiblichen Vater hat Ernst Happel nie gesehen.

    Franz Happel betätigt sich als Gewichtheber, nimmt sich nicht viel Zeit für den heranwachsenden Sohn. Der großgewachsene Stiefvater betreibt im 9. Gemeindebezirk ein Wirtshaus, spricht dem Alkohol zu, flüchtet aus einem deprimierenden Alltag in ausgedehnte Sauftouren, kommt bisweilen drei Tage nicht nach Hause. Auch Mutter Karoline führt ein Wirtshaus. Ein Familienleben existiert nicht. Die Ehe zwischen der Mutter und dem Stiefvater hält nicht lange, Happel sieht sich als Opfer der Scheidung, ist enttäuscht von den Eltern und auch böse auf sie. Happels Großmutter nimmt den Vierjährigen in ihre Obhut, er wächst bei ihr in der Huglgasse 3 im 15. Bezirk auf. Zwar hat der junge Happel das Gefühl, von den Eltern abgeschoben worden zu sein, doch er empfindet Zuneigung zur Großmutter. Sie betreibt einen Stand am Meiselmarkt, den er in den Krisenjahren oft aufsucht, um seinen Hunger zu stillen.

    Die Huglgasse wie auch der Meiselmarkt sind, so der Politologe Georg Spitaler, Kerngebiet von Rapid, »einige Funktionäre der Zwischenkriegszeit hatten dort in der Nähe ihre Betriebe, z. B. Präsident Johann Holub und Fahrradobmann Karl Kochmann«.10

    Tatsächlich hat es Happel von der Huglgasse aus nicht weit bis zur »Pfarrwiese«, dem 1911 erbauten Stadion von Rapid. Der Verein ist 1898 von Ottakringern Arbeitern unter dem Namen »Erster Wiener Arbeiter Fußball-Club« gegründet worden. Im Neuen Wiener Abendblatt (5.5.1898) wird der Klub zum ersten Mal erwähnt: »Der 1. Wiener Arbeiter Fußball-Club, welcher es sich zur Aufgabe gemacht hat, den in Wien so beliebt gewordenen Fußballsport auch unter den sportfreundlichen Kollegen der arbeitenden Klasse einzuführen, ladet hiermit alle ernstlich sportgesinnten Arbeiter ein, dem Club,

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