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Weltmeister im Schatten Hitlers: Deutschland und die Fußball-Weltmeisterschaft 1954
Weltmeister im Schatten Hitlers: Deutschland und die Fußball-Weltmeisterschaft 1954
Weltmeister im Schatten Hitlers: Deutschland und die Fußball-Weltmeisterschaft 1954
eBook561 Seiten7 Stunden

Weltmeister im Schatten Hitlers: Deutschland und die Fußball-Weltmeisterschaft 1954

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Über dieses E-Book

Auf dem Weg zur Fußball-WM in der Schweiz schenkte kaum jemand der deutschen Nationalmannschaft Beachtung. Doch als die Spieler am 5. Juli als Weltmeister zurückkehrten, stand Deutschland Kopf. Der Titelgewinn löste ungeheure Begeisterung aus, warf aber auch die Frage auf, wie diese zu bewerten war. Dazu waren die Schreckenstaten des Nationalsozialismus und die Erlebnisse des Krieges noch zu frisch.
Das Buch behandelt Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirkungen der Ereignisse und zeigt, wie eng politische, sportliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Aspekte zusammenhingen. Es schildert die Spiele in der Schweiz, die eine immer größere Spannung aufbauten, und beschreibt die Bundesrepublik im Frühsommer vor 60 Jahren, geprägt durch Armut und Wirtschaftswunder, Unsicherheit und Triumph, die Suche nach Vermissten, Prozesse gegen Kriegsverbrecher und mühsame Schritte zurück in die internationale Gemeinschaft. Überall war zu spüren, wie sehr der Nationalsozialismus nachwirkte und wie schwer es fiel, zur "Normalität" zurückzukehren.
Die Erlebnisse im Frühsommer 1954 faszinieren bis heute. Doch sie bewirkten weniger Veränderungen, als ihnen zugeschrieben werden. Der Titelgewinn bedeutete nicht die eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik und schuf auch keine neue Nation. Doch zumindest für einen Moment ermöglichte er intensive Erfahrungen von Gemeinschaft, die über den traditionellen Nationalismus hinauswiesen und das Sommermärchen von 2006 vorwegnahmen.
SpracheDeutsch
HerausgeberKlartext Verlag
Erscheinungsdatum31. Juli 2014
ISBN9783837513110
Weltmeister im Schatten Hitlers: Deutschland und die Fußball-Weltmeisterschaft 1954

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    Buchvorschau

    Weltmeister im Schatten Hitlers - Franz-Josef Brüggemeier

    Wunder.

    1.Ein Wunder?

    Als Schiedsrichter Bill Ling aus England am 4. Juli kurz vor 17 Uhr das Endspiel der Weltmeisterschaft in Bern anpfiff, stand der Sieger eigentlich schon fest. Es konnte nur die ungarische Mannschaft sein, zu überlegen hatte diese in den letzten Jahren gespielt. Gerüchten zufolge hatten deren Spieler die Uhren, die der siegreichen Mannschaft zustanden, bereits vorher erhalten, damit im Trubel nach dem Abpfiff nichts verloren ging. Das wäre etwas voreilig gewesen, denn immerhin hatte die deutsche Mannschaft das Endspiel erreicht und auf dem Weg dorthin gute Leistungen gezeigt. Das wichtigste Spiel der Vorrunde allerdings hatte sie deutlich verloren. Am 21. Juni war sie bereits auf Ungarn gestoßen und hatte mit 3 : 8 eine mehr als deutliche Niederlage erlitten.

    Zu diesem Spiel waren zehntausende Zuschauer aus Deutschland angereist, darunter Hans Albers und andere Prominente. Sie hatten sich große Hoffnungen gemacht, mussten dann jedoch tief enttäuscht heimkehren, erhoben gegen Mannschaft und Trainer heftige Vorwürfe und fühlten sich geradezu betrogen. Unparteiische Beobachter hingegen hatten dieses Ergebnis erwartet, wenn auch vielleicht nicht in dieser Höhe. Denn die Ungarn stellten seit Jahren die mit Abstand beste Mannschaft und hatten vor der Weltmeisterschaft seit sechs Jahren in 48 Spielen nicht mehr verloren. Sie hatten es sogar als erste ausländische Mannschaft vermocht, die englische Nationalmannschaft in deren ›Heiligtum‹, im Wembley-Stadion, zu besiegen. Nicht nur das Ergebnis von 6 : 3 traf die englischen Zuschauer wie ein Schock. Die Ungarn waren zudem in Technik, Taktik und Schnelligkeit den Engländern weit überlegen. Sie spielten, wie deren späterer Nationaltrainer Ron Greenwood es ausdrückte, »ganz einfach einen anderen Fußball« und ließen der englischen Mannschaft keine Chance.¹ Sechs Monate später trat diese zum Rückspiel in Budapest an und verlor noch deutlicher mit 7 : 1.

    Die ungarische Mannschaft war also der haushohe Favorit und stützte sich nicht nur auf berühmte Individualisten, darunter Ferenc Puskás, der vor kurzem unter die zehn besten Spieler des 20. Jahrhunderts gewählt wurde. Es war vielmehr gelungen, aus den herausragenden Einzelkönnern eine gut eingespielte Mannschaft zu formen, die in diesen Jahren den modernsten Fußball spielte und 1952 in beeindruckender Weise die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen gewonnen hatte. Als internationale Sportjournalisten vor Beginn der Weltmeisterschaft gefragt wurden, wer den Titel gewinnen werde, erhielten die Ungarn 111 Punkte, Brasilien 75, Österreich 18 und Deutschland lediglich 2.² Diese Mannschaft ging beim Endspiel in Bern nach wenigen Minuten durch Puskás in Führung und erzielte in der neunten Minute sogar das 2 : 0. Das Spiel schien gelaufen, die Erwartungen hatten sich bestätigt – allerdings nicht ganz. Denn den Deutschen gelang bereits in der 10. Minute der Anschlusstreffer, nach achtzehn Minuten stand es 2 : 2, und wenige Minuten vor Schluss erzielte Helmut Rahn in der 84. Minute den Siegestreffer.

    Die enorme Dramatik des Spielverlaufs und dessen unerwarteter Ausgang riefen nicht nur große Begeisterung hervor, sie verlangten auch nach Erklärungen. Wie konnte es geschehen, dass die großen Favoriten trotz der klaren Führung verloren und die krassen Außenseiter den Sieg errungen hatten? Wie konnten die weithin unbekannten deutschen Spieler gegen die ungarischen Stars die Oberhand behalten? Das schien kaum erklärlich zu sein, und entsprechend war bald vom ›Wunder von Bern‹ die Rede. Nur der Begriff des Wunders schien – und scheint bis heute – eine einigermaßen überzeugende Erklärung der Ereignisse zu erlauben. Dabei ist in dieser Wortwahl die Anspielung auf das ›Wirtschaftswunder‹ nicht zu übersehen, worauf mehrere Berichte verwiesen. Auch hier hatten die Westdeutschen es gegen alle Erwartungen vermocht, in wenigen Jahren nicht nur die zerstörten Städte wieder aufzubauen, sondern auch ein beeindruckendes Wachstum der Wirtschaft zu erreichen. Da zudem am Tage des Endspiels Mercedes beim Großen Preis von Frankreich in Le Mans einen Doppelsieg errang und kurz zuvor eine Deutsche den Titel der Miss Europa gewonnen hatte, gab es gleich mehrere Anlässe, von Wundern zu sprechen, die für die einen Grund zur Freude, für die anderen Ausdruck einer geradezu beängstigenden Leistungsstärke waren.

    Nun stammt der Begriff des Wunders aus der Religion und erlaubt eine erste Annäherung an ungewöhnliche Ereignisse, er bietet jedoch keine Erklärung. Dafür standen nach und nach andere Ansätze zur Verfügung, die beim Fußball vor allem auf die berüchtigten deutschen Tugenden wie Disziplin, Kampfkraft, unbedingter Siegeswille und Gemeinschaftsgeist verwiesen. Nimmt man noch die Person Herbergers hinzu, der als äußerst durchsetzungsfähiger, wenn nicht autoritärer Trainer galt, ergibt sich ein Erklärungsmuster, das sich bald allgemein durchsetzte: Beschrieben wird eine Gruppe von biederen, aber sehr einsatzwilligen und durch keine Rückschläge zu entmutigenden Spielern, die – angeführt von einer autoritären Vaterfigur – eine brillante, technisch hoch überlegene, jedoch etwas verspielte ungarische Mannschaft niederrangen.³

    Dieses Erklärungsmuster enthält unverkennbare Parallelen zu einer verbreiteten Beschreibung der frühen Bundesrepublik, wonach deren Bewohner unter der Obhut der dominierenden Persönlichkeit Adenauers standen und vor allem durch Fleiß und Einsatz den überraschenden Aufschwung erreichten. Diese Beschreibung klingt plausibel, zeigt bei näherer Betrachtung jedoch große Schwächen, denn sie beruht auf simplen Analogien, ist grob gestrickt und zu pauschal, um den Sieg im Endspiel zu erklären: Wie konnte eine Mannschaft von elf Spielern auf höchstem sportlichen Niveau nicht nur bestehen, sondern sich durchsetzen? Dazu sind fraglos Kampfkraft und Disziplin erforderlich. Doch um gegen die besten Mannschaften der Welt bestehen zu können, waren andere Merkmale nicht weniger wichtig. Die Spieler mussten über eine solide Technik und gute Kondition verfügen; sie mussten taktisch richtig aufgestellt sein und sich auf ihre Gegenspieler einstellen können; und sie mussten es verstehen, mannschaftliche Geschlossenheit mit individuellen Fähigkeiten, ja mit Eigensinn zu verbinden. Das war bei der deutschen Mannschaft der Fall. Sie war nicht nur gut aufeinander eingespielt, sondern besaß mit Fritz Walter einen der technisch und taktisch besten Spieler der damaligen Zeit. Und zu ihr zählten ganz unterschiedliche Persönlichkeiten wie Horst Eckel, der enormen Einsatz für die Mannschaft zeigte, oder Helmut Rahn, ein notorisch unberechenbarer, nicht unbedingt mannschaftsdienlicher Stürmer, der umstritten war, aber an guten Tagen ein Spiel allein entscheiden konnte. Es war diese Mischung, die die Mannschaft auszeichnete, und die vielleicht – um auf der Ebene der Analogien zu bleiben – die frühe Bundesrepublik besser charakterisiert als das Klischee der braven und leistungsstarken Biedermänner oder der verkappten Militaristen.

    Ferenc Puskás

    Diese Mannschaft ist weder vom Himmel gefallen, noch entstand sie wie von selbst. Sie war vielmehr das Ergebnis einer Vielzahl von Faktoren, zu denen eine sorgfältige Auswahl der Spieler, jahrelange Vorbereitungen und ein planvolles Vorgehen ebenso gehörten wie abrupte Veränderungen, Zufälle oder Faktoren, die keiner der Beteiligten beeinflussen konnte. Hinzu kam der Faktor Glück. Gerade Fußballspiele gewinnt nicht immer die Mannschaft, die am besten gespielt oder den Sieg ›verdient‹ hat. Bälle können abgefälscht, wichtige Spieler verletzt oder Tore ohne jedes eigene Zutun erzielt werden. Bei etwas anderem Verlauf des Turniers wäre nicht Deutschland, sondern Ungarn Weltmeister geworden, und das ›Wunder von Bern‹ hätte es nicht gegeben. Es wäre also falsch, den Gewinn der Weltmeisterschaft als das zwangsläufige Ergebnis jahrelanger Planungen und systematischer Vorbereitungen zu sehen. Aber es wäre ebenso falsch, diese Faktoren zu übersehen, selbst wenn die tatsächlichen Entwicklungen viel komplizierter, unübersichtlicher und zufälliger verliefen als eine auch noch so gute Planung erwarten konnte. Das zeigten schon die Bemühungen, den Spielbetrieb nach dem Krieg wieder in Gang zu bringen, die Nationalmannschaft aufzubauen und wieder in die internationale Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Nahezu bei jedem Schritt waren hierbei die Folgen der Niederlage, der Kalte Krieg und nicht zuletzt die Zeit des Nationalsozialismus zu bemerken, der bei den Deutschen und ihren Nachbarn tiefe Spuren hinterlassen hatte.

    1Zit. Nach Downing, Enemies, 68.

    2Die Welt 2.6.1954.

    3Diese Argumente haben sich in den folgenden Jahren so sehr verfestigt, dass sie bis heute zur Charakterisierung der deutschen Nationalmannschaft dienen und weiterhin als Merkmale eines deutschen Nationalcharakters gelten.

    2.Der (Wieder-)Aufbau des Fußballs nach dem Krieg

    Wie in anderen Bereichen, hat das nationalsozialistische Regime auch im Fußball versucht, den Anschein der Normalität möglichst lange aufrecht zu erhalten. So fand das letzte Spiel um die Deutsche Meisterschaft am 18. Juni 1944 im Berliner Olympia-Stadion statt, als der Dresdner SC den Luftwaffensportverein Groß-Hamburg mit 4 : 1 besiegte. Tatsächlich war der offizielle Spielbetrieb zu diesem Zeitpunkt bereits erheblich eingeschränkt und kam in den kommenden Monaten wegen des Krieges ganz zum Erliegen. Das hatte dem Interesse am Fußball jedoch keinen Abbruch getan, denn schon bald nach der Kapitulation gab es erste Bemühungen, diesen Sport wieder auszuüben und dazu Ligen sowie Verbände zu errichten. Das fiel allerdings nicht leicht, nicht nur wegen der Zerstörungen und der großen materiellen Not. Vielmehr hatten die Alliierten alle nationalsozialistischen Organisationen und damit auch die Sportvereine und den ›Nationalsozialistischen Reichsausschuss für Leibesübungen‹ verboten, der für den gesamten Sport zuständig gewesen war. Sie sahen hierin wichtige Bestandteile der nationalsozialistischen Herrschaft und betrachteten die Organisationen des Sports anfangs mit großem Misstrauen. Dafür hatten sie gute Gründe.

    Die Vereine und Funktionäre des größten Fußballverbandes, des DFB, hatten sich 1933 zum größten Teil bereitwillig gezeigt, mit den neuen Machthabern zusammen zu arbeiten, während kommunistische bzw. sozialistische Arbeitersportvereine verboten und Juden aus den nunmehr gleichgeschalteten Vereinen ausgeschlossen wurden. Diese Haltung haben die Beteiligten später mit dem auch aus anderen Zusammenhängen bekannten Argument gerechtfertigt, sie wollten dadurch dem Fußball eine gewisse Eigenständigkeit und Unabhängigkeit sichern.¹ Dieses Argument ist nicht ganz von der Hand zu weisen, blendet andere Aspekte aber aus. Dazu gehört, dass die Zusammenarbeit weitgehend freiwillig erfolgte und mit einem vorauseilenden Gehorsam verbunden war, der sich u. a. beim Ausschluss von Juden aus den Vereinen des DFB zeigte.² Diese gingen dabei nicht ganz so eifrig vor wie die Turner, und vereinzelt erfuhren jüdische Mitglieder eine gewisse Unterstützung. Diese blieb jedoch begrenzt, von nennenswertem Einspruch oder gar Widerstand gegen die Anordnungen der Nationalsozialisten kann keine Rede sein. Das gilt auch für die Gleichschaltung der Vereine und Verbände und deren Eingliederung in die neuen Organisationen des Sportes. Davon abgesehen verlief die Entwicklung des Fußballs eher unspektakulär. Das ist insofern verständlich, als dieser Sport sich gut für Zwecke der Propaganda eignete und – zumal während des Krieges – Ablenkung bot, doch er gehörte nicht zu den zentralen Themen der nationalsozialistischen Ideologie und Politik. Das hat später zu der Behauptung geführt, der Fußball sei ›unpolitisch‹ gewesen und habe sich vom Nationalsozialismus fernhalten können, eine Argumentation, welche die tatsächlichen Entwicklungen und Verhaltensweisen unterschlägt und zu den Rechtfertigungen gehört, die in der Nachkriegszeit weit über den Fußball hinaus verbreitet waren.

    Auch andere Merkmale der Nachkriegsgesellschaft lassen sich beim Fußball finden, darunter ein ausgeprägtes Maß an Kontinuität. Diese war bei einer derart populären Sportart nahezu unvermeidlich, da die Niederlage die Vereine mit ihren Mitgliedern, Funktionären und Zuschauern kaum berührte. Die Personen und Institutionen blieben dieselben, und es ist deshalb verständlich, dass die Alliierten eine so verbreitete Bewegung und ihre einflussreichen Organisationen anfangs skeptisch betrachteten und sie verboten. Dieses Misstrauen richtete sich insbesondere gegen die hohen Funktionäre, die in den westlichen Zonen jedoch nach und nach in ihre Positionen zurückkehrten. Eine gravierende Veränderung gab es vor allem durch die Auflösung des ›Nationalsozialistischen Reichsausschuss für Leibesübungen, der nationalsozialistischen Dachorganisation für den Sport. Diesem angeschlossen war das ›Fachamt Fußball‹, das nach 1933 den DFB ersetzte, mit diesem aber weitgehend identisch war und jetzt ebenfalls verboten wurde. Vorerst gab es also keine gemeinsame Dachorganisation des Fußballs, doch davon abgesehen gelangten weitgehend wieder die Personen in Amt und Würde, die schon während des Nationalsozialismus aktiv gewesen waren. Die Entnazifizierungsverfahren hatten sie überstanden, verfügten über reichhaltige Erfahrungen in Vereinen und Verbänden und waren untereinander vertraut, so dass die alten Verbindungen und Strukturen wieder entstanden.

    Vorübergehend sah es allerdings so aus, als sollte eine einheitliche Organisation des gesamten Sportes die alten, nach Sportarten geglie derten Fachverbände ablösen. Insbesondere die englischen Militärbehörden favorisierten diese Bestrebungen. Sie standen jedoch unter dem Ruch des Zentralismus, der als Merkmal des Nationalsozialismus galt, drohten vertraute Traditionen zu zerschlagen und sind in den westlichen Zonen am Widerstand der Sportverbände, ihrer Funktionäre und der Mitglieder gescheitert. Ebenso gescheitert sind hier die Bemühungen, die politisch ausgerichteten Vereine aus der Weimarer Republik wieder aufleben zu lassen. Entsprechende Forderungen gab es vor allem auf dem linken Flügel der Arbeiterbewegung. Sie betrafen nicht nur den Sport, sondern den gesamten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Neuaufbau nach dem Krieg, fanden in den westlichen Zonen jedoch wenig Unterstützung. Hier wurde die politische Ausrichtung der Vereine und Verbände in der Weimarer Republik als Zeichen der Zersplitterung gesehen und als ein Grund für deren Scheitern. Eine vergleichbare Entwicklung galt es jetzt zu verhindern, so dass sich westlich der Elbe politisch und weltanschaulich neutrale und weitgehend bürgerlich geprägte Vereine durchsetzten.

    In der Sowjetzone fand eine andere Entwicklung statt. Hier befand sich der Fußball nach Ende des Krieges in einer ähnlichen Situation wie in den anderen Zonen; die Vereine waren ebenfalls verboten, und es fehlte an Plätzen, Bällen, Trikots und Geld. Doch daneben gab es einen großen Unterschied: die politischen Ziele der sowjetischen Besatzungsbehörden und der SED. Wie in anderen Bereichen wollten sie auch im Fußball vermeiden, dass die alten Strukturen neu entstanden und dieselben Personen wieder in Amt und Würden gelangten. Stattdessen strebten sie eine einheitliche Sportbewegung an, die »unter Führung klassenbewusster Arbeiter mit klarer antifaschistisch-demokratischer Zielsetzung« stehen und den gesamten Sport unter Einschluss des Fußballs neu organisieren sollte.³

    Diese Unterschiede zwischen den verschiedenen Zonen waren in den ersten Wochen und Monaten nach Ende des Krieges noch nicht zu erkennen. Die weitere Entwicklung war vielmehr unklar, und der allmähliche Wiederaufbau erfolgte in kleinen Schritten. Dabei herrschte das Bemühen vor, möglichst schnell zur ›Normalität‹ zurückzukehren und – einfacher formuliert – wieder Fußball zu spielen und Spiele als Zuschauer zu verfolgen. Die ersten Begegnungen fanden kurz nach Ende des Krieges statt, so in Stuttgart bereits am 10. Mai (Himmelfahrt), wo zudem wenige Tage später, am 15. Mai, ein ›Arbeitsausschuss für Sport- und Körperpflege‹ entstand, der etwa einhundert sogenannte ›Sportleiter‹ umfasste.⁴ Bereits im Spätsommer 1945 erlaubten die westlichen Alliierten die Neu- bzw. Wiedergründung von Sportvereinen, die sie allerdings unter strenger Kontrolle hielten. Die meisten Fußballvereine konnten im Herbst ihren Betrieb wiederaufnehmen, obwohl viele Stadien weiterhin zerstört, Spieler noch nicht aus der Gefangenschaft zurückgekehrt oder gefallen und Trikots sowie Bälle Mangelware waren. Gerade in dieser schwierigen Situation bot der Fußball Ablenkung und zugleich für Spieler ein zusätzliches Einkommen, das sie oftmals nicht in Geld, sondern in Naturalien erhielten. In Essen erlaubte die Militärregierung bereits Anfang August die sofortige Aufnahme des Sportbetriebes. Am 22. August meldete die dortige Ruhrzeitung: »Im Essener Fußballsport herrschte am vergangenen Sonntag ziemlich reger Betrieb. … Helle Freude strahlte aus den Augen der Spieler und Zuschauer, Freude darüber, dass endlich wieder eine Gelegenheit vorhanden ist, sich dem geliebten Sport ungestört widmen zu können.«⁵

    Die Saison 1945/46 bestritten in Essen 47 Vereine und trugen eine Stadtmeisterschaft aus, bis eine Lockerung alliierter Beschränkungen die Bildung der Ruhrbezirksliga erlaubte. Der Spielbetrieb kam so nach kurzer Zeit wieder in Gang, doch angesichts der vier Besatzungszonen war eine gemeinsame Deutsche Meisterschaft vorerst nicht zu erwarten. Das Interesse an diesem Sport hat darunter nicht gelitten. Vielmehr zählten wichtige Spiele bereits 1946 teilweise mehr als 60.000 Zuschauer, und das Sport-Echo formulierte im Sommer dieses Jahres die Schlagzeile: »Volkssport Fußball mächtiger als je zuvor«.⁶ Angesichts dieser Nachfrage entstanden regionale Ligen, so bereits am 13. Oktober 1945 die Süddeutsche Oberliga, 1947 die Oberliga West und bald weitere, bis deren Vertreter am 10. Juli 1949 den Deutschen Fußballbund gründeten. Damit waren sie vorgeprescht und hatten die westlichen Alliierten vor den Kopf gestoßen, so dass sie die Gründung im Jahr darauf wiederholen mussten. Außerdem war der DFB nur für die mittlerweile ebenfalls gegründete Bundesrepublik zuständig, wenngleich er den Anspruch erhob, ganz Deutschland zu vertreten.

    Eine andere wichtige Entscheidung war zuvor im September 1948 gefallen, als die Süddeutsche Oberliga den Status des ›Vertragsspielers‹ einführte, der ein Gehalt von 150–320 DM im Monat verdienen konnte. In West- und Norddeutschland gab es weitergehende Forderungen nach Einführung des Berufsspielers, die jedoch keine Mehrheit fanden und erst mit der Bundesliga sowie dem Bestechungsskandal 1972 in vollem Umfang verwirklicht wurden. Auch als Vertragsspieler konnten gute Spieler damals ein attraktives zusätzliches Einkommen erzielen, vom Fußball alleine allerdings nicht leben. Das war auch deshalb nicht möglich, weil die fünf Oberligen insgesamt 74 Vereine zählten, von denen nicht alle genügend Zuschauer fanden, um entsprechend hohe Gehälter zu zahlen.

    Damit ist ein anderes Problem angesprochen, das schon in der Weimarer Republik viel diskutiert wurde. Wegen der Zersplitterung des deutschen Fußballs in mehrere Ligen bestanden nur wenige leistungsstarke Vereine, die zudem nur selten aufeinander trafen und in vielen Spielen kaum gefordert wurden. Das hatte schon in den zwanziger Jahren Sepp Herberger beklagt und deshalb die Einführung von Berufsspielern und einer nationalen Liga gefordert, um die Leistungsstärke der Spieler zu fördern und eine Nationalmannschaft aufzubauen, die mit den Profi-Spielern der anderen Länder mithalten konnte. Dieser Wunsch war nicht in Erfüllung gegangen, da viele Verbände und Funktionäre im bezahlten Fußball einen Tanz um das goldene Kalb und eine »Entartungserscheinung unserer Zeit« gesehen hatten.⁷ Doch der Fußball war zu populär, zog bei wichtigen Spielen Zehntausende an und erzielte so hohe Einnahmen, dass der Amateurgedanke zunehmend unrealistisch wurde, unter der Hand Zahlungen erfolgten und Ende 1932 der Bundestag des DFB die Einführung des Berufs-Fußballsports vorbereitete. Dazu kam es nicht, denn kurz darauf übernahmen die Nationalsozialisten die Macht, die bezahlten Fußball als Ausdruck verwerflicher Profitgier und jüdischer Einflussnahme sahen, so dass der bezahlte Fußball offiziell verboten blieb, inoffiziell aber weiter bestand und auch jetzt nicht eingeführt wurde.⁸

    In der sowjetischen Zone waren inzwischen an die Stelle der Vereine Sportgemeinschaften (SG) getreten, die auf lokaler Basis beruhten und einzelne Stadtteile oder Städte zusammenfassten. Vielfach führte das allerdings zu einem Etikettenschwindel und zur bloßen Umbenennung von Vereinen, bei denen sich faktisch nicht viel änderte. Deshalb forderte die SED zunehmend die Gründung von Betriebssportgemeinschaften (BSG), um eine neue Organisationsform zu schaffen, die politische Kontrolle zu erhöhen, und – wie es hieß – auch im Fußball »das Kräfteverhältnis zwischen den reaktionären und den fortschrittlichen Kräften … zugunsten der Antifaschisten« zu ändern.⁹ Diese Veränderungen erfolgten allmählich, waren Ende der 1940er Jahre jedoch weit fortgeschritten und wurden mit Nachdruck von den neuen Machthabern unterstützt, wie das Endspiel um die erste Fußballmeisterschaft der DDR zeigte.

    Hier standen sich am 16. April 1950 im entscheidenden Spiel die Zentrale Sportgemeinschaft (ZSG) Horch Zwickau und die SG Dresden-Friedrichstadt gegenüber. Die Horch-Werke in Zwickau hatten sich nach dem Krieg zu einem sozialistischen Musterbetrieb entwickelt, der auf zahlreichen Gebieten neue Zeichen setzte, auch bei der Errichtung von Betriebssportgruppen. Die Dresdner Sportgemeinschaft hingegen war faktisch der Nachfolger des traditionellen Sportclubs Dresden, ein bürgerlicher Verein, der unter den Nationalsozialisten Förderung genossen und die letzte Meisterschaft gewonnen hatte, als belastet galt und mit Helmut Schön einen ehemaligen Nationalspieler zählte, der seit 1949 auch die Auswahl der Ostzone trainierte. 60.000 Zuschauer wollten das Spiel sehen, einige von ihnen übernachteten auf dem Platz. Auf dem Schwarzmarkt kosteten Karten bis zu einhundert Mark, doch die Anhänger von Dresden werden diese Ausgabe bedauert haben. Denn ihre Mannschaft verlor deutlich mit 6 : 1, wobei nicht so sehr die Höhe des Ergebnisses für Aufregung sorgte, sondern der Auftritt des Schiedsrichters.¹⁰

    Dem Neuen Deutschland zufolge zeigte er »eine sehr schlechte Leistung« und war »seinem Amt in keiner Weise gewachsen«,¹¹ denn er bevorteilte die Mannschaft von Zwickau, deren hartes Spiel er nicht unterband und selbst grobe Fouls übersah. Er pfiff, so Helmut Schön in seinen Erinnerungen, als hätte er Weisung, »die Zwickauer um jeden Preis zum Meister zu machen. Einige Male mussten die Zuschauer vom Platz gewiesen werden, weil sie so empört waren … Ich erinnere mich daran, dass ich mit erhobenem Arm Tausende von Menschen bat, den Rasen wieder zu verlassen«.¹² Nach dem Abpfiff fühlten sich die Anhänger der Dresdner Mannschaft betrogen und waren so erbost, dass es zu Auseinandersetzungen kam, Spieler geschlagen wurden und berittene Polizei eingriff. Die eigentliche Siegerfeier fand im kleinen Kreis statt, und Walter Ulbricht, damals Stellvertretender Ministerpräsident, ließ es sich nicht nehmen, diese persönlich vorzunehmen. Er gratulierte »seinen Arbeitersportlern«, die er schon deshalb als sympathisch bezeichnete, weil sie rote Trikots trugen. Vor allem aber freute ihn, dass es »gerade die Mannschaft eines volkseigenen Betriebes ist, die die ersten Meisterehren der DDR erwarb, womit die Richtigkeit des Weges der demokratischen Sportbewegung erwiesen ist«.¹³

    Auch im Fußball hatten sich somit die beiden deutschen Staaten auseinander entwickelt. In der DDR hatten die Machthaber einen Neuanfang von oben durchgesetzt, während im Bereich des DFB in etwa die Strukturen, aber auch die Probleme, wieder anzutreffen waren, die bereits die Weimarer Republik gekennzeichnet hatten. Dazu gehörten die Vielzahl der Ligen und der (leicht veränderte) Amateurstatus der Spieler, worüber nicht zuletzt Herberger klagte, denn beides erschwerte sein Vorhaben, eine leistungsstarke Nationalmannschaft aufzubauen. Nicht weniger schwierig war es für ihn, überhaupt erst die Stelle des Nationaltrainers zu erhalten und gegenüber den Funktionären durchzusetzen, dass er nicht an ihre Anweisungen gebunden war, sondern die alleinige Zuständigkeit für die Mannschaft besaß. Um jedoch überhaupt Länderspiele bestreiten zu können, musste der DFB wieder in die FIFA aufgenommen werden. Nach dem Krieg war der deutsche Fußball aus diesem Verband ausgeschlossen worden und konnte offiziell keine internationalen Begegnungen austragen, nicht einmal auf der Ebene von Vereinen. Diese Situation zu verändern, war allerdings nicht Herbergers Aufgabe. Das hatte vielmehr Peco Bauwens unternommen, ein erfahrener Funktionär und späterer Präsident des DFB, der seit der Weimarer Republik exzellente Verbindungen zur FIFA besaß und auch während des Krieges in diesem Verband intensiv mitgearbeitet hatte.

    Aufgrund dieser guten Kontakte erwartete Bauwens anfangs, dass sich hieran nichts geändert hatte und er sowie der DFB wichtige Mitglieder der FIFA bleiben würden. Das war nicht der Fall, und es sollte Jahre dauern, wieder aufgenommen zu werden, weil in der FIFA ebenfalls unterschiedliche Auffassungen darüber bestanden, wie mit Deutschland umzugehen sei. Hinzu kam, dass im Falle des Fußballs nicht nur zwei, sondern sogar drei deutsche Gebiete mit je eigenen Verbänden bestanden. Denn zusätzlich zur DDR und BRD war hier noch das Saarland zu berücksichtigen, das die französische Regierung als eigenständige politische Einheit ansah, die über einen eigenen Fußballverband verfügte. In der FIFA durfte jedoch jedes Land nur mit einer Stimme vertreten sein, und es kam darauf an, eine Lösung zu finden, die der komplizierten deutschen Situation angepasst war.

    1Heinrich, Fußballbund; Fischer/Lindner, Stürmer; Schulze-Marmeling, Fußball.

    2Schulze-Marmeling, Davidstern.

    3Skorning, Fußball, Bd. 2, 7.

    4Klaus Grundgeiger, Stuttgart, in Deutscher Sportbund, Gründerjahre, Bd. 2. 50–55, 50.

    5Zit, nach Siegfried Gehrmann, Das Wiederentstehen des Fußball-Spielbetriebs in Essen 1945, in Deutscher Sportbund, Gründerjahre, Bd. 1, 169–72, 170.

    6Sport-Echo, Saarbrücken, 9.7.1946.

    7Günther Riebow, Unser Kampf gegen den Berufssport, in Deutscher Fußball-Bund, Jahrbuch 1930, 39–41, 41, zit. nach Heinrich, Fußballbund, 89.

    8Heinrich, Fußballbund, 75 ff.; Fischer/Lindner, Stürmer, 47 ff.

    9Skorning, Fußball, Bd. 2, 15; Grüne, Fußball, 191 ff.

    10Grüne, Liga-Fußball, 218 f.; U. Prüger/J. Meyer, ZSG Horch Zwickau: erster DDR-Meister 1949–50, in Friedemann, Sparwasser, 13–18.

    11Zit. nach Prüger/Meyer, Zwickau, 15.

    12Schön, Fußball, 141.

    13Zit. nach Prüger/Meyer, Zwickau, 17 f.

    3.Bauwens, der DFB und die FIFA

    Die Zeit unter dem Nationalsozialismus

    Direkt nach Kriegsende schienen zwischen Bauwens, dem DFB und der FIFA keine Probleme zu bestehen, von einem Ausschluss aus dem Weltfußball war keine Rede. Vielmehr erhielt Bauwens am 28. Juni 1945 ein Schreiben von Ivo Schricker, den Generalsekretär der FIFA, der ihn bat, an einer Besprechung teilzunehmen, die aus Anlass des 50. Geburtstages des Schweizer Fußball- und Athletikverbandes stattfinden sollte. Bauwens war zu diesem Zeitpunkt Mitglied des Exekutivkomitees der FIFA und erhielt kurz darauf eine weitere Einladung zu einer Sitzung dieses Komitees, die im Oktober stattfinden sollte. Diese erfolgte im Auftrag des Franzosen Jules Rimet, dem Präsidenten der FIFA, der ihn »für dieses Treffen um seine Unterstützung« bat.¹ Aus diesen Schreiben spricht eine Anerkennung der Person Bauwens, für die es gute Gründe gab.

    Bauwens war vor dem Ersten Weltkrieg Nationalspieler gewesen und hatte anschließend eine Karriere als Schiedsrichter begonnen, die schon 1925 einen ersten Höhepunkt erlebte, als er in die Regelkommission der FIFA berufen wurde. Im Jahr darauf folgte die Mitgliedschaft im ›International Board‹, dem Regelausschuss, dem vier Briten und zwei Vertreter anderer Länder angehörten. Der Fußball erlebte in diesen Jahren weltweit einen rasanten Aufstieg und erreichte immer mehr Länder, so dass ein großer Bedarf an einheitlichen Regeln und verbindlichen Auslegungen bestand. Hier engagierte sich Bauwens mit großem Einsatz, wobei ihm seine Fremdsprachenkenntnisse und seine unabhängige finanzielle Situation sehr halfen. Als Sohn aus gutbürgerlichem Haus hatte er eine gute Erziehung genossen und leitete mit zwei Brüdern ein ertragreiches Bauunternehmen in Köln. Sein Einsatz für die FIFA führte bald zu einer weiteren Auszeichnung, als er 1932 in das bereits genannte Exekutivkomitee, das entscheidende Organ des Weltverbandes, gewählt wurde. Dort zeigte er auch in den kommenden Jahren großen Einsatz und wurde in den letzten Jahren des Krieges offensichtlich zu einem wichtigen Vertrauten von Schricker.

    Die Aktivitäten der FIFA hatten unter dem Krieg sehr gelitten. Es fanden immer weniger Länderspiele statt, die diesen Dachverband wesentlich finanzierten, da ihm jeweils ein Anteil der Einnahmen zustand. Außerdem wurde es zunehmend schwieriger, Treffen der verschiedenen Gremien durchzuführen. Denn die Kriegshandlungen erschwerten die Reisen, zumal die Schweiz bald ganz von Ländern umgeben war, welche die Nationalsozialisten und deren faschistische Verbündete regierten oder besetzt hielten. Jede Durchreise zur Schweiz erforderte deshalb eine Genehmigung, was politische Probleme aufwarf und mit hohem bürokratischem Aufwand verbunden war, so dass diese Treffen schließlich unterblieben. Dadurch gewann die Position des Generalsekretärs an Bedeutung, der mit Rimet und den anderen Mitgliedern des Exekutivkomitees zwar in Briefkontakt stand, vieles aber weitgehend auf sich gestellt regeln musste. Als wichtiger Partner erwies sich dabei Bauwens, mit dem er einen überaus lebhaften Schriftverkehr unterhielt, der nahezu alle Aktivitäten der FIFA betraf und den Umfang von mehreren Briefen im Laufe einer Woche erreichen konnte. Bauwens hatte sich also um die FIFA verdient gemacht, auch bei finanziellen Problemen. Es ist deshalb verständlich, dass Schricker und Rimet ihn nach dem Krieg einluden und an seiner Mitarbeit interessiert waren. Es schien also alles beim Alten geblieben zu sein. Doch das war nicht der Fall.

    Anfang Oktober erhielt Bauwens einen Brief von der FIFA, der für ihn ganz unerwartet kam. Das Treffen des Exekutivkomitees war auf den November verschoben worden und Bauwens Teilnahme nicht länger erwünscht, wie Schricker am 11. Oktober erläuterte: »Ich muss Dir leider heute eine recht unangenehme Mitteilung machen. Es haben sich im Komitee Stimmen erhoben, dahingehend, dass Deine Teilnahme an der Sitzung des 10. November Anlass zu sehr unerwünschten Erörterungen geben könne.«² Rimet nehme in dieser Frage einen neutralen Standpunkt ein. Er wolle derartige Erörterungen vermeiden, Bauwens aber nicht offiziell ausladen. Es sei wünschenswerter, wenn dieser die Teilnahme »mit einem Dir zusagenden Grund« von sich aus absage. Anschließend könne man die heikle Angelegenheit in Ruhe besprechen und eine Lösung finden. Bauwens war offensichtlich wie vor den Kopf geschlagen. Am 29. Oktober schickte er einen Brief an Rimet, in dem er seine Enttäuschung ausdrückte und sein Verhalten in den zurückliegenden Jahren schilderte.

    Das Schreiben Schrickers, so führte er aus, habe ihm die größte Enttäuschung seines Lebens bereitet. Er habe während der letzten zwanzig Jahre großen Einsatz für den internationalen Fußball gezeigt, sei selbst während des Krieges mehrfach nach Zürich gekommen, habe sich für den internationalen Charakter der FIFA eingesetzt und auch als Schiedsrichter fungiert. Im deutschen Sport habe er sich zwar seit 1908 engagiert, sei aber nach 1933 ohne Funktion gewesen und habe seine Anerkennung im Verband des Weltfußballes gesucht. Dort sei er trotz deutlicher Widersprüche aus Deutschland Präsident der Schiedsrichter- und Regel-Kommission geworden, habe sich gegen die Gründung eines eigenständigen flämischen Fußballverbandes unter den Nationalsozialisten ausgesprochen und deutsche Übergriffe auf die FIFA zu verhindern versucht. Zusätzlich verwies Bauwens auf seine jüdische Ehefrau, die 1940 wegen der nationalsozialistischen Rassenpolitik Selbstmord begangen habe. Er selbst habe gegen Ende des Krieges große Angst um seine Kinder gehabt und sie vor einem Konzentrationslager verstecken müssen, denn er habe sich geweigert, sie zu arisieren.

    Angesichts dieser Erlebnisse und vor allem wegen seiner Verdienste für die FIFA hätten Rimet und Schricker sich vor ihn stellen müssen, zumal letzterer ihn wegen seines Verhaltens im Kriege sogar als möglichen Nachfolger des Präsidenten des Weltfußballverbandes bezeichnet habe. Generell sei es nur zu verständlich, dass die Deutschen verhasst seien. Doch im Bereich des Sportes müsse man einen Unterschied machen, wie die Amerikaner, Engländer, Franzosen und Belgier, die ihn bereits aufgesucht hätten. Die englischen Militärbehörden hätten ihm sogar zweimal eine Position als Bürgermeister angeboten und ihn gebeten, den Sport wieder aufzubauen. Die FIFA hingegen betrachte ihn als Nazi, obwohl seine eigenen Mitbürger ihn während des Nationalsozialismus bekämpft hätten und er in Verbindung zum Attentat vom 20. Juli gestanden habe. »Wäre ich nicht«, so Bauwens, »der schlechteste Mensch der Welt, wenn ich auch nur die kleinsten Handlangerdienste für diejenigen getätigt habe, die meine Frau auf dem Gewissen haben? Wäre dem so, sollten sie mich mit Schimpf und Schande aus der FIFA herauswerfen«.³

    Ganz so eindeutig und ohne Makel, wie von Bauwens geschildert, war sein Verhalten unter dem Nationalsozialismus allerdings nicht. Es trifft zu, dass er sich für die FIFA eingesetzt hatte, doch seine Verbindungen zu den nationalsozialistischen Funktionären waren ebenfalls recht eng gewesen. Das war insofern zwangsläufig, als Bauwens das nationalsozialistische ›Fachamt Fußball‹, die Nachfolgeorganisa tion des DFB, in der FIFA vertrat und dadurch bestens informiert war. Dabei stand er mit zwei hohen Funktionären des nationalsozialistischen Sportes in enger Verbindung: mit Guido von Mengen, Stabsleiter im Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen, und Georg Xandry, Geschäftsführer des ›Fachamts Fußball‹. Im Sommer 1940 erhielten seine Gespräche mit diesen beiden eine neue Stoßrichtung. Zu diesem Zeitpunkt waren die Angriffe auf Polen im Osten sowie die Niederlande, Belgien und Frankreich im Westen abgeschlossen. Die Nationalsozialisten schienen unbesiegbar, und überall entstanden Planungen, um das Nachkriegseuropa zu gestalten. Das betraf auch den internationalen Fußball, zumal die FIFA nur beschränkt handlungsfähig war und geschwächt schien. Die für den 11. Mai 1940 angesetzte Sitzung des Exekutivkomitees musste ausfallen, ebenso wie der für den Herbst geplante FIFA-Kongress. Stattdessen sollte ein Notausschuss mit Jules Rimet und seinen Stellvertretern Giovanni Mauro (Italien) und Rudolphe Seeldrayers (Belgien) die Geschäfte übernehmen. Das gefiel Bauwens überhaupt nicht. Die Mitglieder des Ausschusses seien schwer zu erreichen und dieses Gremium deshalb kaum handlungsfähig. Ohnehin sei angesichts »der ohne Zweifel eintretenden neuen Weltlage … eine Umgestaltung« der internationalen Verbände erforderlich.

    Wie genau diese Neuordnung aussehen sollte, ist schwer zu bestimmen. In seinen Schreiben an Schricker beschwerte Bauwens sich mehrfach darüber, dass in der FIFA jeder Landesverband nur eine Stimme besitze, unabhängig von dessen Mitgliederzahl und seinen Zahlungen. So seien »eine Reihe von kleinen Staaten, die alle zusammen noch nicht einmal das aufbrachten, was zum Beispiel Deutschland allein an Beiträgen gab, in der Lage … (gewesen), den ganzen Kongress zu majorisieren«.⁴ Auch beklagte er eine Mehrheit französisch sprechender Länder in der Leitung der FIFA sowie im Regelausschuss (International Board) ein Übergewicht der britischen Vertreter, die aus historischen Gründen mit Schottland, England, Wales und Nordirland im Weltverband gleich vier der sechs Mitglieder zählten. Demgegenüber wollte er den deutschen Einfluss stärken, da der DFB einer der größten Verbände sei.

    Diese Bestrebungen fanden Unterstützung bei den nationalsozialistischen Funktionären, die sich ebenfalls bemühten, dem deutschen Sport größeren Einfluss in internationalen Verbänden zu verschaffen. Inwieweit Bauwens hier aber vor allem eine Stärkung des deutschen Fußballs und seines persönlichen Einflusses anstrebte, oder ob er eine explizit nationalsozialistische Zielsetzung verfolgte, ist schwer zu entscheiden. Dafür sind die Unterlagen nicht aussagekräftig genug, zumal er keine Möglichkeit besaß, seine Pläne voranzutreiben oder sie gar zu verwirklichen. Schricker verwies mehrfach auf die Statuten, denen zufolge keine Beschlüsse gefasst werden konnten, solange der Krieg anhielt. Erst danach sei klar, wie sich die FIFA zusammensetzen werde, und erst danach könne ein Kongress einberufen werden, der alleine die Zuständigkeit besitze, Änderungen zu beschließen. Dies musste Bauwens einsehen, der zugleich die nationalsozialistischen Funktionäre davor warnte, zu großen Druck auf die FIFA auszuüben. Wenn dieser von Deutschland ausgehe, werde die FIFA in kleinere Einheiten zerfallen und dadurch der Einfluss Englands noch größer werden.⁵ Schricker gegenüber betonte er zudem ausdrücklich die große Bedeutung internationaler Verbände und damit die FIFA, an die in »keiner Weise getastet werde« solle.⁶

    Wie oft bei derartigen Aussagen und den Angaben im Schreiben an Rimet fällt es schwer zu entscheiden, inwieweit sie taktischer Natur waren, den jeweiligen Adressaten nach dem Mund redeten, die tatsächliche Position des Verfassers ausdrückten oder ihn bloß in gutem Licht erscheinen lassen wollten. Letzteres trifft ganz offensichtlich für die Angabe Bauwens zu, er sei mit dem Widerstand vom 20. Juli verbunden gewesen. Derartige Aussagen waren in der Nachkriegszeit verbreitet. Fast alle Deutschen, zumal diejenigen in prominenter Position, mussten ihr Verhalten unter dem Nationalsozialismus rechtfertigen und zeichneten ein geschöntes Bild. Die weitaus meisten davon hatten sich nach 1933 wie Bauwens mit den neuen Machthabern arrangiert und vielfach mit ihnen zusammengearbeitet, ohne dabei jedoch in die nationalsozialistischen Verbrechen näher einbezogen zu sein. Die Baufirma, die er zusammen mit seinem Bruder leitete, war allerdings an Arbeiten für den sog. Westwall beteiligt und hat Zwangsarbeiter beschäftigt, ohne dass im Moment Näheres darüber bekannt ist, welche Rolle Bauwens persönlich spielte.

    Seine Tätigkeit bei der FIFA ist ein gutes Beispiel für das ambivalente Verhalten, das in der Zeit des Nationalsozialismus vielfach anzutreffen war. Auf der einen Seite hat Bauwens mehrfach Vorstöße unternommen, um bei der FIFA seine eigene Position und die des ›Fachamts Fußball‹ zu stärken. Dabei war er jedoch nicht sehr erfolgreich, sei es mangels Gelegenheit oder wegen besserer Einsicht. Paral lel dazu hat er sich für die FIFA engagiert, zumal in den letzten Kriegsjahren eng mit deren Generalsekretär zusammengearbeitet und sich Sorgen um ihre Situation gemacht. Dadurch war anscheinend ein Vertrauensverhältnis entstanden, was sowohl die Einladungen unmittelbar nach Ende des Krieges wie auch Bauwens Enttäuschung über die Ausladung erklärt. Sein vorübergehend zumindest dubioses Verhalten gegenüber dieser Organisation hatte er offensichtlich verdrängt oder als Nebensache betrachtet. Vor allem jedoch schien er nicht zu erkennen, dass es mittlerweile nicht mehr um ihn persönlich ging. Er war vielmehr der Repräsentant eines Deutschland, das den Zweiten Weltkrieg verursacht und in dessen Verlauf schreckliche Verbrechen begangen hatte. Dass er als Vertreter dieses Landes nicht einfach in der FIFA weiterarbeiten konnte, als sei nichts geschehen, lag auf der Hand.

    Wie die anderen Nationen allerdings mit Deutschland fortan umgehen und vor allem, wie die Deutschen sich selbst verhalten würden, war unklar und hing von zahlreichen Faktoren ab, die um die Frage kreisten, wann und wie das geteilte Deutschland wieder in die internationale Gemeinschaft aufgenommen werden sollte. Nach dem Ersten Weltkrieg hat dies lange gedauert, und die damit verbundene Ausgrenzung hat dem aggressiven deutschen Nationalismus Auftrieb gegeben und zum Scheitern der Weimarer Republik beigetragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte Konsens darüber, dass diese Entwicklung sich nicht wiederholen dürfe. Darüber jedoch, wie sie zu verhindern war, bestanden unterschiedliche Auffassungen. Fest stand lediglich, dass die Deutschen vorerst aus der Völkergemeinschaft ausgeschlossen waren. Sie mussten deshalb Wege sowie Verbündete für Ihr Bemühen finden, dorthin wieder zurück zu kehren.

    Die Bemühungen um die Wiederaufnahme in die FIFA

    Über den Ausschluss Deutschlands (und Japans) aus der FIFA entschied deren Exekutivkomitee auf seiner Sitzung in Zürich am 10.–12. November 1945. Dafür genügte eine formale Begründung, denn die Alliierten hatten den ›Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen‹ und dessen ›Fachamt Fußball‹ aufgelöst, so dass keine offizielle Organisation des deutschen Fußballs mehr bestand, die ihn in der FIFA vertreten konnte. Deren Mitglieder durften fortan weder auf nationaler noch auf Vereinsebene gegen deutsche (oder japanische) Mannschaften antreten. Ebenso wurden die Funktionäre dieser Länder der FIFA-Ämter enthoben und ihre Schiedsrichter von deren Liste gestrichen. Die Aufgaben für die Vertreter des deutschen Fußballs waren damit klar. Um wieder in die FIFA aufgenommen zu werden, mussten sie genügend Länder dafür gewinnen, sich für eine Wiederaufnahme einzusetzen, und sie mussten eine Organisation schaffen, welche die Alliierten offiziell anerkannten. Denn nur eine derartige Organisation war in der Lage, einen Antrag auf Wiederaufnahme zu stellen. Schon dieser Zusammenhang lässt verstehen, warum Funktionäre wie Bauwens sich massiv dafür einsetzten, den DFB wieder zu gründen, da dieser die entscheidende Eintrittskarte für die FIFA war.

    Der Wiederaufbau des Spielbetriebs in Westdeutschland verlief – wie erwähnt – sehr rasch, erst innerhalb der einzelnen Besatzungszonen, bis schließlich 1949/50 der DFB neu entstand. Wie in anderen Bereichen haben die Westalliierten es dadurch den Deutschen auch im Fußball ermöglicht, wieder selbständig zu handeln. Nicht zuletzt der aufkommende Kalte Krieg sprach dafür, möglichst bald in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stabile, demokratische Strukturen zu schaffen. Angesichts der zunehmenden Konfrontation mit der Sowjetunion lag es nahe, Westdeutschland stärker in das System der Alliierten einzubeziehen und zumindest seine wirtschaftliche Kraft zu nutzen. Allein schon die erheblichen Besatzungskosten erforderten es, sich zurückzuziehen. Zusätzlich sprachen auch die Erfahrungen der Weimarer Republik dafür, die entstehende Bundesrepublik bald als eigenständigen Partner in internationale Zusammenhänge einzubinden. Sie sollte dadurch neue Handlungsmöglichkeiten erhalten und zugleich durch ein dichtes Geflecht von Verträgen, Institutionen und Handelsbeziehungen kontrolliert werden. Dieser Prozess zog sich über mehrere Jahre hin und war unter den Alliierten umstritten, von denen sich die USA früh und deutlich, Frankreich hingegen zögerlich dafür aussprach und zudem im Saarland eine

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