Frank Mill: Das Schlitzohr des deutschen Fußballs
Von Frank Lehmkuhl
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Buchvorschau
Frank Mill - Frank Lehmkuhl
2017
KAPITEL 1
Als Chef in schwieriger Mission
Die Olympischen Spiele 1988
Die 20 jungen Männer, die an einem lauwarmen Augustabend des Jahres 1988 am Frankfurter Flughafen in eine Boeing 747 Richtung Osten einsteigen, stehen vor einer ungewissen, ja womöglich sogar gefährlichen Reise. Hitze wird sie empfangen, das wissen die prominenten Jungspunde bereits, darüber hinaus eine konstant schweißtreibende hohe Luftfeuchtigkeit und ein Potpourri aus neuen Gerüchen, Geräuschen und Farben. Vielleicht warten am Zielort Mahlzeiten, die noch auf den Tellern herumkrabbeln, unter Umständen auch Killerviren, Kriminelle oder kriechendes Giftgetier. Kurzum: Die Truppe geht auf Jugend-forscht-Mission und hat keinen Schimmer, was ihr blüht.
Reisen ist ein Abenteuer in den achtziger Jahren, viel mehr noch als in den Jahrzehnten, die folgen werden. Das Deutschland, aus dem die physisch gestählten Männer an diesem Abend abfliegen, ist durch eine Mauer und schwerbewaffnete Sicherheitskräfte von eingesperrten Landsleuten getrennt. Das Exotischste an der Bundesrepublik sind seine Dönerläden, China-Imbisse und ein paar multikulturelle Bahnhofsviertel, in die sich gemeinhin kein hochbezahlter Promi verirrt.
Auch weite Teile des europäischen Kontinents sind für viele Deutsche unerforschtes Terrain, mit Staaten, die sich mittels Grenzzäunen, Schlagbäumen und bewaffnetem Militär voneinander abschotten, vor allem im östlichen Zipfel. Der Super-GAU von Tschernobyl, zwei Jahre zurückliegend, hat aus der Sowjetunion die Angst vor Atomkatastrophen importiert. Aids wächst sich von Westen kommend zur neuen grenzüberschreitenden Bedrohung aus. Und selbst von den im sonnigen Süden beheimateten Urlaubsländern Frankreich, Spanien und Italien kennt der gewöhnliche deutsche Tourist mit Badelatschen und blutroter Birne in der Regel nicht viel mehr als das hotelnahe Kneipenviertel mit Schlagermucke und Schnitzel.
Wer sich informieren will über das, was auf dem Globus sonst noch so abgeht, der zappt durch eine Handvoll grobkörniger Fernsehprogramme, schaut Dokumentationen öffentlich-rechtlicher Fernsehsender oder blättert beim Schlückchen Kaffee in seiner Morgenzeitung. Bei Fußballern hat dieses Stück Papier im Normalfall vier fette Buchstaben auf dem Titel und augenfreundlich wenig Text. Meistens bleibt man eh beim Sportteil oder dem ordentlichen Stück Haut auf der Titelseite hängen.
In dieser Welt, die noch so ganz anders ist als die heutige, ahnt kaum jemand, welche völkerverbindenden Kommunikationswundergeräte bald die Menschheitsgeschichte revolutionieren werden. Zum Telefonieren steuert man einen der engen, stickigen Glaskästen mit seinen versifften Nummernbüchern an der Straßenecke an oder greift zum klobigen Apparat mit Schnur, der bei den meisten Menschen im Flur auf einem Tischchen steht. Würde man unseren durchtrainierten Jungs am Gate des Frankfurt Airport prophezeien, dass in einigen Jahren kleine Hochleistungscomputer auf den Markt kommen, mit denen sie überall kabellos telefonieren und auch sonst sämtliche Alltagsprobleme bis auf die Toilettengänge lösen können, würden sie mit ziemlicher Sicherheit antworten: »Ist klar, Kollege, und wann schweben die kleinen grünen Männchen ein?« Die Hippsten unserer Reisenden tragen als Tribut an die Postmoderne ein schwarzes Ding mit in den Flieger, in das man eine Kassette einlegen kann, deren blecherner Klang dann über schmucklos-schwarze Kopfhörer in die Gehörgänge dringt. Mit diesem Achtziger-Jahre-Kultobjekt namens Walkman geht es rein in die Maschine.
Das große Abenteuer führt die jungen Männer nach Südkorea. Verursacht schon allein die Unkenntnis der landesspezifischen Besonderheiten bei unseren Hauptdarstellern nervöses Magengrummeln, so versteckt sich die vermutlich gefährlichste Bedrohung für sie jedoch in der Zielvorgabe fürs Zielland: Sie sind Bundesligakicker und sollen bei den Olympischen Sommerspielen Fußball spielen. Guten Fußball. Erfolgreichen Fußball.
Das ist ein ausgewachsenes Problem.
Denn guten und erfolgreichen Fußball haben deutsche Mannschaften bei Olympischen Spielen noch nie gespielt.
Vor vier Jahren, bei den Wettkämpfen von Los Angeles, waren die schwarz-rot-goldenen Medaillenjäger unter Leitung von Erich Rib-beck krachend vor 100.000 Menschen in Pasadena im Viertelfinale gescheitert. Resultat gegen Jugoslawien seinerzeit: 2:5. Der Einzug in die Runde der letzten acht markiert indes bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich das beste Ergebnis der stolzen Fußballnation Deutschland in der langen Geschichte des attraktivsten Sportturniers der Welt. Selbst 1972, bei den Spielen im eigenen Land im Olympiastadion zu München, schied das deutsche Team nach einem 1:4 gegen Ungarn und einem 2:3 gegen die DDR früh in der Zwischenrunde aus.
Wobei der Fairness halber natürlich angeführt werden muss, dass aufgrund der restriktiven Olympia-Statuten für Fußballteams bis zum Jahr 1984 immer nur Amateurmannschaften aufgestellt werden durften. Erst mit den Sommerspielen in den Vereinigten Staaten kam die Erlaubnis hinzu, Profis zu nominieren. Voraussetzung: Diese Spieler waren zuvor noch nie bei einer Weltmeisterschaft an den Start gegangen. Für das Projekt Seoul macht Trainer Hannes Löhr vom neuen Recht regen Gebrauch. Er holt durchweg hungrige Fußballer in seinen Kader. Spieler, die noch nicht viel gewonnen haben.
Dank des aufgepeppten Personals verstecken sich durchaus Ambitionen auf diesem Flug mit im Gepäck – neben Sonnenmilch, viel Sonnenmilch, denn das ein oder andere Kadermitglied rechnet damit, dass es vor und nach den Spielen genug Zeit haben wird, sich einen goldbraunen Teint zuzulegen. Warum auch sollte man sich vor dem Hintergrund der eher dürftigen deutschen Olympia-Historie einen mit Druck und Erwartungen gefüllten Rucksack aufsetzen?
Michael Schulz ist so ein Kadermitglied. Einen Tag vor dem Abflug hatte ihn der Chefcoach angerufen. Schulz, fast zwei Meter lang, das schwer zu bändigende Langhaar zu einem Pferdeschwanz gebunden, die Sonnenbrille hochgesteckt ins blonde Dickicht, war eigentlich längst im Urlaubsmodus. »Langer, kannste morgen mit?«, fragte Löhr durch den Hörer. »Klar, Trainer«, antwortete der Lange.
Jetzt sitzt Schulz mit im Lufthansa-Vogel, ausreichend Creme fürs Freizeitprogramm in den Taschen, ein breites Grinsen zwischen den Wangen. Der Schlaks mit den langen Gräten agiert beim 1. FC Kaiserslautern als linker Verteidiger und hat eine ganz gute Bundesligasaison hinter sich. Allerdings ist er mit seinen bereits 27 Jahren erst seit gut einem Jahr Fußballprofi. Vor seiner Zeit in der Pfalz hatte Schulz in Oldenburg gekickt und nebenher als Ausbilder bei der Polizei gearbeitet, da er gar nicht mehr damit gerechnet hatte, dass das mit einer Vollbeschäftigung in seinem geliebten Ballsport noch mal was wird. Dann kam der Anruf vom 1. FC Kaiserlautern. Es war der Auftakt zu einer ganzen Reihe schöner Überraschungen, die wahrscheinlich auch etwas mit seinem unerschütterlichen Optimismus zu tun haben.
Dieser zeigt sich immer wieder bei ihm, in nahezu jeder Lebenslage. Als der Olympia-Kader bekanntgegeben wurde, verfolgte der Lange die Zeremonie gemeinsam mit Freunden vor der Mattscheibe. Er hatte eine Party zu seinem Geburtstag organisiert. »Jungs, es könnte sein, dass ich doch noch mitfahre, passt mal auf«, sagte Schulz zu den Vertrauten, als sein Name nicht über den Bildschirm flimmerte. Der große Mann mit der großen Lockerheit sollte recht behalten. Er ist nun doch dabei.
Nicht weit von Michael Schulz entfernt sitzt Ralf Sievers, auch er 27, defensiver Mittelfeldspieler von Eintracht Frankfurt. Bei der Eintracht hat das 1,75 Meter kleine Kraftpaket eine gute Saison hingelegt, die Hessen wurden mit Antreiber Sievers DFB-Pokalsieger. Wirklich damit gerechnet, Teil des Olympia-Teams zu werden, hatte indes auch der Frankfurter nicht. Bei den Qualifikationsspielen fürs Turnier war er zwar immer mit von der Partie gewesen, aber immer nur als unverzichtbarer Warmhalter der Ersatzbank. Auch ihn rief Löhr einen Tag vor dem Abflug an, weil der Bremer Uli Borowka ausgefallen war. »Ralf, wie sieht es aus bei dir?«, fragte Löhr durch den Hörer. Es sah gut aus bei Ralf. Auch er packte rasch und begab sich zum Flugzeug.
Eine kunterbunt zusammengewürfelte Combo macht sich da somit über den Wolken auf den Weg ins Asiatische. Dass diese Gemeinschaft auch sportlich sonnigere Aussichten hat als ihre meist in fußballerische Peinlichkeiten verstrickten Vorgänger, das liegt vor allem an einigen der Öffentlichkeit besser bekannten Gesichtern, die nun ebenfalls über die Flugzeugsessellehnen blicken.
Da hockt zum Beispiel Jürgen Klinsmann, blonder Nachwuchsstar vom VfB Stuttgart, im vergangenen Jahr aufgefallen durch ein Weltklasse-Fallrückziehertor gegen den FC Bayern München, in der gerade abgelaufenen Saison mit 19 Buden Torschützenkönig der Bundesliga geworden.
Thomas Häßler fliegt mit, der kleine Dribbelkönig vom 1. FC Köln, ein Meister der Haken, der Standardsituationen und der Spielstrategie.
Karl-Heinz Riedle hat es sich bequem gemacht in einem der Flugzeugsitze, das Kopfballwunder vom SV Werder Bremen, Trefferbilanz in der Saison: 18 Tore.
Wolfram Wuttke blickt über den Wolken durchs Fenster, die Zaubermaus mit dem grandiosen rechten Fuß, die jeden Außenspannstoß in einen Gänsehautmoment verwandelt.
Und dann sitzt da ja auch noch Frank Mill, seit zwei Jahren zuverlässiger Topstürmer von Borussia Dortmund. Vor etwa zehn Jahren war sein Stern am Fußballhimmel über dem im Industriedunst liegenden Essen aufgegangen, wo er bei Rot-Weiss Essen zusammen mit Horst Hrubesch und Willi Lippens Angst und Schrecken bei den Gegnern verbreitet hatte. Seitdem hat er in jeder Bundesligasaison bestens gewusst, wo das gegnerische Tor steht. Mit 30 Jahren befindet er sich jetzt im Zenit seines Könnens. Das »Schlitzohr«, wie Frank wegen seiner frappierenden Treffsicherheit genannt wird, hat ausreichend Erfahrung gesammelt, um auch fernab von zu Hause sein Näschen in Strafraumsituationen beweisen zu können. Vor dem Abflug hat er noch schnell einmal mit seiner Dortmunder Borussia trainiert, hat seine Ehefrau Beate und seine kleinen Kinder Kevin und Vanessa zu Hause in den Arm genommen und sich im Zug auf den Weg nach Frankfurt gemacht. Weiter, immer weiter. Es ist ein Sommer, in dem er sowieso selten zu Hause weilt und ständig als Dienstreisender mit dem ausdrücklichen Auftrag, Tornetze auszubeulen, andere Stadien ansteuert.
Klinsmann, Mill und Wuttke waren einige Wochen zuvor bei der EM in Deutschland am Start gewesen, als die Nationalelf im Halbfinale die bittere 1:2-Niederlage gegen die Niederlande kassiert hatte. Mill hatte gegen den Erzrivalen 79 Minuten gespielt, glücklos, sich oft an der vielbeinigen Oranje-Abwehr die Zähne ausgebissen. Alle drei sind heiß nach dieser Schmach, und sie sind froh, schon wenige Wochen nach dem Heimdesaster eine weitere große Chance zu bekommen. Riedle, Häßler und der Mittelfeldspieler Holger Fach hatten ein paar Wochen vor den Olympischen Spielen in der A-Nationalmannschaft debütiert. Das Sextett weckt zarte Hoffnungen auf ein passables Turnier – und es lässt fast vergessen, dass eine ganze Ansammlung von Stars wegen Verletzungen passen muss, darunter Torwart Andreas Köpke, das Mittelfeldass Michael Zorc sowie Stürmer Dieter Eckstein.
Südkorea ist ein spannendes Land, seit Ende der vierziger Jahre getrennt auf dem 38. Breitengrad von seinem kommunistischen Bruder Nordkorea. Das Austragungsland des größten Sportereignisses der Welt befindet sich geradewegs auf dem Weg zu marktwirtschaftlichen Reformen, auf dem Weg auch zu einer langsamen Demokratisierung. Zwar wird der Staat seit Anfang der sechziger Jahre von autoritären Präsidenten regiert. Doch seit einem Machtwechsel von Park Chung-hee zu Chun Doo-hwan hat sich größerer innenpolitischer Druck entfacht. Eine Gegenbewegung unter den beiden Oppositionsführern Kim Young-sam und Kim Dae-jung führte dazu, dass im Juni 1987, also gut ein Jahr vor Beginn der Olympischen Spiele, freie Wahlen abgehalten werden konnten. Der Kandidat der herrschenden Regimekoalition, Roh Tae-woo, gewann, aber da es ihm gelang, das Militär zu zähmen und in die politische Arbeit einzubinden, konnte der Boden bereitet werden für die erste Machtübernahme eines Zivilisten einige Jahre später. Reformen im Militär und im Geheimdienst, in der Justiz und in der Verwaltung sowie in der Parteiengesetzgebung und bei der Wahlordnung stehen an.
Parallel dazu entwickelt sich der Staat zum industriellen Schwellenland, zu einem der sogenannten Tigerstaaten, die als Vorbilder für Entwicklungsländer herhalten. Die Regierung lenkt die heimische Wirtschaft mit strikten Vorgaben, schützt den Binnenmarkt mit Zöllen. Auf dieser Protektionsbasis mausern sich viele Unternehmen in der Zusammenarbeit mit China, den USA oder Japan zu exportorientierten großen Playern, unter den Einheimischen »Jaebeols« genannt. Elektronik, Halbleiter, Autos, Schiffbau – Firmen des Landes sind auf vielen Gebieten erfolgreich. Die Wirtschaft verzeichnet ein jährliches Wachstum von fast neun Prozent. Das schafft Arbeitsplätze, die Nachfrage nach Industriearbeitern steigt rapide. Zudem gelingt es den Machthabern, die sozialen Gräben nicht zu tief und Einkommensunterschiede nicht zu groß werden zu lassen. Als die Welt 1988 am Vorabend der Olympischen Spiele mit Kameras und Fernsehsatelliten auf Südkorea blickt, verwandelt sich der Staat, der einst zu den ärmsten Agrarländern zählte, gerade zu einer der zwölf größten Industrienationen der Welt. Die wirtschaftliche Transformation nennen viele Bewohner Südkoreas »Das Wunder vom Hangang« in Anspielung auf den gleichnamigen Fluss, der durch die Hauptstadt Seoul fließt.
Der zweitgrößte Ballungsraum dieses prosperierenden Staatsgebildes mit seinen mehr als 40 Millionen Einwohnern ist Busan. 3,5 Millionen Menschen leben dort. Die Stadt liegt an der Küste des Japanischen Meeres, ist berühmt für ihre Buchten und sanften Hügellandschaften im Herzen der Metropole, alle zwischen 100 und 400 Meter hoch. Nach rund zehn Stunden landen unsere Fußballhelden in spe im Lufthansa-Flugzeug in Seoul. Anschließend holpern sie etwa vier Stunden lang in einem Klapperbus weiter in eben dieses Busan. Ziel dort: das Best-Western-Hotel. Es gibt Zweibettzimmer für die Fußballer. Erste Zeit zum Beschnuppern. In Busan wird die deutsche Olympia-Auswahlmannschaft ihre Vorrundenspiele absolvieren.
Nur zwei Tage Vorbereitung haben die jungen Männer bis zum ersten Spiel, aber das ist wahrscheinlich ganz gut so, weil kaum Zeit besteht, über den Jetlag, mögliche Starallüren oder sonstige Dinge nachzudenken, die den Ballfluss bremsen könnten. Schon kurz nach der Ankunft bittet Löhr zum ersten Training auf ein erfreulich gepflegtes Stück Grün in der Nähe des Hotels. Und gleich zeigt sich, welches besondere Problem die Tage von Busan prägen wird: Der Schweiß rinnt in diesem Klima schon beim Verlassen der Kabine aus allen Poren. Konditionsarbeit ist kaum möglich, stattdessen setzt Löhr auf viel Ballarbeit, um die Abstimmung zu verbessern und die Konzentration hochzufahren, und schnell eingeleitete Erfrischungsphasen nach den kurzen Einheiten.
Ein bisschen laufen, dehnen, Muskeln lockern, dann ran an den Ball, so sieht das Programm von Löhr aus – und es wird sich in diesen Wochen nicht groß verändern. Fußball ist ein einfaches Spiel in jener Zeit, geprägt von klaren Positionen der Spieler, unmissverständlichen Kommandos, Manndeckung und simplen Taktikanweisungen. Niemand von unseren Jungs kann sich vorstellen, dass ihr Sport in nicht allzu ferner Zukunft von wissenschaftlich sozialisiertem Trainerpersonal dominiert werden würde, von Coaches, die mit Maßanzügen und Laptops an der Linie stehen, mit GPS-Chips an den Fußballerkörpern jede Bewegung vermessen, anhand der Pupillengröße des Kickers dessen Handlungsschnelligkeit erkennen und die von Zweit-, Dritt- und Vierttrainern für jeden Muskel und jede Synapse im Kopf der Profis begleitet werden. Polyvalente Spieler? Abknickende Sechser? Falsche Neuner? Eine Doppelsechs, die zur Acht wird? Brutales Gegenpressing mit Laufleistungen von bis zu 13 Kilometern? Abklemmen eines Gegenspielers? Hannes Löhr kennt das alles nicht. Er sagt seinen Schützlingen, wo sie hinlaufen sollen und dass der linke Verteidiger des Gegners einen schwachen rechten Fuß hat, der keine Flanken verhindert. Oder dass die Bälle hinten in Bedrängnis auch mal auf die Tribüne gedroschen werden müssen. Das alles muss reichen, um einem Kontrahenten zu zeigen, dass gegen die deutsche Mannschaft nichts zu ernten ist.
Aber erst einmal heißt es: eintauchen in die neue Kultur, behutsam und wohldosiert. Kaum sind die Bälle im Schrank verstaut, machen sich die Kicker auf zu einem der traditionellen Märkte der Stadt und gehen gemeinsam essen. Was sie vorfinden, offenbart keine Spur von einer kulinarischen Hölle, alle Befürchtungen im Vorfeld waren unnötig. Es gibt Reispfannen allerorten, gefüllt mit frittiertem Huhn und frischem Fisch. Die in die Zukunft strebende Stadt verfügt über Shoppingmalls, Leuchtfassaden ohne Ende, Steakrestaurants nach amerikanischem Vorbild. In Berlin oder Hamburg sieht es an vielen Ecken auch nicht anders aus.
Am nächsten Tag starten die Segler im Hafen von Busan ihre Wettbewerbe. Eine gute Gelegenheit, erstmals Olympialuft zu atmen. Besonders Ralf Sievers zieht es ans Wasser, er stammt aus Lüneburg, hat viele Bootsfreunde im Bekanntenkreis. Sievers nimmt einige Jungs mit, auch Frank Mill. Die Stimmung ist gut, man fühlt sich wohl. Die Akklimatisierung hat begonnen.
Frank ist überglücklich, zum zweiten Mal in seinem Leben bei den Olympischen Spielen zu sein. Schon in Los Angeles war er mit von der Partie und hat jede Sekunde genossen. Damals pilgerten selbst bei Spielen mit zweit- oder drittklassigen Nationen bis zu 100.000 Menschen in die Arenen – ein unvergessliches Erlebnis. Man kam im olympischen Dorf mit Sportlern aller Couleur in Kontakt, was mitunter auch zu prekären Momenten führte. So stand Frank beispielsweise daneben, als Dieter Schatzschneider, deutscher Topstürmer mit der Statur eines Bären, einem in der Mensa vorbeilaufenden Boxer, der gerade eine Medaille abgeräumt hatte, eine abfällige Bemerkung über dessen leicht derangierte Nase zurief (»Der ist wohl vor eine Bahnschwelle gelaufen«), worauf der muskulöse Athlet auf den Fußballer zusteuerte, um die Verbalattacke mit einem satten Hieb auf dessen Riechkolben zu kontern. Nur Franks mutigem Einschreiten hatte es Schatzschneider zu verdanken, dass seine Nase von größeren medizinischen Korrektureingriffen nach den Olympischen Spielen verschont blieb.
Mill hat also jede Menge Erfahrungen mit dem Flair, das die Spiele so speziell macht. Er geht vorneweg, will die Atmosphäre erneut aufsaugen. Er gibt die Richtung vor, wenn Teamkollege Wolfram Wuttke hinter ihm steht und ihm die Frage ins Ohr ruft: »Chef, was machen wir heute?«
Chef. Die Bezeichnung passt. Frank ist zur natürlichen Autorität gereift in der Bundesliga. Er hat einige hundert Ligaspiele auf dem Buckel, hat in Essen aufstrebende Stürmer weggebissen, in Mönchengladbach und nun in Dortmund.
In der öffentlichen Wahrnehmung gilt Frank Mill als einer von Deutschlands absoluten Topangreifern. Als einer, der nie aufgibt und den Fans immer das Gefühl vermittelt, dass sie