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"Lebbe geht weider": Das Leben des Dragoslav Stepanović
"Lebbe geht weider": Das Leben des Dragoslav Stepanović
"Lebbe geht weider": Das Leben des Dragoslav Stepanović
eBook296 Seiten3 Stunden

"Lebbe geht weider": Das Leben des Dragoslav Stepanović

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Über dieses E-Book

Dragoslav Stepanovic ist eine der interessantesten Persönlichkeiten der Bundesliga-Geschichte. Ins Gedächtnis der Fans hat er sich vor allem als 'bunter Hund' und Sprücheklopfer eingeprägt. Peter Moschinski und Martin Thein zeichnen in dieser autorisierten Biografie ein Bild, das sich fundamental von seinem Image als 'Hansdampf in allen Gassen' unterscheidet. Der Leser lernt einen aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Fußballer kennen, der es mit viel Talent und Disziplin geschafft hat, zu einem der besten Spieler seiner Zeit aufzusteigen. Er lernte internationale Fußballhelden wie den großen Pelé kennen, bei dessen Abschiedsspiel er mitwirkte. Zur Kultfigur der Bundesliga wurde Stepanovic als Trainer bei der Frankfurter Eintracht, die er 1992 beinahe zur Meisterschaft geführt hätte. Letztlich waren es aber die Niederlagen und der Umgang mit ihnen, die den Menschen 'Stepi' sichtbar machten. Nie hat er gejammert oder mit dem Schicksal gehadert, stattdessen ging das 'Lebbe weider'.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. Apr. 2013
ISBN9783730700242
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    Buchvorschau

    "Lebbe geht weider" - Martin Thein

    Peter C. Moschinski / Martin Thein

    »Lebbe geht weider«

    Das Leben des Dragoslav Stepanović

    VERLAG DIE WERKSTATT

    Trotz intensiver Recherchen konnte nicht in allen Fällen die Urheberschaft an den Fotos ermittelt werden. Der Verlag bittet um entsprechende Hinweise, um berechtigte Ansprüche abzugelten.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Copyright © 2013 Verlag Die Werkstatt GmbH

    Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen

    www.werkstatt-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt

    Umschlagfotos: Heidi Marinowa (Titel und

    Autorenporträts)

    ISBN 978-3-7307-0024-2

    Inhalt

    Kapitel 1   Versprochen ist versprochen

    Kapitel 2   Belgrader Tage

    Kapitel 3   Eintracht – Vom Beginn einer Liebe

    Kapitel 4   Einmal Worms und zurück bitte!

    Kapitel 5   Lehrjahre

    Kapitel 6   Der große Blonde

    Kapitel 7   Holz

    Kapitel 8   Rostock

    Kapitel 9   Manege frei!

    Kapitel 10  Am Golf von Biskaya

    Kapitel 11  Die Rückkehr

    Kapitel 12  Odyssee

    Kapitel 13  Im Unterhaus

    Kapitel 14  Rätselhaftes China

    Kapitel 15  Gebetsstunden am Nil

    Kapitel 16  Noch einmal zu Hause

    Kapitel 17  Abschied

    Kapitel 18  Ein Morgen im Januar

    Anhang

    Interview mit Günter Netzer

    Zeittafel

    Stepis Vereine

    Herzlichen Dank

    Die Autoren

    Stepis Privates Fotoalbum

    Für meine Familie

    meine Eltern Zivomir und Rosa,

    die im Himmel über mich wachen,

    meine Kinder Ivana, Vladimir und Schwiegersohn Slobodan,

    meine Sterne in der Nacht,

    meine Enkel Ksenija und Emilija, Nikola und Nikola,

    unsere Hoffnung für morgen,

    und

    Jelena,

    meine Liebe, mein Freund, mein Alles

    Dragoslav Stepanović

    Kapitel 1

    Versprochen

    ist versprochen

    O Pelé envia abraços e deseja boa sorte.

    (Empfange Umarmungen von Pelé, und viel Glück)

    Höllenlärm. Trommeln dröhnen, Trompetenstöße zerreißen die Luft. Die Luft ist feucht und dicht und getränkt vom Schweiß der Menschen. 182.000 Zuschauer drängen sich an diesem 18. Juli 1971 im Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro, unter ihnen ist auch der Staatspräsident Brasiliens. Überall tanzen fröhliche Menschen, Gruppen von Frauen und Männern. Die Stimmung ist ausgelassen, wie beim Karneval. Transparente mit dem Konterfei ihres Superstars werden in die Höhe gehalten. Viele Menschen haben monatelang gespart, um sich eine Eintrittskarte leisten zu können. Reporter aus aller Welt mit ihren Kameras und Mikrofonen bevölkern den Rasen, sie alle umringen einen einzigen Mann: Pelé.

    Pelé, der größte Stürmer aller Zeiten: dreifacher Weltmeister, mehr als 1.000 Tore, Weltfußballer des 20. Jahrhunderts. Er zelebriert heute sein letztes Spiel für die brasilianische Nationalmannschaft. Als Gegner hat er sich das Nationalteam Jugoslawiens gewünscht, die in seinen Augen besten Fußballer der Welt, natürlich nach den Brasilianern.

    In den Reihen der Jugoslawen steht ein athletischer junger Mann mit kantigem Gesicht und entschlossenem Blick. Die Nummer 3 des Teams zupft an ihren roten Stutzen und versucht sich zu konzentrieren. Es ist Pelés Abschiedsspiel für die brasilianische Nationalmannschaft, aber für ihn ist es der Höhepunkt seiner Karriere als Fußballer: Wie oft spielt man schon gegen den größten Stürmer aller Zeiten? Der Name des jungen Jugoslawen ist Dragoslav Stepanović.

    Die Blaskapelle stimmt die jugoslawische Nationalhymne an. Mit ihren blauen Trikots und weißen Hosen stehen sie eng nebeneinander aufgereiht: Radomir Vukčević, Mladen Ramljak, Blagoje Paunović, Dragan Holcer, Dragoslav Stepanović, Miroslav Pavlović, Branko Oblak, Jovan Aćimović, Ilija Petković, Zoran Filipović und Dragan Džajić.

    Anpfiff. Der deutsche Schiedsrichter Kurt Tschenscher eröffnet die Gala der Superstars. Auf Seiten der Brasilianer spielen all die Helden wie Félix, Everaldo, Rivelino und Gérson, die 1970 die Weltmeisterschaft in Mexiko gewonnen haben. Ihr Coach ist weiterhin Mário Zagallo.

    Die Brasilianer legen los, spielen mit großer Freude, versuchen immer wieder, Pelé in Szene zu setzen. Sie wollen den Fußball an diesem Tag zelebrieren, Pelé zu Ehren. Ihr Gegner dagegen ist verbissen. Sie fühlen sich geehrt, als „Balkan-Brasilianer" eingeladen worden zu sein. Diesem Anspruch wollen sie gerecht werden.

    Dragoslav Stepanović nimmt seine Aufgabe als Verteidiger auch in diesem Freundschaftsspiel sehr ernst. Als Rivelino auf ihn zustürmt, will er ihn stoppen – doch da ist der schon an ihm vorbei, nachdem er Stepanović den Ball lässig, fast schon arrogant durch die Beine geschoben hatte. Höchststrafe. Im weiteren Spielverlauf kommt dies nicht mehr vor, die Weltpresse wird nach dem Spiel Lobeshymnen auf den jungen Verteidiger verfassen.

    Zur Halbzeit, es steht 1:1, verabschiedet sich Pelé unter tosendem Applaus der 182.000 Zuschauer endgültig von der internationalen Bühne der Nationalmannschaft. Alle wollen ihn jetzt berühren, küssen und umarmen. Sie erdrücken ihn fast. Neben Blumen und Pokalen gibt es auch Fernseher und Toaster für ihn, der schon alles hat. Dass das Spiel 2:2 endet, interessiert niemanden mehr.

    73. Minute: Rivelino spielt gerade zu Gérson, da wird der Bildschirm schwarz. Stepi, der in seinem breiten Fernsehsessel sitzt, starrt überrascht auf die Mattscheibe. Er kontrolliert den DVD-Spieler und die Anschlüsse: nichts. Er startet die DVD noch einmal – wieder bricht die Übertragung in der 73. Minute ab. Nichts. Er seufzt. Da war er so lange dem Filmmaterial hinterhergejagt, und jetzt das. Nicht einmal eine vollständige Aufzeichnung vom Spiel seines Lebens hatte er bekommen. Dabei hatte Pelé nach dem Spiel in Rio de Janeiro hoch und heilig versprochen, dass alle Spieler ein Video davon erhalten würden. Nur hatte Pelé nie eines geschickt.

    Also hatte Stepi sich selber darum gekümmert. Im Jahr 2005 kam Pelé wieder einmal nach Deutschland, im Rahmen des Confederations Cup. Brasilien gastierte als amtierender Weltmeister in Frankfurt. Am Vortag des Endspiels zwischen Argentinien und Brasilien kam Pelé am Frankfurter Flughafen an. Stepi hatte trotz fehlender Akkreditierung sämtliche Sicherheitsschleusen passieren können – hier in Frankfurt kannte ihn schließlich jeder.

    Als Pelé eine schwarze Limousine bestieg, in der bereits Franz Beckenbauer und Joseph Blatter saßen, hechtete Stepi ans Fenster und wollte mit Pelé sprechen. Seine Bitten wurden erhört, auf Einladung von Beckenbauer sollte Stepi am selben Abend ins Frankfurter Hotel Hyatt kommen.

    Wenige Stunden später hatte er Pelé dann getroffen. „Hello, my good friend, how are you?", hatte Pelé freundlich gefragt und ihn umarmt. Stepi fragte den Brasilianer, wann er das 1971 versprochene Video bekomme. Pelé war die Verblüffung anzumerken, er versprach aber die prompte Lieferung.

    Bis heute ist keine Post aus Brasilien gekommen. Doch der bei dem Gespräch anwesende HR3-Reporter Rudi Schmalz-Göbels besorgte Stepi eine Aufzeichnung aus den Archiven des SWR. Stepi hatte endlich sein Video.

    Als er nun in seinem Sessel in seinem Haus in Bergen-Enkheim sitzt, werden die Erinnerungen an seine aktive Zeit als Fußballer, seine schönsten und aufregendsten Stunden geweckt, und er hört wieder den Lärm im Stadion von Rio, atmet die feuchte und stickige Luft, spürt die eigene Aufregung und den beschleunigten Herzschlag.

    Schön war es gewesen, und gut gespielt hat er auch. Dann schlief er ein.

    Kapitel 2

    Belgrader Tage

    Wem das Herz hüpft,
    dem ist kein Weg zu weit.

    (Serbisches Sprichwort)

    Kinderträume

    Belgrad, im September 1961.

    Seit Wochen hängt eine Hitzeglocke über der Stadt. Die Schwüle verwandelt die Stadt in eine Dampfsauna. Ein Moloch, stickig und erdrückend.

    „Hängt euch nicht aus der Straßenbahn, ihr Banditen! Das ist gefährlich, verdammt! Und du, du kriegst jetzt deine Strafe!" Der alte Schaffner hat einen der Bengel, die im Fahren auf seine Straßenbahn aufgesprungen sind, am Hosenzipfel erwischt. Das passiert in dieser Zeit beinahe täglich. Sie kommen aus dem Nichts, verstecken sich, pirschen sich vorsichtig an und springen dann auf. Manchmal kann der alte Schaffner sie fast schon riechen. In der Bahn schreien und hüpfen die Jungs meist besessen hin und her. Jeder will den anderen mit irgendeiner Mutprobe übertrumpfen. Mit nur einer Hand halten sie sich an der Dachkante des Waggons fest, Köpfe und Hände in den milden Belgrader Fahrtwind streckend. Mit der anderen Hand halten sie einen Jutebeutel umklammert.

    Es sind stets die gleichen Jungs: Petar, Zoran, Mirko und Dragoslav. Alle sind zwischen zwölf und 14 Jahre alt. Sie stammen aus dem Belgrader Stadtteil Zvezdara, einem der erbarmungslosesten Bezirke in der Donaumetropole. Für viele ist es ein Ghetto.

    Auch heute waren sie wieder unterwegs. Möglichst weit vom Elternhaus entfernt haben sie Fußball gespielt. Sie sind in keinem Verein, sie bolzen da, wo sie geduldet werden, auf Hinterhöfen, in Parkanlagen oder einfach auf der Straße. Die Torpfosten bestehen aus ihren Sportbeuteln oder aus Ästen von den Bäumen. Außenlinien gibt es nicht, auch keinen Schiedsrichter. Knifflige Entscheidungen regeln sie zur Not mit den Fäusten.

    Der Schaffner hat heute den 13 Jahre alten Dragoslav erwischt. Zur Strafe muss er die 25 Stationen der Linie 7 (Zvezdara – Stadtmitte) mitfahren, hin und zurück. Eine Runde dauert über zwei Stunden. Für Fußball ist es anschließend zu spät, die größte Strafe für die Jungen. Der Schaffner schimpft noch immer vor sich hin, nennt ihn einen streunenden Hund aus Zvezdara, der nichts sei, nichts könne und es im Leben niemals zu etwas bringen werde. Auf die mahnenden Monologe des Schaffners reagiert Dragoslav nicht. Mit seinen kurzen rotblonden Haaren und den reuigen, großen blauen Augen vermittelt er den Eindruck eines Sünders.

    Die Bahn rattert derweil durch Belgrad, vorbei an der historischen Altstadt Stari Grad mit ihren Plätzen, Regierungsgebäuden und kleinen Restaurants. Dragoslav sieht in der Ferne die vielen Brücken der Save und hinüber nach Novi Beograd, dem neuen Belgrad. Eine sozialistische „Modellstadt", die Ende der 1940er Jahre in einer Sumpflandschaft entstanden ist. Architektonische Sündenfälle. Plattenbauten bis zum Horizont, das hässliche Erbe des Stalinismus, entstanden in einer Zeit, als billiger Wohnraum gefragt war und schnell geschaffen werden musste. Das alte Belgrad hingegen war seit jeher eine Brücke zwischen Orient und Okzident. Osmanen, Byzantiner, Habsburger, sie alle haben der Stadt ihre Kultur, Tradition und Architektur hinterlassen. Hier treffen sich die vier Jungs gerne an der alten Zitadelle. Hier sonnen sie sich auf der alten Befestigungsmauer, essen ihre Butterbrote und genießen den Frieden und den Blick auf Donau und Save. Sie sind hier frei und ungezwungen.

    Doch beinahe überall bestimmen graue Fassaden und staubige Straßen das Stadtbild. Grau. Die „weiße Stadt, wie Belgrad übersetzt heißt, ist tatsächlich grau. Die wachsende Industrialisierung fordert ihren Tribut. Belgrad ist in den 1960er Jahren das Zentrum einer Gesellschaft im Umbruch und einer Wirtschaft im Niedergang. Die Veränderungen verschlechtern auch die Lebensbedingungen. Es gibt weniger Arbeit, und diese wird immer schlechter bezahlt. Tausende Menschen verlassen Jugoslawien und suchen anderswo ein besseres Leben – die meisten davon in Deutschland. Denn trotz des vergleichsweise liberalen Klimas steht Jugoslawien wie alle anderen sozialistischen Staaten auch unter dem Einfluss der Sowjetunion. Die vorsichtige Öffnung nach Westen bringt die Gefahr mit sich, in der Auseinandersetzung zwischen Ost und West unter die Räder zu geraten. Doch der jugoslawische „Dritte Weg, der Versuch, zwischen Plan und Markt zu operieren, hat Nischen geschaffen.

    Während die Bahn weiter durch Belgrad ruckelt, an der Endstation Pause macht, um dann wieder umzukehren, versucht sich Dragoslav mit schönen Erinnerungen abzulenken. An seinen Opa Selemir aus Sibnica, den er in den Ferien immer in seinem kleinen Dorf besucht, rund 40 Kilometer von Belgrad entfernt. Zusammen erkunden sie oft die vielen Zitadellen und Burgen der Umgebung.

    Auch zu Weihnachten, nach dem julianischen Kalender der griechisch-orthodoxen Christen Anfang Januar, versammelt sich die Familie in Sibnica. Der kleine Dragoslav liebt die Weihnachtszeit. Heiligabend wird stets das brüchige Mobiliar nach draußen verfrachtet und die große Wohnstube mit Stroh ausgelegt. Der Christbaum wird mit Äpfeln, Nüssen und selbst gebackenen Plätzchen geschmückt. Bevor das Essen beginnt, gehen alle Familienangehörigen in den Stall. Für die Tiere gibt es eine Extraration Futter.

    Ein gellendes Quietschen reißt Dragoslav aus seinen Gedanken. Die Bahn ist soeben über eine Unebenheit in den Gleisen gefahren. Sie haben die Save wieder überquert und nähern sich einem mächtigen, mehrstöckigen Bau, einem in grauen Beton gemeißelten Oval. Vier große Masten strecken sich in den Himmel und umrahmen das Gebäude. Dragoslav schaut immer wieder zu dem Monument und rutscht auf seinem Sitz hin und her.

    Der Alte bemerkt die Neugierde des Jungen.

    „Spielst du Fußball?", fragt er interessiert.

    „Nur manchmal", schwindelt Dragoslav, ein wenig verängstigt.

    „Dann weißt du auch nicht, was da drüben für ein Gebäude entsteht?"

    „Das wird das neue Stadion von Roter Stern. Da passen dann über hunderttausend Menschen rein", erwidert Dragoslav, jetzt schon etwas mutiger. Jeder Junge aus Belgrad weiß, was dort gebaut werden soll!

    „Richtig, mein Junge, richtig!, sagt der Alte begeistert. „Warum weißt du das, wenn du doch gar nicht Fußball spielst?

    „Ich würde so gerne im Verein Fußball spielen, aber meine Eltern lassen mich nicht. Meine Mutter schickt mich ins Heim, wenn sie mich beim Fußballspielen erwischt", platzt es jetzt aus dem kleinen Fußballerherz heraus. Er schaut den Schaffner treuherzig an und hat für einen Moment das Gefühl, als sähe er eine Träne der Freude in dessen Augen.

    „Wenn du da mal spielst, dann hast du es geschafft", verspricht ihm der alte Schaffner.

    Das Eis zwischen dem Bahnaufseher und dem Jungen ist gebrochen. „Junge, komm mal her zu mir! Hör mir gut zu! Ich sage dir jetzt eins: Spiele Fußball, melde dich im Verein an, und wenn du dann gut bist, verschwinde möglichst bald von hier. Geh weg aus Belgrad! Spiel Fußball und geh dahin, wo es dir besser geht als hier."

    Sie erreichen endlich die Haltestelle, an der Dragoslav aussteigen darf und wieder in die Freiheit entlassen wird. Der Junge dreht sich noch einmal um. Der Schaffner sieht ihm nach und winkt. Dragoslav hallen die Worte des Alten im Ohr. Wie oft hatte er davon geträumt, ein berühmter Fußballer zu werden und das entscheidende Tor zum Sieg zu schießen!

    „Wenn du da mal spielst, dann hast du es geschafft." Diese Worte des Alten, den er nie wiedersehen sollte, werden Dragoslav sein Leben lang begleiten.

    Teilen, das ist das Motto dieser Zeit. Eine jugoslawische Familie lebt in dieser Zeit in der Regel unter einem Dach. Drei oder vier Generationen, vom Baby bis zum Greis, wohnen in nur ein bis zwei Zimmern. Oft teilen sich mehrere Familien kleine Behausungen von wenigen Quadratmetern, ohne Wasser und Strom. Seit dem Ende der 1950er entstehen immer mehr nehigijenska naselja, also „unhygienische Siedlungen", illegal errichtet und ohne Infrastruktur: Slums.

    Auch die Familie Stepanović lebt Anfang der 1960er Jahre auf nur wenigen Quadratmetern. Zusammen mit einer anderen Familie teilen sie sich zwei Zimmer, Küche, die Toilette draußen im Hof und das heiße Wasser am Badetag, stets ein Samstag.

    Dragoslavs Mutter Rosa überzeugt die Mutter der Mitbewohner schnell mit ein paar kräftigen Ohrfeigen davon, der Familie Stepanović den Vorrang beim Baden zu überlassen. Für Dragoslav ist es das Schönste, wenn die Mutter die Badewanne mit heißem Wasser füllt und er nach dem Baden Musik im Radio hören kann: Schlager auf Belgrad 1. Seine liebste Zeit in der Woche.

    Unter diesen Verhältnissen sind Konflikte an der Tagesordnung. Mutter Rosa Stepanović verteidigt die Familie besonders aggressiv. Sie kämpft aus Gewohnheit, hatte sie doch weitaus schlechtere Zeiten erlebt.

    Der Feuerball über Belgrad hatte den Nachthimmel erhellt. Bis weit in die Provinz hinein war er sichtbar gewesen. Jene Unglücksnächte am 6. und 7. April 1941, in denen die deutsche Luftwaffe Belgrad bombardierte, hatten sich für immer in das Gedächtnis der Überlebenden eingebrannt. Tausende waren in diesen Nächten erstickt, verbrannt, in Fetzen gebombt worden. Es waren bleierne Tage.

    Rosa Stepanović war 16, als die deutsche Wehrmacht 1941 in der Stadt einmarschierte. Sofort machten die Truppen Jagd auf Juden, Roma und Partisanen. Viele verschwanden, um nie wieder aufzutauchen. In den Konzentrationslagern von Sajmište und Banjica fanden über 50.000 Menschen den Tod.

    Die Alliierten befreiten die Stadt nach drei Jahren des Schreckens. Die nun 19-jährige Rosa aber war gezeichnet vom Überlebenskampf und den Schrecken des Krieges. Die Brutalitäten der Soldaten, die mit der Besatzung verbundenen Erniedrigungen und Demütigungen hatten sie hart gemacht. Für den Rest ihres Lebens sollte es ihr schwerfallen, ihre Gefühle auszudrücken. Niemand hatte sie je weinen sehen. Auch nicht auf der Beerdigung ihres Vaters; nicht auf der ihres Mannes.

    Dagegen nimmt sich der Alltag der Familie in den 1960er Jahren beinahe harmlos aus: Vater Zivomir arbeitet in einer pharmazeutischen Fakultät als Haustechniker. Mutter Rosa ist vormittags Köchin in der Mensa eines Studenteninternats, nur 500 Meter von der Wohnung entfernt.

    Die Jahre vergehen, die Fußballleidenschaft von Dragoslav wächst. Als er 14 Jahre alt ist, beginnt der Fußball sein Leben zu bestimmen. Rund drei Stunden hat er dafür täglich. Um so viel wie möglich spielen zu können, schwänzt er die Schule. Er isst kaum, sondern spült sein Essen in der Toilette herunter – das spart wertvolle

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