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Mein erster Stadionbesuch
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eBook331 Seiten3 Stunden

Mein erster Stadionbesuch

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Über dieses E-Book

Für Prominente und 'normale' Fußballfans ist der erste Stadionbesuch ein unvergessliches Ereignis. Das 'erste Mal' kann ein großes Spiel gewesen sein, aber auch ein Kick auf dem Dorfplatz nebenan. Dabei geht es nicht um statistische Spielberichte, sondern einzig und allein darum, die besondere Atmosphäre undStimmung von damals noch einmal aufl eben zu lassen. Entstanden sind traurige und lustige, ernste und weniger ernste, aber immer sehr emotionale Erzählungen. Über das Internet und mit Unterstützung vieler großer Vereine haben die Herausgeber Fans dazu aufgerufen, ihre persönliche Geschichte einzusenden. Die besten Einsendungen bekannter wie unbekannter AutorInnen werden nun veröffentlicht. Zu den Prominenten gehören Horst Eckel aus dem Weltmeisterteam von 1954, Claudia Roth von den Grünen, die ihr erstes Spiel auf dem Sportplatz in Babenhausen erlebte, die Stadionsprecher vom 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach, Filmemacher Aljoscha Pause oder Journalisten wie Thomas Wark vom ZDF.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Okt. 2012
ISBN9783895338960
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    Buchvorschau

    Mein erster Stadionbesuch - Jannis Linkelmann

    Wer braucht schon Europapokal?

    Hardy Grüne

    geb.: 1962

    Freier Journalist und Lektor

    Fan von Göttingen 05

    Wenn es um Fußball ging, konnte mein Vater ausgesprochen cool sein. So wie am 24. Mai 1975, dem Tag unseres Umzugs von Dortmund nach Göttingen. Seit dem frühen Morgen zockelten wir nervtötend langsam durch die Landschaft. Mit einem Möbelwagen kommt man halt nicht so flott voran, zumal mein Vater die eigentümliche Angewohnheit hatte, Autobahnen zu meiden und stattdessen ausnahmslos Landstraßen zu benutzen. Ob das daran lag, dass er zur letzten Kriegsgeneration zählte und Autobahnen unheimlich fand? Keine Ahnung, jedenfalls quälten wir uns in einem muffigen und bis unters Dach vollgepropft en 15-Tonner über schmale Landstraßen, passierten Örtchen wie Brilon, Warburg und, jetzt bitte nicht lachen, Erbsen und näherten uns im Schneckentempo Göttingen. Meiner neuen Heimat.

    Ich war zwölf und voller trauriger Wut. Ich wollte nicht weg aus Dortmund, von meinen Freunden, von meinem Leben. Vom Mengeder Volksgarten, wo ich mir erste Meriten als Reinkarnation eines bärbeißigen Terriers namens Berti Vogts erworben hatte. Mit meinem fußballerischen Talent war es nicht allzu weit her, doch einen Gegner zudecken und ihn mit wütenden Tritten bearbeiten, sobald er an den Ball kam, das konnte ich.

    Doch nun hockte ich auf dieser rumpelnden Dieselschleuder und dachte mit bangem Herzen an mein neues Zuhause. Hinten im Laderaum unser gesamter Hausstand. Auf dem Schoß mein Meerschweinchen Pukki, das mit starren Augen aus seinem Käfig glotzte und an trockenen Grashalmen mümmelte.

    Was mich in Göttingen erwarten würde, wusste ich nicht. Vater hatte dort einen neuen Job gefunden. Ich würde eine neue Schule besuchen, neue Freunde finden. Und in der Provinz verdörren. Da war ich mir sicher. Denn, also bitte: Göttingen! Gibt es eine piefigere Kleinstadt für jemanden, der mitten im Ruhrgebiet aufgewachsen ist?

    Nur eine Aussicht versetzte mich in Aufregung: Fußball. Fußball würde mich erwarten in Göttingen. Endlich! Ich war Spätstarter. Erst bei der WM 1974 hatte ich entdeckt, dass ich Fußballfan bin. Durch die Holländer, die mit ihren orangefarbenen Klamotten und lauten Gesängen durch die Dortmunder Innenstadt gezogen waren. Während mein Vater eilig vor ihnen geflohen war, blieb ich stehen und staunte. So wollte ich auch sein. Doch wie? Wir wohnten in Mengede. Eine gefühlte Weltreise vom Westfalenstadion entfernt. Zudem war Vater, eigentlich glühender Borusse und 66 beim Europacupsieg live dabei, auf den BVB nicht mehr gut zu sprechen. Der Abstieg aus der Bundesliga hatte ihm das Herz gebrochen. All mein Bitten und Flehen, doch endlich mal zu einem Spiel zu fahren, war an seinem Starrsinn (»Die spielen doch nur noch 2. Liga!«) abgeprallt. Seit fast einem Jahr war ich nun schon Fußballfan, verfolgte jeden Samstag »Sport und Musik« mit Kurt Brumme, doch im Stadion war ich immer noch nicht gewesen.

    Und nun Göttingen. Dass meine neue Heimat tiefste Fußballprovinz war, ahnte ich nicht. Wie auch? Immerhin spielte Göttingen 05 wie der BVB in der 2. Bundesliga Nord, fand der Verein im Bergmann-Sammelbilderalbum der Saison 1974/75 statt, horchte ich seit Wochen aufmerksam auf, wenn bei »Sport und Musik« die Zweitligaergebnisse kamen. Göttingen 05 war zwar nur im Mittelfeld der Tabelle angesiedelt, doch ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn der Name fiel. Noch in Dortmund knüpfte ich ein emotionales Zweckbündnis mit Göttingen 05. Eine zunächst platonische Fernbeziehung, gespeist aus reiner Vernunft. Von wegen Nick Hornby und »wir suchen uns unsere Vereine nicht aus«. Ich suchte mir meinen Verein im vollem Bewusstsein aus! Denn seit ich wusste, dass wir nach Göttingen ziehen werden, war 05 mein Lieblingsverein. Ohne das Team jemals gesehen zu haben. Ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wie es in Göttingen aussieht. Einfach aus der Verlockung heraus, dass mein Vater mir nach unserem Umzug nach Göttingen endlich den ersten Stadionbesuch versprochen hatte. Was ich über Göttingen 05 wusste, stand im Bergmann-Sammelbilderalbum. Gelbe Trikots, schwarze Hosen. Wie Vaters BVB. Das fand ich einen guten Start. Auf dem Teamfoto sah ich mutige, entschlossene Männer. Mein Team!

    In der Schule in Deininghausen kannte niemand Göttingen 05. Da zählte nur Borussia oder Schalke. Mir war es egal. Mit Vaters Versprechen in der Hand hatte ich sämtliche Spielernamen gelernt, konnte auf dem Mannschaftsbild jeden zuordnen. Den langen Manfred Zindel mit den tollen Freistößen. Lothar Hübner, vordere Reihe ganz links. Der blonde Verteidiger Harald Evers. Helmut Hinberg, der Libero mit dem ernsten Blick. Torhüter Albert Wenzel im grauen Sweater. »Ede« Wolf mit diesen ultracoolen Koteletten. Frank-Michael Schonert, der in der kicker-Torschützenliste ganz oben stand. Mein Team! Mit vollem Herzen stürzte ich mich in etwas, das sich als »amour fou« entpuppen sollte. Aber, bitte: Ich war doch erst zwölf! Was wusste ich schon von tragischer Liebe?

    Irgendwann so gegen Mittag erreichten wir unsere neue Heimat. Müde prügelte mein Vater die Gänge in den röhrenden LKW, während wir die letzten Hügel vor Göttingen überkrochen. Pukki hockte noch immer auf meinem Schoß und zuppelte friedlich an ein paar Grashalmen, die ich bei einem Zwischenstopp vom Straßenrand gerupft hatte. Über eine Ausfallstraße röhrten wir in Richtung Stadtzentrum, als an beiden Straßenrändern immer mehr wild auf den Grünstreifen abgestellte Autos auftauchten. Menschen mit schwarz-gelben Fahnen und Schals eilten zu einer abgesperrten Straße, die schon voller Menschen war. »Junge«, meinte mein Vater und bremste den 15-Tonner ab, »Junge, hier ist heute ein Spiel!« Vor Aufregung wurden meine Augen groß. »Halten wir an?«, fragte ich mit hoffnungsvollem Timbre. Vater guckte kurz rüber, grinste und meinte: »Klar halten wir an. Komm Junge, wir gehen zum Fußball!«

    Wenn es um Fußball ging, konnte mein Vater eben ausgesprochen cool sein.

    Einen Parkplatz für den 15-Tonner zu finden, war nicht einfach. Und dass wir unseren gesamten Hausstand, all unseren Besitz, und auch Pukki, unbewacht stehen lassen mussten, auch nicht. Zumindest nicht für meinen Vater. Mir hingegen war das ziemlich egal. Aufgeregt hüpfte ich vom Führerhaus, drängte zur Eile, fürchtete, keinen Platz mehr im Stadion zu finden. Überall waren doch so viele Menschen!

    Die Sichtweise eines Zwölfjährigen ist noch unfertig. Mein größtes Erlebnis war bis dahin ein Konzert von The Sweet in der Dortmunder Westfalenhalle gewesen. In der kleinen wohlgemerkt; also der Westfalenhalle II. Das war meine einzige Orientierungshilfe für »Masse«. Und hier liefen mindestens genau so viele Menschen herum. Davon war ich zumindest überzeugt. Vor dem Stadion sogar lange Schlangen. Aufgeregt trieb ich meinen Vater zur Eile, fürchtete ein ausverkauftes Stadion. Und war plötzlich abgelenkt, als ich neben den Kassen einen fahrbaren Fanstand entdeckte. Oben drauf schwarz-gelbe Fahnen mit dem Wappen von Göttingen 05. Sieben Mark waren dafür fällig. Mein Vater hatte keine Chance. Aufgeregt schwenkte ich meine neue Fahne, als wir auf die Gegengerade marschierten.

    Das Jahnstadion war anno 1975 wahrlich keine Schönheit. Keine Überdachung, durch die Leichtathletikanlagen sehr weitläufig. Die Gegengerade so flach, dass man selbst von ganz oben durch den Gitterzaun gucken musste. Ein rumpeliges, notdürft iges Zweitligastadion ohne jegliche Atmos phäre. Für mich der Himmel auf Erden. Meine neue Heimat. Dass es nur spärlich gefüllt war, entging meinen liebesblinden Augen. Vielleicht 2.000 waren es, die gekommen waren. Platz war für 24.000. Ob es am Gegner lag? Die Spielvereinigung Erkenschwick stand ein paar Spieltage vor Saisonende wie 05 in der Tabelle jenseits von Gut und Böse. Und repräsentierte zumindest in Göttingen eine dieser »grauen Mäuse«, die es damals in der 2. Bundesliga Nord zuhauf gab.

    Vater hatte einen Vorteil gegenüber vielen der Stadionbesucher. Denn er wusste, wo Erkenschwick ist! Wir hatten ja in Mengede gewohnt, und von dort ist es nur ein Katzensprung nach Oer-Erkenschwick. Für einen Göttinger aber klang Erkenschwick exotisch unbekannt. Ich war stolz, als Vater unseren Nachbarn auf den Stehrängen verriet, dass er schon einmal dort gewesen sei und dass es bei Recklinghausen läge. Irgendwie waren Vater und ich damit so etwas wie Weltbürger in der Provinz.

    Dann kamen die Teams und Dauerregen setzte ein. Ein trister, zutiefst unspektakulärer Frühsommertag. Nicht für mich. Die gelben Shirts der 05er kamen mir vor wie die Sonne, und »meine« Mannschaft endlich spielen zu sehen fühlte sich an, als sei ich an einem langersehnten Ziel angekommen. Unermüdlich schwenkte ich meine Fahne, die vom Regen klatschnass war und Vater immer wieder Wassertropfen zuschleuderte. Das Spiel erschloss sich mir nur bedingt. Im Grunde genommen hatte ich keine Ahnung davon. Fußball gesehen hatte ich bislang nur bei der WM ’74 im Fernsehen. Und natürlich kannte ich die Sportschau. Live im Stadion aber war das alles viel aufregender. Da fühlte ich mich als Teil einer wogenden Masse. Auch wenn das Stadion tatsächlich ziemlich leer war. Auch wenn das Spiel grottenschlecht und unsagbar langweilig war. Halbzeit 0:0. Nach 64 Minuten brachte »Patsche« Hansing 05 in Führung. Eine Viertelstunde später der Ausgleich für Erkenschwick. 1:1. Dabei blieb es. Im strömenden Regen des Göttinger Jahnstadions.

    Mein erstes Spiel muss, nüchtern betrachtet, eine ziemlich abschreckende Erfahrung gewesen sein.

    Später, als ich allmählich begriff, welch folgenschwere Entscheidung ich bei der Wahl meines Lieblingsvereins getroff en hatte, musste ich immer wieder an diesen Regen zurückdenken. Wie ich klitschnass meine ebenso klitschnasse Fahne schwenke. Glückselig und resistent gegen Niederschlag, Tristesse, leere Ränge. Heute schmunzle ich gern mal über meine eigene Fansozialisierung. Immerhin komme ich aus Dortmund, wuchs im Spannungsfeld von BVB und S04 mit dem Fußball auf. Ich könnte also BVB-Fan sein, ich könnte Schalker sein, auch wenn mein Vater das als Borusse vermutlich nicht geduldet hätte. Stattdessen wurde ich 05er. Und ließ 32 Jahre später im Mai 2012 eine 1:2-Heimniederlage in der fünft en Liga gegen den VSK Osterholz-Scharmbeck über mich ergehen, während der BVB in der Bundesliga mal wieder Deutscher Meister wurde. Umgeben von Göttingern, die den BVB als ihren Lieblingsklub bezeichneten und sich über die Meisterschaft freuten. Während ich als gebürtiger und auch noch immer leidenschaft licher Dortmunder dem Titelgewinn mit zwar schwarz-gelbem, aber eben 05er-Herzen, gleichgültig gegenüberstand und an der peinlichen Pleite gegen Osterholz-Scharmbeck nagte.

    Mal ehrlich: Irgendetwas muss da doch schiefgelaufen sein?

    Doch derart vorbehaltlos, wie ich Göttingen 05 bei meinem ersten Stadionbesuch begegnete, war die Sachlage eigentlich klar. 05 konnte tun, was es wollte, ich wäre geblieben. Das karge 1:1, die von meinem Vater als »grau sam« definierte Leistung, das leere Stadion, der überschaubare Fanblock neben dem alten hölzernen Ansagehäuschen auf der Hauptgeraden, der Regen, dem wir ungeschützt ausgesetzt waren – nichts konnte meine glühende Zuneigung zu Göttingen 05 bremsen. Und schon gar nicht der BVB, denn der war für mich ja nicht erreichbar. Zu 05 hingegen konnte ich fortan alle zwei Wochen gehen. Und wie geht Liebe, wenn man sich nicht ständig sehen kann? Fernsehfußballfan hätte ich nie werden können.

    Nach dem Schlusspfiff schlurften wir klatschnass zu unserem 15-Tonner zurück. Rumpelten hinauf nach Geismar, in unsere neue Wohnung. Wie die Möbel ins Haus kamen, weiß ich nicht mehr. Wie wir den ersten Abend in der neuen Wohnung verbrachten auch nicht. Aber ich weiß noch, wie ich meine schwarz-gelbe Fahne stolz in mein neues Zimmer trug und die Wände nach dem besten Platz absuchte. Fortan war ich 05er. Zur neuen Saison gründete ich mutig einen Fanklub, nachdem sich eine Klassenkameradin ebenfalls als 05-Fan geoutet hatte. Zum Einstand der »Schwarz-Gelben Löwen« gab es ein 3:0 gegen Tennis Borussia, und dass 05 in derselben Saison auch den BVB mit 3:0 abfertigte, sorgte für schlechte Laune bei meinem Vater, die ich insofern zu meinen Gunsten nutzte, als ich ihm kommentarlos ein BVBFähnchen mitsamt einer Schachtel Streichhölzer auf den Küchentisch legte.

    Wie jeder Fan (außer denen der Bayern) habe ich meine Wahl seitdem zigtausendfach bereut und mich hundertmillionenfach darüber gefreut. Natürlich hätte ich mit dem BVB oder Schalke viele große Erfolge feiern können. Stattdessen musste ich 2003 die Auflösung meines Klubs miterleben, beim Neustart in der achten Liga selbst mit Hand anlegen. Als Borusse oder Königsblauer würde ich zu Europapokalspielen fliegen, meine Mannschaft im Fernsehen sehen, überall Fans meines Klub begegnen. Mit 05 war ich schon in Käffern wie Landolfshausen, Ihrhove und Hillerse, freue mich über gelegentliche halbseitige Spielberichte im hiesigen Provinzblatt und ernte regelmäßig mitleidige Blicke, wenn ich von meinem Lieblingsverein erzähle.

    05-Fan geworden zu sein war eben die beste Entscheidung meines Lebens. Danke Papa, dass du damals so cool warst und angehalten hast!

    Ein Schalker verabschiedet sich

    Susanne Breuer

    geb.: 1962

    Verwaltungsangestellte

    Sympathisantin des FC Schalke 04

    Das ist die Geschichte meines Schwagers Rolf. Er hat sie mir erzählt, als vor kurzem sein Vater plötzlich und unerwartet verstarb. Es sind unter anderem diese Erinnerungen, die helfen, die Trauer, den Verlust zu verarbeiten. Es sind diese Erinnerungen, in denen sein Vater weiterlebt. Das hier ist für dich, Rolf, und für Hubert, »deinen« Schalker.

    Diese Woche ist mein Vater gestorben. Plötzlich und unerwartet hat er sich davongemacht – Leere!

    Er war nur kurze Zeit krank. Niemand hat geahnt, dass es so schnell gehen würde. Erst vor gut drei Wochen haben wir ihn ins Krankenhaus gebracht. Nach den ersten Untersuchungen hieß es, man könne nichts finden und wir konnten ihn schon nach wenigen Tagen wieder nach Hause holen. Aber die Beschwerden blieben, wurden schlimmer. Als sein Gejammer nicht nachließ, haben wir – meine Schwester und ich – beschlossen, ihn in ein anderes Krankenhaus zu bringen. Er hat sich nur ein bisschen gewehrt und schließlich unserem Drängen nachgegeben. Dann der Schock für uns alle. Ein Riss im Darm, eine erste Notoperation erfolgt.

    Mich überkommen Erinnerungen – geballt und hammerhart.

    Ich bin 14. Wir sind »auf Schalke« – zum ersten Mal gemeinsam im Stadion, zum ersten Mal für mich überhaupt. Mein alter Herr ist Fan mit Leib und Seele. Er verpasst kein Spiel. Über der Couch im Wohnzimmer hängt eine große Schalke-Fahne. Er schläft in Schalke-Bettwäsche und trocknet sich mit einem Schalke-Handtuch ab, wenn er geduscht hat. Jetzt steht er hier, in voller Montur: ein Trikot mit der Nr. 10 drauf, den blau-weißen Schal um den Hals gewickelt und eine passende Kappe auf dem Kopf. Ich finde, er sieht ein bisschen torfig aus, aber er meint nur easy: »Fan ist Fan und wenn schon, denn schon!« Irgendwie scheint das zu stimmen und ich frage mich, ob so was auch erblich ist. Ich bin nämlich von Kindesbeinen an Schalke-Fan – wie er, spiele selbst Fußball in unserer Dorfmannschaft. Ein Poster vom FC Schalke 04 hängt in meinem Zimmer und eine Chronik zur Vereinsgeschichte hab ich auch. Natürlich kenne ich die Spieler. Namen wie: Sobieray, Lütkebohmert, die Kremers, Abramczik, Fischer – kein Thema. Irgendwie habe ich mir auch schon lange gewünscht, mal mit ins Stadion zu kommen, aber meine eigene Kohle hat für die Karten nie gereicht – sparen war damals nicht so mein Ding – und meinen Vater wollte ich nicht anpumpen, dafür war unser Verhältnis ein bisschen zu angespannt. Zu Weihnachten hat er mir dann die Karten geschenkt: »Damit du mal siehst, wie das ist – mittendrin!« Zuerst bin ich skeptisch, soll ich mir das wirklich antun – mit meinem »Alten« ins Stadion? Aber wenn das ein Friedensangebot sein soll, kann ich es auch nicht ausschlagen. Jetzt stehe ich also hier: mitten im Getümmel. Es ist noch das »alte« Parkstadion. An die Arena denkt zur jetzigen Zeit noch keiner. Nichts mit Schiebedach und Rasenabdeckung. Aber das spielt für das Feeling keine Rolle. Die Stimmung kocht schon vor Spielbeginn, reißt auch mich mit. Es kribbelt im Bauch und ich kriege eine Gänsehaut vor Aufregung. Ich kann zwar nicht alles sehen, bin halt noch etwas kurz geraten, aber das ist eigentlich egal. Was zählt, ist nur das Dabeisein. Lauthals stimmen Paps und ich in die Fanchöre ein, schwingen die blau-weiße Fahne mit dem S04-Logo. Dann laufen die Mannschaften ein und die Fans unserer Gegner haben alle Mühe, gegen unser Gejohle durchzukommen.

    Wir stehen zusammen: einer für alle, alle für einen.

    Wir haben ein paar Stunden auf dem Krankenhausflur vor dem OP verbracht. Banges Warten, gequält von den Gedanken, ob er es wohl schafft. Als die Tür aufschwingt, stehen meine Schwester, meine Frau und ich aufs Äußerste gespannt da und sehen den Chefarzt mit fragenden Augen an. Er lächelt. Ein gutes Zeichen, was gleich darauf die Diagnose bestätigt. Die OP ist gut verlaufen und Vater befindet sich schon auf dem Weg zur Intensivstation. Einzeln dürfen wir zu ihm. Ich gehe zuerst. Blass sieht er aus, aber er ist wach. Voll verkabelt: EKG, Blutdruck, Puls – alles, was dazugehört. Im ersten Moment erschreckt es. Als er mich sieht, huscht ein Strahlen über sein Gesicht. Das beruhigt mich ein bisschen. Ich komme gar nicht erst dazu, mich nach seinem Befinden zu erkundigen. Bevor ich überhaupt einen Ton sagen kann, platzt er nämlich schon raus: »Endlich kommst du. Ich will doch wissen, wie die Auslosung gelaufen ist.« An diesem Tag hat die Gruppenauslosung für die Europa League stattgefunden – und er konnte das nicht sehen! Lächelnd erzähle ich ihm das Ergebnis der Auslosung. Weil ihm anscheinend nichts wichtiger ist, beruhige ich mich. Offensichtlich geht es ihm gut, denn gleich darauf sinkt er erleichtert in den Schlaf.

    Es ist irre. Ich hätte nie gedacht, dass mein alter Herr so aus dem Häuschen geraten kann. Immer wieder haut er mir kraftvoll auf die Schulter: »Ne Jung, dat is doch doll hier?« Ich muss zugeben, dass es wirklich ein besonderes Erlebnis ist. Ob man will oder nicht, die Stimmung der Fans um einen herum ist mitreißend. Ich stimme in den Jubel mit ein und brülle meinen Unmut heraus, genau wie die vielen anderen. Es ist fantastisch. Mit jeder Minute gehe ich in dieser Stimmung ein wenig mehr auf. Trotz aller Bedenken vorher, mit meinem Vater ins Stadion – das kann doch nur peinlich werden. Auch oder gerade weil mein Dad und ich uns sonst nicht immer ganz grün sind. Hier und jetzt spielt das alles keine Rolle mehr, in diesem Moment bin ich ihm für dieses Erlebnis dankbar. Hier sind wir »auf Schalke« – zwei Kerle, ein Herz für diese Mannschaft.

    Er ist jetzt auf die »normale« Station verlegt worden. Wirklich besser geht es ihm nicht. Er will nicht essen, hat Angst, dass ihm immer noch schlecht wird und er das Essen nicht bei sich behalten kann. Die Krankenschwester schafft es mit viel Geduld und gutem Zureden, dass er wenigstens ein bisschen Suppe löffelt. Dass er sich so hängen lässt, nervt uns ein wenig und wir reden dauernd auf ihn ein. Er soll essen und nicht alles so schwarz sehen. Schließlich war es die erste OP in seinem ganzen Leben und dann gleich eine so große. Er ist 72, da steckt man auch die Narkose nicht mehr so einfach weg wie mit 20. Aber er scheint irgendwie keine Kraft mehr zu haben, keinen echten Lebenswillen.

    Das Spiel läuft fürs Erste ganz gut. Die Jungs liefern sich einen tollen Ballwechsel mit dem Gegner. Das Glück scheint auf »unserer« Seite, als das erste Tor für Schalke fällt. Doch die Elf unterschätzt den Siegeswillen des Gegners und erlaubt sich Flüchtigkeitsfehler in der Abwehr und so kassieren sie noch vor Ende der Halbzeit den Ausgleich. Ein enttäuschtes »Ah!« geht durch die Reihen, einzelne Buh-Rufe sind zu hören, als das Tor fällt. Aber wir Fans lassen uns nicht entmutigen. Wir feuern die Elf an mit unserem Optimismus und unserem Zusammenstehen. Und so gehen die Mannschaften mit einem 1:1 zur Halbzeit in die Kabinen.

    Er muss auch übers Wochenende noch bleiben. Ein Samstag ohne Fußball – für meinen alten Herrn eine Qual. Sein Zimmergenosse will nicht fernsehen, von dem Geflimmere bekomme er Kopfschmerzen. Mein Vater mag sich nicht auflehnen, es fehlt ihm die Kraft dazu. Doch die ganze Zeit über hat er Hummeln in der Hose. Kein Spiel, erst recht kein Ergebnis. Für ihn ein absolutes No-Go. Er hat mit mir abgemacht, dass ich auf der Station anrufe und die Ergebnisse durchgebe, sobald die Spiele gelaufen sind. Die Schwester lacht bei meinem Anruf, ist aber dann gerne bereit, das Ergebnis an ihn weiterzugeben. Wie sie mir später erzählt hat, war er total gerührt: »Dat is mein Jung. Der weiß, dass sein Vater ohne Fußball nicht sein kann.« Zum Glück haben die Schalker an diesem Tag auch noch gewonnen.

    Anders sieht es vor so vielen Jahren aus. Nach dem Ausgleich der Gegner sind die Spieler zunächst wie gelähmt. Nach der

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