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Hinter der Maske: Phantastischer Roman aus der Eifel
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eBook315 Seiten4 Stunden

Hinter der Maske: Phantastischer Roman aus der Eifel

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Über dieses E-Book

Sein ganzes Leben hat Arthur Dreyer mit seiner früh verwitweten Mutter in Köln verbracht. Nach ihrem Tod zieht er in ein Eifeldorf, weil er der Trauer und den Erinnerungen entfliehen will. Bald muss er erfahren, dass es in dem Haus, das er sehr günstig erworben hat, angeblich spukt. Er glaubt nicht daran, doch rasch mehren sich Anzeichen dafür, dass mit dem Haus tatsächlich etwas nicht stimmt. Dreyer spricht mit niemandem darüber, weil er Angst hat, ausgelacht zu werden.
Er zieht sich immer mehr von den Leuten im Dorf zurück und wird von ihnen bald als Sonderling betrachtet. Nur Daphne, eine junge Frau, die ihr Geld mit Heilkräutern, Horoskopen und allerlei anderen esoterischen Dingen macht, gewinnt sein Vertrauen, und gemeinsam versuchen sie, den Spuk zu ergründen. Dabei stoßen sie auf schreckliche Geheimnisse aus der Vergangenheit, und plötzlich ist nichts mehr so, wie es vor kurzem noch schien ...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Juli 2019
ISBN9783954415052
Hinter der Maske: Phantastischer Roman aus der Eifel

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    Buchvorschau

    Hinter der Maske - Michael Siefener

    hörte.

    1. Kapitel

    Mit gemischten Gefühlen schaute Arthur Dreyer an der Fassade seines neuen Hauses hoch. Der Umzugswagen war gerade erst abgefahren; drinnen warteten viele Kisten und Kartons darauf, ausgepackt zu werden. Doch für diese Arbeit blieb ihm noch viel Zeit. Ein ganzes Leben, wenn er wollte.

    Arthur konnte kaum glauben, dass dieses wunderschöne Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert nun ihm gehörte. Er bestaunte die alte Eichentür mit ihrem barocken Schnitzwerk, den Türsturz, der bereits strenge, klassizistische Merkmale aufwies, die leider leere Mariennische darüber, die breiten Sandsteineinrahmungen der Fenster, das zu beiden Seiten tief heruntergezogene Dach, das er neu hatte decken lassen, und die seltsame Figur, die hoch oben in den Giebel eingesetzt war und die er immer noch nicht deutlich erkennen konnte. Er freute sich über sein neues Heim.

    Und gleichzeitig war er traurig darüber.

    Als er ganz verloren in Gedanken an die Ereignisse, die ihn hierher geführt hatten, vor dem Haus stand, hörte er, wie irgendwo links von ihm eine Tür geöffnet und rasch wieder geschlossen wurde. Arthur riss sich von seinen Grübeleien los und drehte sich um.

    Aus dem linken Nachbarhaus, das kaum zwei Meter von seinem eigenen entfernt stand und zur gleichen Zeit erbaut zu sein schien, war ein Mann mittleren Alters getreten und wie erstarrt stehen geblieben, als er Arthur bemerkt hatte. Der Mann war stämmig und wirkte ein wenig grob, und sein von grauen Strähnen durchzogenes Haar stand in allen Richtungen vom Kopf ab, als hätte er einen Stromschlag abbekommen. Mit dunklen, unangenehm stechenden Augen sah er Arthur an. Als koste es den Mann große Überwindung, rammte er die breiten Hände in die Hosentaschen, schritt die wenigen Steinstufen vor seiner Tür herunter und kam auf Arthur zu. Dieser räusperte sich und stellte sich mit leiser Stimme vor. Dabei streckte er die Hand aus, doch der Mann tat so, als sähe er sie gar nicht.

    »Sie sind der Neue?«, brummte er.

    »Wie bitte?«, fragte Arthur verständnislos.

    »Der neue Eigentümer!«

    »Ach so. Ja. Auf gute Nachbarschaft!«

    Der Mann warf einen kurzen Blick auf Arthurs ausgestreckte Hand. »Na, dann viel Glück«, murmelte er, drehte sich um und ging die abschüssige Straße hinunter. Bald war er außer Sichtweite. Er hatte nicht einmal seinen Namen genannt.

    Aus den Augenwinkeln sah Arthur, wie sich eine Gardine in einem der Häuser auf der anderen Straßenseite bewegte. Als er genauer hinschaute, wich ein Schatten in die dunkle Tiefe des Zimmers zurück.

    Willkommen in Fangenburg.

    Arthur beeilte sich, die wenigen Stufen zu seiner Tür hochzusteigen, warf noch einen Blick auf die steile Straße, die sich bis zur Burg hochzog, und verschwand in seinem Haus.

    War es vielleicht doch keine gute Idee gewesen, hierher zu ziehen? Er betrat das Zimmer im Erdgeschoss und ließ sich schwer in den alten Ledersessel fallen, der dabei unwillig knarzte. Es war der Sessel, in dem er auch in der Kölner Wohnung am liebsten gesessen hatte. In der Kölner Wohnung …

    Die Erinnerungen brachen über ihn herein, und er weinte. Er sah wieder seine Mutter, die ihn abends mit dem ewig gleichen gütigen Lächeln begrüßt hatte, wenn er von der Arbeit heimgekommen war; seine Mutter, wie sie in der Küche gestanden und für sie beide gekocht hatte; seine Mutter, wie sie neben ihm auf dem Sofa saß und gemeinsam mit ihm fernsah; seine Mutter, wie sie ihm morgens die alte, etwas verbeulte Blechdose mit den Butterbroten in die Hand drückte und ihn verabschiedete. Alles vorbei, für immer …

    Arthur starrte durch den Tränenschleier die Kartons an, die sich mitten im Zimmer stapelten, dann glitt sein Blick über die schmalen, säulenartigen Vitrinen an der Wand. Sie stammten aus dem Lager des Kölner Museums für Völkerkunde und waren seit Jahren nicht mehr benutzt worden, nachdem sich die Museumsleitung entschlossen hatte, alle alten Vitrinen auszumustern und neue, modernere und besser beleuchtete anzuschaffen. Die alten hatte Arthur günstig kaufen können; sie waren gut genug für seine Sammlung.

    Als er an seine Sammlung dachte, beruhigte er sich wieder ein wenig. Er wischte sich die Trauer aus den Augen, stand ächzend auf und öffnete den ersten Karton. Dieser enthielt die Acrylständer, an denen die einzelnen Stücke befestigt wurden; auch diese Ständer stammten aus dem Museum, seiner alten Arbeitsstätte. So vorsichtig, als seien sie die wahren Exponate, verteilte er sie auf die einzelnen Glasböden der Vitrinen. Dann holte er das erste Exemplar seiner Sammlung aus einem der Kartons.

    Er hielt es liebevoll und bewundernd in der Hand und spürte sofort wieder die Faszination und Verlockung, die davon wie warme, einhüllende und schützende Strahlung ausging. Dann stellte er die Maske an ihren Stammplatz in einer der Vitrinen. Es war eine Nâga-Sanniya, die Maske eines ceylonesischen Krankheitsdämons. Nur die eine Hälfte des Dämonengesichts mit dem riesigen, glänzenden Auge war zu erkennen; die andere Hälfte wurde von einer aufgerichteten Kobra verdeckt, die sich aus einem Spalt zwischen den Zähnen herausschlängelte. Sie war die erste Maske gewesen, die Arthur bei einem Kölner Antiquitätenhändler gekauft hatte, und bildete die Keimzelle seiner Sammlung ceylonesischer Dämonenmasken, die er sich in den darauffolgenden Jahren zugelegt hatte.

    Nach ein paar Stunden waren alle Masken ausgepackt und mit großer Sorgfalt in den schmalen Vitrinen untergebracht. Über dieser Beschäftigung hatte Arthur seine Mutter vorübergehend vergessen, doch als sie ihm nun wieder in den Sinn kam, überfiel ihn ein nagendes Schuldgefühl. Er musste unbedingt öfter an sie denken, dazu war er ihr gegenüber verpflichtet. Er war schließlich ihr dankbarer Sohn, für den sie sich aufgeopfert hatte.

    Und nun war sie tot.

    Erneut schluchzte er heftig und warf sich verzweifelt in seinen Ledersessel. Sein Körper zuckte unkontrollierbar. Vorbei. Alles vorbei! Nie wieder würde er in ihr gütiges, mildes Gesicht blicken, nie wieder würde sie ihn mit ihrer sanften Stimme ermahnen, endlich das Hemd zu wechseln oder sich besser zu rasieren. Jetzt war er allein, auf sich selbst gestellt, schutzlos, der ganzen Welt fremd.

    Es dauerte eine Weile, bis der heiße Schmerz des Verlustes verebbte und er wieder ruhiger atmen konnte. Er seufzte, wischte sich noch eine Träne fort und stand auf. Nach einem letzten, beruhigenden Blick auf seine großartige Maskensammlung verließ er das Zimmer.

    Arthur stieg die steile Wendeltreppe hoch und hielt sich dabei an dem Handlauf aus altem, glänzendem Eichenholz fest. Seine Gelenke schmerzten bei jedem Schritt. In den letzten Wochen, vor allem seit der Beerdigung, war ihm immer deutlicher bewusst geworden, dass auch er nicht mehr der Jüngste war. Natürlich, mit seinen zweiundfünfzig Jahren gehörte er noch lange nicht zum alten Eisen – seine Mutter war schließlich einundachtzig geworden –, aber er fühlte sich, als trüge er eine schwere Last auf den Schultern, die mit jedem einsam verlebten Tag drückender wurde.

    Seufzend kam er im ersten Stock an, wo die Möbel aus dem Wohn- und Esszimmer der Kölner Wohnung standen. Eigentlich brauchte er kein Esszimmer, denn er war nicht einmal in der Lage, richtig zu kochen, und die Küche im rückwärtigen Teil des Hauses war so geräumig, dass er seine einfachen Mahlzeiten auch dort einnehmen konnte, aber er hatte keine Möbel weggeben wollen. Jedes Stück war mit Erinnerungen überzogen, und jedes Stück stand in diesem Haus etwa so, wie es in der alten Wohnung gestanden hatte. Nur das Maskenzimmer war neu. In Köln hatte Arthur die Vitrinen in seinem Schlafzimmer aufstellen müssen, weil seine Mutter Angst und Abscheu vor den Dämonendarstellungen empfunden hatte. Zwar war er enttäuscht darüber gewesen und hatte beständig gehofft, sie würde eines Tages wenigstens die handwerkliche Präzision und die Schönheit der Formen anerkennen, aber selbstverständlich hatte er die Meinung seiner Mutter akzeptiert.

    Überall warteten die Kisten und Kartons darauf, ausgepackt zu werden. Aber das eilte nicht. Nichts eilte mehr. Arthur hatte das Gefühl, als wäre sein Leben trotz dieses Umzugs – oder vielleicht gerade wegen ihm – zum Stillstand gekommen. Ohne seine Mutter fühlte er sich so unvollständig, so verlassen.

    Wahllos öffnete er einige Kartons und räumte ihren Inhalt in die Schränke, dann ließ er die halb ausgepackten Sachen stehen. Von innerer Unruhe getrieben, stieg er nach oben.

    »Du kannst doch nicht einfach alles stehen und liegen lassen«, hörte er seine Mutter sagen, als er langsam und bedächtig die Treppe hochschritt. »Du musst erst eine Sache zu Ende bringen, bevor du eine neue anfängst.«

    Er lächelte wehmütig und sagte leise: »Ja, Mutter.«

    Vom Fenster seines Schlafzimmers aus hatte er einen wunderschönen Blick auf das unter ihm liegende Dorf, aus dessen Mitte der Turm der neugotischen Kirche wie ein Finger in den Himmel ragte. »Du musst an Gott glauben«, hatte seine Mutter immer gesagt. »Sonst kommst du nicht ins Paradies.« Ob sie jetzt im Paradies war?

    Jenseits des Dorfes stieg das Gelände fast genauso steil an wie hier am Burgberg. Fangenburg lag in einem gewaltigen Krater, an dessen verwittertem und abgeschliffenem Ende sich eine Erhebung befand, auf der die Burg wie eine alte, matte Krone thronte, irgendwo über Arthurs Haus, einem Wächter gleich. Die Dächer unter ihm lagen in nachmittäglichem Sonnenschein, doch die Schatten wurden bereits länger.

    Arthur wandte sich vom Fenster ab, holte aus einem der Umzugskartons Laken und Bezüge für Kissen und Plumeau und machte sich mit ungelenken Bewegungen daran, sein Bett zu beziehen. Erst als er damit fertig war, bemerkte er den Hunger, der in seinem Magen wühlte. Er erinnerte sich daran, bei seinem ersten Besuch in Fangenburg einen kleinen Lebensmittelladen unweit der Kirche gesehen zu haben. Etwas Brot, Aufschnitt, Käse und Butter würden genügen.

    Arthur ging durch die stille Burgstraße hinunter ins Dorf. Dabei bemerkte er, dass sich in einem der Häuser auf der anderen Seite wieder einmal die Gardinen bewegten. So musste sich ein Tier fühlen, das in freier Wildbahn beobachtet wird. Er hatte keine Lust, sich der ganzen Straße vorzustellen, doch er beschloss, nach dem Einkauf seinem unmittelbaren Nachbarn zur Rechten einen Höflichkeitsbesuch abzustatten.

    Arthur ging an der Kirche vorbei über den von großen Linden in Schatten getauchten Vorplatz, an dessen gegenüberliegender Seite das Gasthaus Zum roten Ochsen lag. Dahinter, in der kleinen, schmalen Badstraße, entdeckte er den Laden, den er gesucht hatte: Lebensmittel Bauer.

    Ein mageres Glöckchen kündete sein Eintreten an. Eine dickliche Frau, etwas älter als er selbst, war gerade dabei, Süßigkeiten in ein Regal neben der Kasse zu füllen. Sie schaute auf, grüßte ihn knapp und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Rasch hatte Arthur das kleine Kühlregal in dem überfüllten Laden gefunden. Er nahm etwas Wurst, Käse und Butter, wobei er verstohlen auf das Haltbarkeitsdatum schielte – alles war frisch –, und nachdem er sich einen verpackten Brotlaib in die Armbeuge gelegt hatte, ging er zur Kasse. Die Frau wartete bereits auf ihn und sah ihn neugierig zwischen ein paar Blumensträußen an, die offenbar schon seit einiger Zeit vergeblich auf Käufer warteten.

    Er legte die Waren auf das kleine Band. Die Frau tippte seinen Einkauf in eine alte Registrierkasse ein. Bevor er ihr das Geld geben konnte, fragte sie hastig, als befürchtete sie, er könnte ihr auskunftslos entweichen:

    »Sind Sie hier in Urlaub?«

    Arthur schüttelte den Kopf und reichte ihr einen Zehn-Euro-Schein entgegen. »Ich bin heute hierher gezogen.«

    »Nach Fangenburg?«, fragte sie mit tiefem Zweifel in der Stimme, als hätte sie ihn nicht richtig verstanden. »Die meisten Leute ziehen von hier weg«, fügte sie hinzu, während sie den Geldschein annahm.

    »Warum?«, fragte Arthur. »Es ist doch wunderschön hier.«

    »Ja, aber es gibt zu wenige Arbeitsplätze in der Region. Hierher kann man nur ziehen, wenn man entweder schon in Rente oder aus anderen Gründen finanziell unabhängig ist.« Ihr Blick war ein einziges Fragezeichen.

    Arthur musste sich anstrengen, damit er nicht schmunzelte. Aber er sagte nichts.

    Schließlich schien die Frau es vor Neugier nicht mehr auszuhalten und platzte heraus: »Sie sind doch bestimmt noch kein Rentner, oder?« Sogleich schien ihr die Frage peinlich zu sein, und sie fügte schnell hinzu: »So jung, wie Sie wirken … na ja, es ist schön, dass Sie nach Fangenburg gezogen sind. Herzlich willkommen. Ich bin Annemarie Bauer. Mir gehört der Laden hier.«

    Arthur stellte sich ebenfalls vor.

    »In welches Haus sind Sie denn gezogen? In das Kemper’sche?«

    »Ich weiß nicht, wie man mein Haus hier nennt«, sagte er und steckte dabei das Wechselgeld ein. »Es liegt in der Burgstraße und hat die Nummer zweiunddreißig.«

    Frau Bauer sah ihn entsetzt an. »Also das Haus! Aber das ist doch …«

    »Das ist was?«

    »Ach, nichts. Ja, das stand lange leer. Ich habe mich schon gewundert, als ich Handwerker drin gesehen habe. War bestimmt viel zu renovieren, nicht war? Häuser mögen es nicht, wenn sie so lange leer stehen.«

    »Ja, es war eine Menge Arbeit, aber da ich es günstig bekommen habe, hat es sich durchaus gelohnt.«

    »Bis bald«, sagte sie unvermittelt und stand auf. Sie schien nun keine Zeit mehr für ihn zu haben. Während sie im hinteren Teil ihres Ladens verschwand, rief sie ihm zu: »Viel Glück.«

    Arthur trug seinen Einkauf nach Hause und aß in der Küche inmitten des Wirrwarrs aus halb ausgepackten Kartons, aufgetürmten Tellern, selten benutzten Kochgerätschaften, Stapeln von geblümten Geschirrtüchern und leeren Vorratsdosen. Obwohl er vorhin so hungrig gewesen war, bekam er nicht viel herunter. Er stellte die Reste in den Kühlschrank und machte sich auf den Weg zu seinem anderen Nachbarn.

    Arthur klopfte dreimal an der Tür des weiß verputzten Hauses, das mit der Traufe zur Straße gewandt im rechten Winkel zu seinem eigenen stand. Zwischen den beiden benachbarten Gebäuden befand sich ein breiter Garten, hinter dem die massige Burg mit ihren Türmen und dem Bergfried abweisend aufragte.

    Sein Nachbar schien nicht daheim zu sein; alles blieb still und reglos. Arthur zuckte die Achseln. Er würde es eben morgen noch einmal versuchen.

    Den Abend verbrachte er zwischen seinen Masken. Wie sehr er diese bunten Kunstwerke aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt doch liebte! Seine Leidenschaft für die Masken hatte begonnen, als er noch Aufseher im Rautenstrauch-Jost-Museum für Völkerkunde gewesen war. Täglich war er an zwei solchen Masken vorbeigeschlendert, und immer wieder hatten sie ihn in ihren Bann gezogen. Wie er bald herausgefunden hatte, waren es Dämonenmasken, die in rituellen Schauspielen eingesetzt worden waren und Krankheiten vertreiben sollten. Irgendwann hatte das Museum eine Sonderausstellung ceylonesischer Masken gezeigt, die in Arthur den bald unbezwingbaren Wunsch erweckt hatte, selbst solche Wunderbarkeiten zu besitzen. Und er war fündig geworden. Es hatte zwar viele Jahre gedauert, bis seine Sammlung einen repräsentativen Umfang angenommen hatte, aber es hatte sich gelohnt. Ein Völkerkundler aus dem Museum, den er einmal mit nach Hause genommen hatte, war begeistert gewesen. Seine Mutter hingegen nicht.

    Arthur holte die Schlangenmaske, die er heute Vormittag als erste aufgestellt hatte, aus der Vitrine und setzte sie auf. Sie hatte Gucklöcher unterhalb des einen vorstehenden Auges und auf der anderen Seite in einer der Schlangenschuppen. Über den Zähnen befand sich ein Schlitz, damit der Krankheitsdämon während der Zeremonie auch sprechen konnte.

    Die Welt wurde dunkel, als er sich die Maske überstülpte. Er roch das mehr als hundert Jahre alte Holz; dieser Geruch hüllte ihn genauso stark ein wie die Finsternis und verschaffte ihm immer wieder ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.

    Durch die kleinen Gucklöcher kroch die Dämmerung herein. Arthur schaltete die Deckenbeleuchtung ein und trat ans Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen.

    Draußen, mitten auf der steilen Burgstraße, stand eine Frau. Sie blinzelte in das plötzlich aufgeflammte Licht hinter Arthurs Fenster. Und riss die Augen auf. Und schrie.

    Als sei der Teufel hinter ihr her, rannte sie in das gegenüberliegende Haus. Zuerst begriff Arthur nicht. Doch dann betastete er seine Maske und die Schlange darauf. Er musste lachen, es klang dumpf hinter dem Holz. Unmenschlich. Er nahm die Maske ab und stellte sie zurück in die Vitrine. Was mochte die Frau nun ihren Nachbarn und den anderen Leuten im Dorf erzählen? Als er daran dachte, hörte Arthur auf zu lachen und seufzte. »Na, das war wohl gerade keine besonders gelungene Antrittsvorstellung«, sagte er zu sich selbst.

    Er kleidete sich zur Nacht um. Bevor er zu Bett ging, warf er einen Blick in das Gästezimmer. Auch hier stapelten sich noch die Kartons. Morgen würde er das Bett beziehen, auch wenn er keinen Besuch erwartete. Natürlich würde er dafür Mutters Bettwäsche nehmen. Leise schloss er die Tür wieder.

    Kurz bevor er einschlief, hörte er aus den Tiefen des Hauses ein klackendes Geräusch. Da! Da war es wieder. Und noch einmal. Als ob ein kleiner Gegenstand andauernd zu Boden geworfen und wieder aufgehoben würde.

    Bestimmt handelte es sich nur um eine knarrende Diele. Oder es war die Wasserleitung. Schließlich lebte er jetzt in einem über zweihundert Jahre alten Haus. Er würde sich daran gewöhnen müssen.

    2. Kapitel

    In der Nacht sah Arthur seine Mutter wieder. Sie kam ihn in seinem Schlafzimmer besuchen, hatte nebenan gelegen, im Gästezimmer, dessen Bett jetzt bezogen war, wie Arthur mit einem raschen Blick durch die geöffnete Tür feststellte, während er seine Mutter nach unten geleitete. Er zeigte ihr das Haus; es gefiel ihr sehr gut. Nur das Zimmer ganz unten, das mit den Masken in den Vitrinen, mochte sie nicht betreten. Da nahm er ihr das Gesicht ab, das auch nur eine Maske war, und stellte es in eine der Vitrinen. Als er sich wieder umdrehte, wachte er auf, bevor er den gesichtslosen Kopf seiner Mutter hatte sehen können.

    Verwirrt und schweißgebadet lag er in seinem Bett. Dann kamen die Tränen. Es war immer schlimm, wenn er von seiner Mutter träumte, weil er sie dann nach dem Erwachen noch mehr vermisste. Doch dieser Traum war so grässlich gewesen! Arthur verstand ihn nicht und war zutiefst verunsichert. Schluchzend kletterte er aus dem Bett. Die Sonne schien durch den Mittelspalt in den zugezogenen Vorhängen. Als er sah, dass der kleine Wecker neben seinem Bett bereits zehn Uhr anzeigte, hastete Arthur hinunter ins Badezimmer, wusch und rasierte sich und zog sich an. Dann verließ er das Haus, sprang in sein kleines Auto, das er dicht an der Wand geparkt hatte, und fuhr nach Kyllburg, um sich auf dem dortigen Amt als Neubürger anzumelden.

    Als er das Kratertal auf der einzigen Straße verließ, die in es hinein und nach Fangenburg führte, war ihm, als ließe er die Schatten der Nacht endlich hinter sich. Die Welt außerhalb des Vulkankegels erschien ihm irgendwie heller, freundlicher. Er fuhr durch Malberg, das war nicht größer, aber weitaus lebendiger als Fangenburg, und kam schließlich nach Kyllburg. Kurz hinter dem Ortseingang bog er nach rechts auf eine neu wirkende, breite Straße ab, kam über eine Brücke zu einem Kreisel und stellte seinen Micra auf den Parkplatz kurz dahinter.

    Als er das Rathaus mit der geänderten Adresse in seinem Personalausweis wieder verließ, hatte er das Gefühl, unwiderruflich aus den Schatten seiner Vergangenheit herausgetreten zu sein. Er stand im Licht.

    Arthur feierte seine Einbürgerung mit einem großen Mittagessen und schlenderte danach durch Kyllburg, das sich einen ebenso steilen Hang hinaufzog wie Fangenburg. Doch von der Burg, die dem Ort einen Teil des Namens gab, stand hier nur noch der Bergfried. Kurz dahinter entdeckte Arthur die kleine Stiftskirche, der er neugierig einen Besuch abstattete.

    Sie war ein spätgotisches Kleinod und besaß im Chor einige der schönsten Bleiglasfenster, die Arthur je gesehen hatte. Er kam sich wie ein Tourist vor und konnte kaum glauben, dass diese Gegend nun sein Zuhause war. Als er vor dem Altar stand und staunend die Fenster betrachtete, fühlte er sich zum ersten Mal seit der Beerdigung seiner Mutter wieder glücklich.

    Er blieb lange in der Stiftskirche, erkundete auch den verwunschenen Kreuzgang, atmete gierig die Stille und den weltenfernen Frieden dieses Ortes ein und machte sich erst am frühen Nachmittag auf den Rückweg nach Fangenburg.

    Er fuhr in das Kratertal ein, und sogleich wucherten Schatten auf den kleinen Feldern und in den Bäumen der Obstwiesen vor dem Dorf. Arthur stellte den Wagen bei seinem Haus ab, und gerade als er die schwere Eichentür aufschließen wollte, rollte ein alter, schwarzer Mercedes an ihm vorbei und parkte vor dem Nachbargebäude zur Rechten. Ein Mann in schwarzem Anzug, weißem Hemd und schwarzer Krawatte stieg aus. Er hätte ein Bestattungsunternehmer sein können, wenn da nicht seine völlig bizarre Haartracht gewesen wäre. Der Kopf war kahl geschoren; nur ein Hauch von Schwarz lag über der Glatze, auf der allerdings von einem Ohr zum anderen ein bürstenartiger Haarkranz wie ein überdimensionierter Kopfhörerbügel thronte. Zu allem Überfluss war dieser Kranz leuchtend rot eingefärbt.

    »He!«, rief der Mann Arthur zu. In seinen Augen blitzte es. »He, Nachbar!«

    Arthur zögerte zunächst, doch dann schritt er die seitlichen Stufen von seinem Haus hinunter und ging auf den seltsamen Mann zu. Der Schwarzgekleidete kam ihm entgegen und streckte die Hand aus.

    »Ich habe einen Nachbarn! Welch unbändige Freude erfüllet mir Leib und Geist!«

    Arthur ergriff die Hand und sah dem Mann verlegen in die lachenden Augen.

    »Kommen Sie herein, Sie armer Wicht«, sagte der Mann fröhlich und zerrte Arthur auf die Schwelle seines Hauses. »Treten Sie ein in die Wunderwelt von Benzedron, dem metaphysischsten Künstler der Welt!« Er schloss die Tür auf, und kurze Zeit später stand Arthur in einer Diele, die sich in nichts von den anderen Dielen dieser Welt unterschied.

    »Enttäuscht?«, fragte der Mann und lachte laut. »Ja, Benzedron zerrt die Abgründe der menschlichen Seele in das Scheinwerferlicht der Kunst – und damit meine ich wirkliche Abgründe. Aber zu Hause lässt er diese Abgründe lieber da, wohin sie gehören: in der Tiefe. Bitte hier entlang.«

    Ein Wohnzimmer: Anbauwand, Sofa, zwei Sessel, Tisch, Topfpflanzen auf der Fensterbank. Nur das großformatige Bild an der Wand über dem Sofa passte ganz und gar nicht zum Rest der Einrichtung. Auf einer Fläche von etwa eineinhalb Metern im Quadrat zeigte es das Innere eines fensterlosen Raumes mit feucht glänzenden Wänden. Von der Decke hingen hyperrealistisch gemalte Ketten, deren einzelne Glieder Arthur beinahe klirren zu hören glaubte. Von diesen Ketten wurde etwas gehalten, das Arthur unmöglich erkennen oder begreifen konnte. Während die im gemalten Raum vorherrschenden Farben Schwarz und Grau waren, badete das Ding zwischen den Ketten in allen möglichen Abstufungen von Rot. Das Gebilde schien zu erzittern; dunkles und helles Rot flossen ineinander und verwischten die Umrisse. Arthur glaubte einen Mund mit tiefrotem Gaumen und Zähnen aus Blassrosa zu erkennen – ein Schrei aus den Tiefen der Hölle.

    »Sie bewundern Avatar 33? Sehr gut. Sie haben Geschmack, nicht wie die anderen Bauerntölpel hier. Wer sind Sie? Wann sind Sie drüben eingezogen?«

    Arthur stellte sich vor und erfuhr, dass sein Nachbar mit bürgerlichem Namen Franz Schröder hieß.

    »Aber wir wollen nicht über mich reden«, meinte der Künstler. »Das hören Sie noch alles von den anderen, den braven Bürgern. Nein, wir sollten über Sie und Ihr neues Zuhause plaudern. Ich wundere mich, dass überhaupt jemand das Spukhaus gekauft hat. Nicht, dass ich mich nicht darüber freuen würde …«

    »Das Spukhaus?«, warf Arthur verblüfft ein.

    »Natürlich. Unter diesem

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