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This Weird World: Anthologie
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eBook296 Seiten4 Stunden

This Weird World: Anthologie

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Über dieses E-Book

Mit "This Weird World" präsentiert Yellow King Productions ein Kompendium der modernen unheimlichen Erzählung. Hier treffen Schwerter und Magie (Wolfgang Wessels) auf digitale Gespenster (Jeffrey Thomas), um vor düsterer Großstadtkulisse ihr Unwesen zu treiben (Joe S. Pulver Sr.). Ruhige und rätselhafte Stimmen (Michael Cisco) wechseln sich ab mit boshaften und furchteinflössenden Märchenerzählern (Oliver Susami). Ihnen allen ist gemein, dass sie ihren Lesern dunkle, unergründliche Träume bescheren. Und das auf internationalem Niveau! Neben Großbritannien und den USA ist auch Indien mit einer beklemmenden Vision vertreten (Jayaprakash Satyamurthy). Die deutschsprachige Phantastik schickt mit Jörg Kleudgen und Michael Siefener zwei ihrer bekanntesten Vertreter ins Rennen. Und damit die Träume garantiert nicht geruhsam werden, begibt sich Mitherausgeber Daniel Schenkel in "Molochs Traum" selbst auf einen Wahnsinns-Trip .
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum24. Dez. 2017
ISBN9783946309093
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    Buchvorschau

    This Weird World - Oliver Susami

    This Weird World

    Herausgegeben von Daniel Schenkel und Mario Weiß

    Impressum

    Yellow King Productions

    Mario Weiß

    An der Mittelleite 14

    92237 Sulzbach-Rosenberg

    E-Mail: info@yellow-king-productions.de

    Web: www.yellow-king-productions.de

    Übersetzung: Daniel Schenkel, Katrin Pulver

    Übersetzung Das Festmahl des Todes: Uwe Anton

    Lektorat: Katrin Pulver und Mario Weiß

    Cover: Johann Sturcz

    Coverdesign: Patrick Santy

    E-Book: Axel Weiß

    ISBN: 978-3-946309-09-3

    Oliver Susami

    Die Helfgott-Anni und der Tod

    Der fast ein Jahrhundert alte, in den letzten Jahren sehr dünn gewordene Mann ließ sich langsam, dabei umständlich seine sehnigen Beine sortierend, auf einem der Baumstümpfe nieder. Unten herum, etwa bis zur Höhe des Bauchnabels, war alles schon ein wenig schwach. Das Gehen, das Hinsetzen, das unausweichliche Wieder-Aufstehen: anstrengende, würdelose Angelegenheiten. Und bei den Kniebeugen, die er ab und an noch versuchte, knarzten die Gelenke wie totes Geäst.

    Oben aber, oberhalb des 96-jährigen Bauchnabels – ein interessanter Gedanke, fand er: Mein Nabel ist ein klein wenig jünger als ich – da war noch Saft und Kraft. Fünf Klimmzüge gingen noch, und vor ein paar Jahren hatte er sogar noch Liegestütze fertiggebracht.

    „Dann lass dir die untere Hälfte halt absägen, hatte eine seiner drei Töchter einmal zu ihm gesagt, „dann kannst du dich mit den Händen durch die Gegend hangeln … magst ja gern Kinder erschrecken.

    Als der alte Mann endlich eine erträgliche Sitzposition gefunden hatte – auch das Hinterteil war knochiger als früher, fast musste man ihm ein Kissen umbinden – schaute er einen Moment ins Feuer, genoss die Wärme und lauschte dem Knacken und Prasseln. Dann gab er ein tiefes, kehliges Geräusch von sich.

    Völlige Stille, sogar die Flammen schienen sich zu beherrschen. Langsam beugte sich der alte Mann nach vorne.

    „Habt ihr dieses Brummen gehört?", fragte er die um das Feuer versammelten Kinder. Einige nickten, andere linsten leise kichernd zu ihren Nachbarn hinüber.

    „Ich befürchte, es sind Brummbären in der Nähe, fuhr der alte Mann fort. „Wir müssen alle ein wenig näher an das Feuer rücken, wollen wir nicht von ihnen gefressen werden.

    Die Kinder rückten mit ihren Hockern und Decken ein wenig näher heran, spürten nun noch deutlicher die Hitze.

    „Na, mich würden sie ja nicht fressen!, sagte der alte Mann. „An mir ist nichts mehr dran. Aber euch saftigen, wohlgenährten Kindern, euch würden sie eins-zwei-drei den Garaus machen!

    Als er dies sagte, da vermied er es, einen seiner Urenkel anzusehen, der tatsächlich ein wenig sehr saftig, ein wenig sehr wohlgenährt war. Wieder Kichern, wieder wurden Blicke getauscht.

    „Erzähl uns eine Geschichte", sagte einer der Jungen.

    Der Kopf des Alten fuhr herum, sein Hals war faltig wie der einer Riesenschildkröte. „Waaas? Eine Geschichte? Wer hat das gesagt? Mit weit aufgerissenen Augen fixierte der Alte seinen Urenkel. „Wer wagt es, eine Geschichte zu verlangen?

    „Ich", sagte der Junge mit breitem Grinsen im Gesicht.

    „Du? Der alte Mann reckte das Kinn und rollte die Augen. „Bist du nicht derjenige, der geweint hat, als ich das letzte Mal eine meiner Geschichten-

    „Das war nur ein einziges Mal, protestierte der Siebenjährige. „Nur ein einziges Mal, äffte der Alte den Jungen nach. „Nur ein einziges Mal. Wie spät ist es?"

    Eines der größeren Kinder – das Mädchen war elfeinhalb Jahre alt und trug bereits stolz einen BH – zog ein Handy aus der Tasche.

    „Halb acht."

    „Oh, halb acht schon, das blinkende Wunderding sagt, dass es halb acht ist! Dann müssen einige von euch ja bald ins Bett!"

    Sofort brach ein Sturm … nun ja, ein Wind, ein nicht sehr kräftiger Wind des Protestes los. Den ganzen Tag hatten die Kinder draußen gespielt, die Aussicht aufs Bett war gar nicht sooo schlecht.

    „Aber wisst ihr was? Der Alte machte eine Pause, grinste in die Runde. „Ich werde ausnahmsweise zwei Geschichten erzählen. Eine für alle und eine für … die groooßen Kinder. Und die, die ich für die groooßen Kinder erzählen werde, die ist so grauenerregend, dass sie selbst einem alten Affen wie mir den Schlaf raubt.

    Er sah sich um. Drei der sieben Kinder blickten auf den Boden, die anderen starrten ins Feuer.

    „Was? Ihr glaubt mir nicht? Na, dann passt mal auf, ihr kleinen Angsthasen. Die Geschichte heißt: Die Helf- … Im letzten Moment erinnerte er sich an sein Vorhaben, erst eine Geschichte für alle zu erzählen. Sein altes Hirn kriegte die Kurve und er sagte: „Das Mädchen und der Elefant.

    In der nächsten halben Stunde verballhornte der Greis den Inhalt eines Buches, das er als junger Vater seiner Tochter vorgelesen hatte: Ein Kind geht im Wald verloren, wird von einem wilden Tier gefunden und die beiden schließen Freundschaft. Irgendwann kommen die bösen Menschen, um das gute Tier zu töten und das Kind heimzuholen. Das Kind hilft daraufhin dem Tier … und so weiter und so fort, bla-bla-bla.

    Der Alte fand seine Version der Geschichte überhaupt nicht gelungen, die Kinder aber waren zufrieden. Pünktlich zum letzten Satz (der Junge drehte sich noch einmal um, und da sah er eine große, graue Gestalt, die, verdeckt von Blättern und Ästen, ihren großen, grauen Rüssel hob … als würde sie ihm zum Abschied winken.) kam die Mutter von drei der sieben Kinder den schmalen Weg hinunter, der zum Gästehaus führte.

    „So, es ist Schlafenszeit. Julian, Laura und Thomas, genug für heute. Opa Franz erzählt seine Geschichte morgen weiter."

    Sofort der obligatorische Protest … und natürlich die Schadenfreude derer, die noch nicht ins Bett mussten. Aber die 40-jährige Frau, die übrigens die Enkelin des Alten war, blieb hart: „Nichts da, keine Widerrede, morgen ist auch noch ein Tag!"

    Als sie die Kinder Richtung Haus geschickt hatte, zischte sie ihren Großvater an: „Keine Gruselgeschichten heute. Mach den Kleinen keine Angst."

    „Nein nein, natürlich nicht." Er sagte es und grinste in das, was von der Runde noch übrig war. Wie schön doch das Feuer brannte.

    „Ist sie weg?, fragte er nach etwa einer halben Minute. „Oder beobachtet sie uns mit ihren großen gelben Hexenaugen?

    „Sie ist weg, sagte eines der Kinder. „Ja, sie ist weg, bestätigte flüsternd ein anderes.

    „Gut, dann mal Butter bei die Fische. Die Geschichte, die euch den Schlaf rauben wird, heißt:

    Die Helfgott-Anni und der Tod

    Und jetzt geht sie auch schon los.

    Ihr glaubt vielleicht, dass ich nie im Leben Angst gehabt habe, wie? Aber auch ich bin einmal ein kleiner Bub gewesen und als kleiner Bub, da ist es ganz gesund, wenn man ab und zu tüchtig Angst hat! Ein Kind, das nie Angst gehabt hat, wird zu einem Erwachsenen, der nicht auszuhalten ist – glaubt ihr mir das? Herrgott noch mal, ich hatte manchmal solche Angst, dass ich an beiden Enden geheult habe. Wisst ihr, was ich meine? Oben kam es salzig und unten warm, in die Hosen habe ich mir gemacht vor Angst!

    Wie dem auch sei, damals war eine ganz andere Zeit als heute, kaum einmal haben wir ein Auto, ein Flugzeug oder einen dieser wunderlichen Stadtmenschen gesehen. Und meine Großmutter, die hat bis zu ihrem Lebensende geglaubt, es gäbe überhaupt nichts außerhalb des Dorfes. Die dachte tatsächlich, das Tal, in das sie der Herrgott gesetzt hatte, sei die ganze Welt! Und wenn man zu weit über die Felder hinaus ginge, dann würde man von der Kante der Welt in einen dunklen, mit schreienden Seelen bevölkerten Abgrund stürzen.

    Damals wohnten wir – meine zwei Schwestern, meine beiden Großmütter, meine Eltern und ich – in einem Bauernhaus von der Art, wie es sie heute nur noch auf Postkarten gibt. Und hundert Meter weiter, über die Straße, über einen aus grobem Holz zusammengehauenen Zaun und einen Streifen Feld hinweg, stand ein noch viel größeres Haus, ein wahrer Koloss, auf den man im Laufe der Jahre, wie bei einer Hochzeitstorte, Stockwerk um Stockwerk gepflanzt hatte. Der Maierhof – so hieß er nämlich – war das stattlichste und schönste Gebäude im Umkreis von fünfzig Kilometern, ein weithin sichtbarer Riese, der so schwer an seiner Fülle trug, dass er mit einer Seite bereits in den Boden sank. Hätte sich ein vorwitziges Kind in das große Haus hineingewagt, um dort mit Murmeln zu spielen, sie wären ihm wie von Geisterhand weggerollt, so schief stand das Haus in der Landschaft.

    Aber natürlich hätte sich nie ein Kind in den Maierhof getraut … kein noch so vorwitziges und kein noch so dummes. Nein, nie und nimmer! Nicht in den Maierhof!

    Als ich Anfang der Zwanziger das Licht der Welt erblickte, stand der Maierhof noch in voller Blüte. In den Ställen blökte und muhte, grunzte und krähte, schiss und brunste gesundes, wohlgenährtes Vieh, auf den Feldern wuchs Getreide, auf das man nur neidisch sein konnte … und natürlich auch war! Giftig funkelte den Nachbarn der grüne Neid aus den Augen. Obwohl sie spendabel und hilfsbereit waren, obwohl sie sich nichts zuschulden kommen ließen und immer zügig alle Rechnungen beglichen, fanden die Nachbarn keine guten Worte für die Maier-Bauern. Stattdessen hieß es: Auf dem Maierhof geht es nicht mit rechten Dingen zu! Und: Das ist nicht recht, dass die Maier-Bauern Jahr für Jahr solch stattliche Ernte einfahren, dass auf ihren Feldern doppelt so viel wie auf unseren wächst, dass sie Kartoffeln so fett wie Kürbisse aus der Erde graben, dass sie Jahrzehnte schon von Missernten verschont bleiben und ihre Ackerpferde so rund und wohlgenährt sind, als würde sie der Leibhaftige selbst mit Hafer und zerstoßenem Mais mästen. Herrje, sogar das Gras war grüner auf den ausgedehnten Weiden der Maier-Bauern. Grüner, höher, saftiger, es roch sogar frischer! Immer wieder ging das Gerücht, die Maier-Bauern hätten einen Pakt mit üblen Mächten geschlossen, hätten vor Generationen für ein Übermaß an irdischen Gütern ihre Seelen verkauft. Da konnten sie noch so inbrünstig die alten Kirchenlieder singen! Da konnten sie noch so unschuldige Gesichter machen! Da konnten sie noch so freigiebig in den Klingelbeutel geben! Mit den Maier-Bauern stimmte etwas nicht, ganz und gar nicht! Diese Kartoffeln, wirklich, groß wie Kürbisse waren die! Das konnte und konnte und konnte nicht mit rechten Dingen zugehen!

    *

    Ich war fünf, als der Maierhof brannte und das Unheil seinen Lauf nahm. Ein verteufelt stürmischer Tag war das damals, Blitze durchzuckten den grau und schwer über die Tannenwipfel kriechenden Himmel, in den Ställen schrie das Vieh und meine Großmütter brabbelten mit vor Schreck geweiteten Augen Gebet um Gebet gen Himmel. Alle Heiligen, alle Engel und Märtyrer, der Herrgott und sein Sohn, die Heilige Jungfrau Maria und der Heilige Geist, alle bekamen reichlich, niemand ging leer aus.

    Und dann, als der Gewittersturm gerade gen Westen abziehen wollte – zu den Franzen, wie mein Vater sagte –, wurde es ganz warm und seltsam hell in unserer großen Stube. Rotes Licht drang durch die kleinen Fenster, das Vieh tobte noch wüster und uns allen war, als sei ein gewaltiger Ofen angesteckt worden. Meinem Vater, Gott hab’ ihn selig, trat gar der Schweiß auf die Stirn und er griff, dabei Worte des Erstaunens und Erschreckens murmelnd, zu dem rotweiß karierten Taschentuch, das er stets bei sich trug.

    Auf einmal rüttelte es an der Tür. Jemand brüllte, wir sollten aufmachen.

    „Der Leibhaftige!, verkündete eine meiner Großmütter. „D-D-Der wilde Jäger mit dem T-T-Totenheer, stotterte die andere. Beide sahen aus, als würde sie gleich der Schlag treffen. Schon war mein Vater aufgesprungen, drängte sich an uns vorbei zur Tür. Und ich hinterher, geschickt dem Griff meiner Mutter ausweichend.

    Es war der Maier-Bauer. Ihm standen die Haare zu Berge.

    „Der Hof brennt! Helft uns! Mein Gott, helft uns doch!"

    Mein Vater war einen Moment wie erstarrt. „Feuer, hörte ich ihn murmeln. „Mein Gott, Feuer. Schon läutete stürmisch die Kirchenglocke. Im nächsten Moment stürzte er aus der Tür, dem Maier-Bauern hinterher. Und dem Dreikäsehoch, der ich damals war, bot sich ein Anblick, der mich teils mit Grauen, teils mit Ehrfurcht erfüllte.

    Der Maierhof brannte nicht einfach, er war vom Feuer umschlossen. Bis übers Dach hinaus züngelten die gewaltigen Flammen.

    „Erna! Roswitha! Haltet die Kinder in der Stube!, fuhr meine Mutter die Alten an. Dann stürzte sie, dabei ihre vielen Röcke raffend, meinem Vater hinterher. „Schnell! Zum Löschteich!, hörte ich einen der Nachbarbauern brüllen. „Eine Kette bilden!" Und da packte mich Großmutter Erna grob am Arm, wollte mich zurück ins Haus zerren, weg vom Spektakel. Aber ich kämpfte aus Leibeskräften, wand mich wie ein glitschiger, nur aus Muskeln bestehender Fisch, musste dieses Wunder sehen, diesen gewaltigen Scheiterhaufen, musste die Hitze spüren und das Tosen hören. Nie zuvor hatte mich etwas dermaßen beeindruckt.

    Letztendlich waren es nicht die kleinen, heiser ihre Befehle bellenden Menschen, die das Feuer löschten. Was konnten sie schon ausrichten mit ihren ledernen Eimern, ihren nassen Lappen und der alten, eilig herbeigeschafften Druckspritze, in die man das Wasser oben hineinkippen musste und die nur mit schwachem Strahl schoss? Was dem Brand den Garaus machte, war ein gewaltiger, urplötzlich über das Tal hereinbrechender Regen, eine wahre Sintflut. „Gott hilf uns", murmelten die Frauen, während die Männer nur kopfschüttelnd in das vom Himmel stürzende Wasser schauten. Die Eimer mussten nicht mehr gefüllt werden, sie füllten sich von alleine.

    Nach gut einer Stunde, als der Himmel sich seiner Last entledigt hatte, brach die Abendsonne hervor. Goldenes Licht flutete das Tal und schwarz glänzte der verbrannte Hof.

    Ein Moment völliger Stille, Erwachsene und Kinder, Frauen wie Männer sahen gebannt zum Himmel empor. Als wäre der Allmächtige selbst in den Wolken erschienen.

    Und dann war da plötzlich dieses Rufen. Und die Leute waren wieder da, wie aus einem wunderlichen Traum erwacht. Verwirrt schüttelten sie die Köpfe und schauten, wer da solchen Lärm veranstaltet.

    „WO IST DIE ANNI?, brüllte der Maier-Bauer, dabei wie ein Wahnsinniger von Mann zu Mann und von Frau zu Frau laufend. „HAT JEMAND MEINE ANNI GESEHEN?

    *

    Nein, niemand hatte sie gesehen. Die drei Kinder waren in Sicherheit, ebenso die übrige Verwandtschaft, die beiden Mägde, der Knecht und sogar das Vieh. Aber die Anni, was war mit der Anni? Wie ein Irrer suchte der Maier-Bauer nach seiner Frau … bis ihn einer der anderen Männer grob an den Schultern packte und ihm sagte, er solle endlich „zur Besinnung" kommen.

    Und der Maier-Bauer hielt tatsächlich inne, schien sich zu beruhigen. Aber im nächsten Moment riss er sich schnaubend los, stürzte auf das verbrannte Haus zu. „Sie muss noch drin sein!, rief er. „Kommt mit! Helft mir die Anni suchen! Kommt doch!

    Zunächst rührte sich niemand. Selbst mein Vater, der zeit seines Lebens ein mutiger Mann gewesen war, der selbst auf dem Sterbebett noch seine Scherze mit dem Tod getrieben und mehrmals so getan hatte, als sei er schon hinüber, war wie zur Salzsäule erstarrt. Bedrohlich, wie ein dampfendes, atmendes Untier lag der Maierhof da, pechschwarzer Rauch stieg auf, vermischt mit hellem, sich im Licht der Abendsonne windendem Nebel. Warum, so fragte sich ein jeder insgeheim, war der Koloss nicht in sich zusammengestürzt? Ganz und gar hatte das gewaltige Haus in Flammen gestanden … und nun war nicht einmal das Dach eingebrochen. Erst als eine alte, schon ganz zahnlose Frau „Nun geht schon, ihr Schlappschwänze!" keifte, setzten sich die Männer in Bewegung.

    Man fand die Maier-Anni lebend. Sie hatte sich in den großen Küchenschrank geflüchtet, hatte nasse Decken und Laken über sich gebreitet und sich ganz klein gemacht. Trotzdem war ihr Haar versengt und rund eine Stunde vermochte niemand, die arme Frau aus ihrer Besinnungslosigkeit zu holen.

    „Aber sie atmet doch, wiederholte ihr Mann. „Schaut! Sie atmet doch. Schaut doch, wie sich die Brust hebt!

    Und als endlich der Doktor da war und – nachdem er ihr Überleben offiziell gemacht hatte – die immer noch ganz erhitzte Bäuerin mit Riechsalz und feuchten Tüchern traktierte, da fiel der Maier-Bauer auf die Knie und dankte dem Allmächtigen für die Rettung seiner Anni.

    „Pah!, hörte ich meine Großmutter hinter mir zischen. Wir standen etwa sechs Meter von der Szene entfernt. „Dem Allmächtigen dankt er, der Unmensch! Die gerechte Strafe hat sie ereilt, ich sage es euch. Gottes Strafe ist über die Anni gekommen. Endlich!

    Meine Mutter drehte sich zu meiner Großmutter um.

    „Erna."

    „Hä?"

    „Halt dein Schandmaul oder ich stopf’s dir zu."

    „Wa-Was?"

    „Du hast mich schon verstanden, Erna."

    Meine Großmutter hielt tatsächlich – aber nur ausnahmsweise – ihr Schandmaul. Fast drei Stunden lang hielt sie es. Leise vor sich hin grummelnd, mürrisch, sich wie ein beleidigter Käfer über ihre Schüssel beugend, nahm sie die abendliche Mahlzeit ein.

    „Nun sei wieder gut, sagte mein Vater über den Tisch hinweg zu ihr. „Wer austeilt, muss auch einstecken. Du hast doch sonst kein so dünnes Fell, Erna.

    Als Antwort bekam er nichts als ein „Pah!" und einen giftigen Blick. Als sie aufgegessen hatte, verzog sich meine Großmutter in ihre Stube und beklagte sich beim Herrgott über das ihr geschehene Unrecht.

    Es war kurz nach acht, für mich fast schon Schlafenszeit, als ich an meinen Schwestern vorbei zu dem kleinen, vieräugigen Fenster schlich, das in Richtung des Maierhofs ging. Ich zog den Schemel heran, stieg hinauf und erreichte den Griff. Und als ich das Fenster endlich offen hatte, da nahm ich zum ersten Mal diesen durchdringenden Geruch wahr, dieses Mischmasch aus süß und bitter, ölig und verkohlt. Der vom Feuer geschwärzte Maierhof stank ganz fürchterlich, als käme er direkt aus der Hölle und sei eben erst durch die Erdkruste gebrochen.

    Eine Weile betrachtete ich das gewaltige, schwarz glänzende Gebäude, dann lief es mir kalt den Rücken hinunter und ich stürzte zu meinem Bett. Unter Decken vergraben hörte ich, wie jemand, sicher eine meiner Schwestern, das Fenster schloss und den Schemel beiseitestellte.

    *

    In den Monaten nach dem großen Brand ging es fürchterlich abwärts mit dem einst so stolzen Hof. Auf den Feldern stank die faulende Frucht, Massen an Ungeziefer suchten die Obstbäume heim, zwei der stattlichen Pferde starben mit aufgeblähten Bäuchen und die Kühe gaben – das behaupteten zumindest meine beiden Großmütter – braune Milch, die nach eiternden Wunden stank und lediglich zum Vergiften der Ratten taugte.

    Der Maier-Bauer tat sein Bestes, um den Hof wieder herzurichten. Bis in die Nachtstunden hinein war ein beständiges Sägen und Hämmern zu hören, oft sah man ihn zusammen mit dem Knecht auf dem ausladenden Dach herum steigen, die Holzschindeln zum Ausbessern schafften sie auf Schubkarren heran. Sie versuchten sogar, die geschwärzte Fassade zu streichen. Aber anscheinend wollte das Haus mit Gewalt sein schwarzes Trauerkleid behalten, in großen Fetzen fiel die Farbe herab.

    Den Mann und die Kinder bekam ich immer wieder einmal zu Gesicht, ebenso die Großeltern und den Knecht. Die beiden Mägde – auch das wusste ich von meinen Großmüttern – hatten gekündigt, nachdem sie im schwarzen Haus dem Teufel begegnet waren. Und verschwunden war auch die Maier-Anni, das Wunder aus dem Küchenschrank, die Frau, die unter Decken und Tüchern das Höllenfeuer überlebt hatte. Es hieß – diese Ansicht vertrat unter anderem mein Vater – die Anni sei in der Schweiz bei einem Lungenarzt, der ihr mit teuren, hierzulande gänzlich unbekannten Apparaten den reichlich eingeatmeten Rauch aus den Lungen pumpe. Eine andere Geschichte sagte, die Maier-Anni sei verrückt geworden und über die Felder weggerannt. Jetzt lebe sie nackt und schmutzig in den Wäldern, grabe nach Engerlingen und fresse Eier aus Vogelnestern.

    Tatsächlich war – das erfuhr ich aber erst später – die Maier-Anni für einen Monat in ein teures Sanatorium an der Nordsee gefahren, anschließend hatte sie drei Wochen bei ihrer Schwester verbracht, nur vier Dörfer weiter.

    Als die Bäuerin eines trüben Nachmittags zurückkehrte, da standen meine beiden Großmütter hinterm Fenster, murmelten Gebete und bekreuzigten sich. „Schießbudenfiguren" nannte mein Vater die beiden, in zahllose Lagen Stoff gewickelten Frauen. Auf mich wirkten sie wie fette, auf Beute lauernde Spinnen.

    *

    Der Abstieg war unaufhaltsam. Abwärts, immer weiter abwärts ging es mit dem Maierhof. Ein halbes Jahr nach dem Brand hatte auch der Knecht das Weite gesucht, die vier überlebenden Pferde waren verkauft worden und selbst von den Kühen, früher der Stolz des Hofes, waren nicht mehr viele übrig. Nachts, wenn der Wind nicht zu arg durchs Tal rauschte, hörte man das Schreien und Weinen der Kinder und die wilden Streitereien der Eltern. In den Ställen brüllte das Vieh und einige Male war mein Vater kurz davor, die große Holzaxt aus dem Schuppen zu holen und die Rindviecher von ihren Qualen zu erlösen.

    „Es ist eine Schande, sagte er zu meiner Mutter. „Ich weiß nicht, was dort drüben vor sich geht, aber dass sie die Tiere so leiden lassen, das ist eine erbärmliche Schande.

    Nur mit beträchtlichem Körpereinsatz konnte sie ihn davon abbringen, in seine Stiefel zu schlüpfen.

    *

    Ein Jahr verging, ich feierte meinen sechsten Geburtstag und bekam neue Schuhe sowie eine kurze Hose aus Schweinsleder. Solche Sachen bekam man damals zum Geburtstag … und man hat sich gefreut darüber!

    Der schwarze Maierhof war mittlerweile ein Ort der Aussätzigen geworden, kaum einmal wagte sich jemand in die Nähe des großen, verwahrlosten Hauses. Und wenn die Maier-Bauern in die Kirche gingen, dann hatten sie eine ganze Reihe für sich. Selbst der Pfarrer schien sich zu scheuen, den Unglücklichen die

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