Malverde: Das Unkraut namens Lüge gedeiht überall
Von Brigitte Brandl
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Über dieses E-Book
Aus Rivalität wird Liebe. Eine Liebe, die alle wollen: Piet, Acacio, ihr Umfeld - die Gebildeten ebenso wie die die einfachen Bauern im Regenwalddorf. Aber niemand bekennt sich dazu. Denn alle haben ihre Gründe.
Nicht die tödliche Krankheit führt zur Katastrophe, sondern die Lüge. Und die Katastrophe nimmt ihren Lauf.
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Buchvorschau
Malverde - Brigitte Brandl
2
Was für ein Blick! Der Landeanflug auf den internationalen Flughafen El Dorado ist stets spektakulär. Die Maschine durchkreuzt enorme Wolkentürme, dann wieder reißt die Wolkenwand auf, und das Panorama ist faszinierend: die Bergketten halten die die weite Hochebene wie in einer Umarmung, und über das gesamte Gelände erstreckt sich die Stadt wie ein braunroter Flickenteppich. Sie baut sich auf aus den verstreuten Siedlungen am Rande, die in die Täler hineindringen und weit über den Fuß der Berge hinauf. Im Zentrum ragen die Hochhaustürme hinaus aus dem Braunrot mit ihren hellen Fassaden und den Reihen dunkler Fenster, die aus der Ferne wie ein Streifenmuster aussehen. Die Hochhäuser ballen sich auf einem - im Vergleich zu den Ausmaßen der Stadt - kleinen Terrain, als habe man sie gewaltsam in den Flickenteppich gesetzt. Oder als hätten sie sich aus dessen Falten gebildet, als das Gebirge sich gegen die Ausdehnung der Stadt gewehrt und sie zusammen geschoben hat. Unwirtlich sind sie, fast schon hässlich; sie stören die sanfte Lage der Stadt in ihrer Hochebene und wollen trotzig mit den mächtigen Bergen um sie herum in einen Wettstreit treten.
Die Maschine schwebt in einer weiten Rechtskurve ein, bedrohlich schräg. Immer wieder scheint sie kurz davor, mit der Tragfläche die Berge zu streifen. Dann, als nähme sie Anlauf, zielt sie auf die Stadt. Nun kann man die Häuser erkennen. Der braunrote Brei löst sich auf, und man sieht das Schachbrett aus Straßen, alle angeordnet von Nord nach Süd und von Ost nach West, kleine Vorortgassen und breite Avenidas, die ins Stadtzentrum führen. Gärtchen werden sichtbar, kleine Parks und begrünte Plätze. Die Hochhäuser haben aus dieser Perspektive ihre Bedrohlichkeit verloren, und was man vorher noch für einen in der Sonne schimmernden See gehalten hatte, entpuppt sich nun als eines der riesigen, mit Kunststoffplanen überzogenen Schnittblumenfelder, die überall am Stadtrand liegen. Man sieht mittlerweile auch deutlich die Masten der Seilbahn hinauf nach Monserrate, Bogotás berühmtem Ausflugsziel. Das weiße Kloster thront dort mit seinem spitzen Turm über der Stadt wie eine päpstliche Mitra. Der Flughafen ist sichtbar, obwohl noch recht weit entfernt, und er scheint auf einem grünen Teppich zu liegen, durchzogen vom grauen Muster der beiden Pisten. Das Flugzeug legt sich erneut auf die Seite, diesmal nach links abdrehend, und steuert schließlich auf die Landebahn zu. Es liegt an den Winden, heißt es, dass eine zusätzliche Kurve geflogen werden muss, sonst wäre die Gefahr zu groß, dass die Maschine vor dem Aufsetzen von heftigen Böen erfasst würde.
Der Flughafen ist klein für eine Stadt mit über 6 Millionen Einwohnern. Auch Piet hatte sich bei seiner ersten Ankunft damals etwas Vergleichbares vorgestellt: La Guardia, Heathrow oder Charles de Gaulle, aber der Flughafen der kolumbianischen Hauptstadt wirkt wenig weltstädtisch.
Er stand wieder hier, auf diesem Flughafen, mit nicht halb so viel Gepäck wie beim letzten Mal, und sein Entschluss, hierher zu fliegen, kam ihm auf einmal wie ein törichtes Hirngespinst vor. Bei seiner Abreise aus Deutschland war er in einer seltsamen Eile gewesen, hatte sich gar nicht überlegt, was er hier wirklich wollte. Als könne er das Unfassbare noch verhindern, als läge es an seinem rechtzeitigen Eintreffen, Acacios Leben zu retten! Doch er wusste, dass er hatte herkommen müssen, und sollte es nur gewesen sein, um endgültig Abschied zu nehmen, ein paar Blumen auf Acacios Grab zu legen und Hugo, Pablo, Flor und Maria die Hand zu drücken. Er erinnerte sich, wie Henning einmal gesagt hatte, dass das Ritual des Abschieds eine gute Hilfe sei, einen Verlust zu verarbeiten, einen echten Schlussstrich zu ziehen. Sei es, in dem man ein Foto zerriss oder persönliche Dinge bewusst wegwarf, die eine Verbindung zu dem Verlorenen hatten, oder indem man eine Geste tat, wie die Blumen auf ein Grab zu legen. Es war ihm klar, dass es ein Abschied sein würde. Sie hatten ihn bereits begraben. Und wenn Hugo nicht ein so sentimentaler, alter Esel wäre, hätte Piet es vermutlich noch nicht einmal erfahren!
Drei große Maschinen waren kurz hintereinander gelandet. Die Reisenden bewegten sich in Richtung Ausgang, beladen mit ihren Koffern, Taschen und Rucksäcken. Piet ließ sich treiben mit der Menge, erschöpft von dem langen Flug und geschwächt von der Trauer und der Einsamkeit, die er spürte, seit er Deutschland verlassen hatte. Das Stimmengewirr um ihn herum machte ihn nervös. Es war noch ein langer Weg durch das Ankunftsterminal, bis sich schließlich drsaußen die Menschenmenge in ihre Wege zerstreuen würde. Ihm war übel. Ihm war schon den ganzen Flug über übel gewesen. Jedes Mal, wenn er versucht hatte, zu schlafen, sah er den Wagen sich vor ihm überschlagen. Er suchte Acacios Gestalt in dem tobenden Metallkäfig, wollte ihm ins Gesicht sehen, als gäbe dies den Beweis dafür, dass Acacio tatsächlich in dem Unglücksfahrzeug gesessen hatte und in ihm gestorben war. Aber er hatte Acacios Gesicht nie gesehen. Nicht mal seinen Körper.
Am Ausgang angekommen drängte er sich durch die Massen von Leuten, die ihre Angehörigen, Freunde, Geschäftspartner, Liebhaber und Feriengäste abholten, Studenten mit bunten Rucksäcken, Frauen mit kreischenden Kindern auf dem Arm, Männer mit angestrengtem oder gelangweiltem Blick, die Selbstgedrehte im Mundwinkel, obwohl sie längst nicht mehr brannte. Piet schob die Wartenden zur Seite; er sah sie nicht an, so als wolle er etwas verbergen, als sei sein Grund, hier zu sein, unwichtig im Vergleich zu dem der anderen. Ihn würde auch niemand abholen, man erwartete ihn nicht einmal. Er schluckte den Kloß im Hals hinunter und wischte sich übers Gesicht. „Henning, dachte er, „wie fein sind deine Theorien! Wie gut tun sie, wenn man sie nicht in Taten umsetzen muss!
Einen Augenblick überlegte er, mit dem Bus weiter zu fahren. So hätte er noch viele Stunden Zeit, seinen Gedanken nach zu hängen und vielleicht doch endlich mal, mit dem Kopf gegen das Busfenster gelehnt, zu heulen.
„Es dauert nicht lange, Henning, hatte er damals gesagt. Und er hatte noch keine Woche vorher vor allen verkündet, dass er es leid sei, Keimkulturen mit Wirkstoffen zu beschießen und hochgelobt zu werden dafür, dass daraus irgendwann ein Medikament würde.
„Henning, hatte er gesagt, „ich bin Mediziner, aber ich habe bestenfalls im Klinikum Infusionen gelegt, aber noch nie einen kranken Menschen gesund gemacht.
Wo war dieser Wunsch auf einmal hergekommen? Es hatte ihn doch noch nie etwas gestört an seiner Arbeit, und er war froh gewesen, als die Zeit in der Klinik vorbei war! Auch Silvia hatte sich zwar gefreut darüber, dass Piet nun erstmals auch so etwas wie Mut bewies, aber sie war nicht gerade begeistert gewesen von der Idee, dass er sich so kurz vor der Hochzeit zu diesem Himmelfahrtskommando im kolumbianischen Dschungel melden wollte. Piet hatte solche Wünsche noch nie vorher geäußert!
„Ich muss das tun, Silvia, hatte Piet beteuert, „ich brauche das jetzt.
Er brauchte das.... Im Nachhinein war ihm klar, was ihn vor einem halben Jahr wirklich getrieben hatte! Warum war ihm vorher nicht bewusst geworden, dass er Silvia gar nicht heiraten wollte? Warum dieser Vorwand? Vielleicht hätte er Henning fragen sollen, der war Psychologe.
Piet schulterte seinen Rucksack und trat auf die Straße. Gegenüber des Flughafens gab es einige Autovermietungen, und er würde noch vor dem Einbruch der Dunkelheit in Casillas ankommen. Er hatte das Gelände der Autovermietung noch nicht betreten, da sah er den Wagen stehen: den Buick Convertible aus den Siebzigern, ockergelb, mit blauen und roten Streifen an den Seiten. Lober blieb stehen, und auf einmal wollte sein Herz seinen Kehlkopf aus dem Hals drücken. Er umklammerte die Trageriemen des Rucksacks und ging langsam zu dem Buick. Vorsichtig führte er seine Hand über den Kühler, ungläubig, als wolle er sich vergewissern, dass er jetzt nicht vor Trauer und Erschöpfung einer Halluzination aufsaß. Doch der Wagen stand echt und wahrhaftig vor ihm! Wie konnte das sein? Hugo hatte am Telefon gesagt, der Wagen habe sich zweimal überschlagen, und jetzt stand er hier und hatte noch nicht mal eine Schramme! Piets Beine zitterten. Er stützte sich auf das Auto und stierte in den Innenraum.
„Kann ich ihnen helfen, Señor?" hörte er eine Stimme hinter sich. Erschrocken fuhr er herum und sah in das freundliche Gesicht eines kleinen, dicklichen Mannes mit Baskenmütze, der sich seine Hände an einem Tuch abwischte und hastig die halbgerauchte Zigarette auf dem Boden zertrat.
„Suchen Sie einen Wagen?"
Lober schluckte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als wollte er den Schweiß wegwischen und nicht die Tränen. „Ja, dieser hier ist sehr schön!"
„Perdoneme,. Der Mann verzog verstört das Gesicht. „Der Wagen ist für meinen Sohn. Er wird nächste Woche fünfundzwanzig, und ich habe lange gespart, um einen Wagen für ihn zu kaufen!
Der Mann lächelte breit und schien gar nicht zu verstehen, warum der fein gekleidete junge Ausländer seine Freude und seinen Stolz gar nicht teilte.
„Haben sie ihn in Casillas del Bosque gekauft? fragte Piet, „im Hochland?
Der Mann zuckte zusammen. „Woher wissen Sie …."
„ Ich habe den Besitzer gekannt."
„Jaja, der Mann nickte eifrig mit dem Kopf, „jaja, der Bürgermeister! Ist ihm zu groß und zu sperrig geworden, sein schönes Baby!
Lachend klopfte er auf den Kühler. „Man wird eben doch alt, und da treibt man es nicht mehr so wild. Das können Sie aber nicht verstehen, hijo, Sie sind ja noch so jung!"
Ohne den Mann anzusehen entgegnete Piet, der Wagen habe nicht dem Bürgermeister gehört.
Der Mann riss die Augen auf. „Wem dann?"
„Jemandem, den ich gut kannte."
Piet holte tief Luft. Dann beschwor er den Autovermieter, mit ihm zusammen rüber ins Flughafengebäude zu einer Bank zu gehen. Er würde ihm jeden Preis für den Buick zahlen, den er haben wolle, denn er brauche diesen Wagen, unbedingt. Doch der Autovermieter ließ sich nicht beirren. Er entschuldigte sich erneut und betonte, wie außerordentlich er es bedaure, aber den Wagen bekäme sein Sohn.
Lober stand da, hielt seinen Rucksack umklammert und stierte auf den Boden. Er sah, wie sein Blick immer mehr verschwamm. Dann presste er heraus: „Bitte geben Sie mir den Wagen, er ist alles was mir geblieben ist." Nun war es ihm egal, ob der Autovermieter ihn heulen sah oder nicht.
Verlegen kramte der Mann in seiner Hosentasche und zog ein zerdrücktes Zigarettenpäckchen hervor. Mit zitternden Fingern zog er eine Zigarette heraus, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug, als erwarte er sich von dem Tabak die Lösung seines Problems.
„Ihr Sohn kann einen viel besseren Wagen haben, fuhr Piet mit zitternder Stimme fort, „dieser hier machts eh nicht mehr lange.
„Der machts noch sehr lange, junger Freund! Er hat 5 Gringo-Präsidenten überlebt, da wird ihm so ein bisschen Straße nichts anhaben können." Der Mann lachte bitter.
Piet fragte leise: „Bitte - haben Sie mir auch eine Zigarette?"
Er hatte seit drei Jahren nicht mehr geraucht. Doch jetzt verspürte er ein so tiefes Verlangen danach, dass er nicht darüber nachdachte. Eine Weile standen sie nebeneinander, schweigend, rauchend, verbündet durch etwas qualmenden Tabak in einem Papierröllchen - und durch große Gefühle. Wie zwei Idioten.
Piet sah einer Maschine nach, die majestätisch über dem Flughafen einschwebte. Eine andere startete, und von der gegenüberliegenden Seite der Straße buhlten die Taxifahrer mit Geschrei um Fahrgäste. Lieferwagen hupten und drängten sich durch die Taxis. Um das Geschehen herum lag die Ebene und in der Ferne erhoben sich die Berge, grün und still, als wollten sie zeigen, wie gleichgültig ihnen das alles hier war.
Lober drehte sich zu dem Mann. Der hatte gerade die Zigarette auf den Boden geworfen, trat sie aus und warf sich in die Brust.
„Wieviel wollten Sie zahlen, Señor?"
Piet reagierte sofort und versicherte dem Mann, er würde zahlen, soviel dieser wolle. Durch ein gutes Geschäft zuhause habe er nun Geld, und er riet dem Mann, für seinen Sohn einen Volkswagen zu kaufen, der komme aus Deutschland, „wie ich selbst". Ein Volkswagen sei etwas Besonderes, und er würde die schönste Schwiegertochter der Stadt bekommen. Gleichzeitig war Piet klar, dass er hier großen Blödsinn redete.
Der Autovermieter grinste gequält. „Vamos," seufzte er.
Piet hielt die Luft an, als er den Motor startete. Da war es wieder, genau dieses Geräusch! Der satte, dunkle Ton des großen Achtzylinders; was brauchte der alte Kasten für eine Unmenge an Sprit, vor allem, wenn jemand so fuhr wie Acacio!
Acacio! Piet trat aufs Gaspedal und fuhr vom Hof, ohne sich umzudrehen. Hugo, mentiroso, du Lügner, dachte er bitter, lass dir was Gutes einfallen, ich bin in sechs Stunden da!
Wie gut er diese Straße kannte! Sie führt von der Hauptstadt ins Hochland, durch die Kaffeeplantagen und durch den Dschungel, vorbei an den kleinen Dörfern der indigenas und den Unterkünften für die Arbeiter in den Smaragdminen. „Die Straße verbindet die Leben des Landes, wie eine immerwährende Hoffnung, zwar steinig, aber vorhanden," hatte Acacio gesagt. „Die Leute leben von ihr, sie hält ihre Träume wach. Einmal kommt auf dieser Straße das Glück: eine Arbeit, ein Arzt, eine Frau, ein Mann! Weißt du, Pedro, es kommen aber auch so viele, die diesen Menschen hier sagen wollen, wie das Leben ist, nur, weil sie Europäer oder Gringos sind und auf großen Schulen waren. Aber die Leute hier sind es, die das Leben kennen, die mit dem leben, was um sie herum ist, was schon immer da war und immer da sein wird. Wenn ein Mann Arbeit in einer Mine bekommt, wird er sich krumm schuften. Das Gift wird ihm die Hände zerfressen und die Lungen, aber niemals seine Seele. Doch das nützt weder ihm, noch seiner Frau, noch seinen Kindern; es nützt nur der Minengesellschaft. Wenn die Leute ihre Kinder nicht in die Schule schicken, dann tun sie das, weil sie nur überleben können, wenn die Kinder mitarbeiten in den Coca-Plantagen. Nur dann haben die Familien genug zu essen, und es ist ihnen egal, ob ein paar reiche US-Kids an den Drogen von hier verrecken. Wenn du siehst, dass die, die du unendlich liebst, leiden, dann interessiert es dich nicht, dass eine satte Regierung mit satten Ministern und vielen Pesos fünf Jahre Jahre Schulpflicht haben will, um der ganzen Welt zu zeigen, wie viel sie für ihr Volk tut. Dabei tut sie alles nur für sich selber. Dann schickst du deine Kinder in die Coca-Plantage und scheißt auf die Regierung.
Acacio! Acacio!
Piet spürte wie die Tränen zurückkamen. Nur mit Mühe konnte er den Wagen auf der Straße halten, und er versuchte verzweifelt, die schlimmen Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben. Aber er traute sich nicht einmal, die Musik einzuschalten. Womöglich war die gleiche Kassette noch drin, wer sollte sie auch raus genommen haben?
Was, wenn die Geschichte mit dem Unfall gar nicht stimmte? Wenn Acacio noch lebte? Den Wagen gab es ja auch noch! Und das ist Acacios Wagen, da war Piet sich ganz sicher. Hatte Acacio Ana geheiratet? Oder war er zu Valderrama übergelaufen oder zu Gabriels Guerilleros? Hatte er jemand umgebracht und war dafür lebenslang verurteilt worden? Hatten ihn die Rebellen entführt? Warum hatte Hugo überhaupt angerufen - und: warum hatte eigentlich Hugo angerufen und nicht Don Raúl?
In diesem Moment ergriff ihn eine große Angst, dass am Ende der Fahrt etwas Schreckliches auf ihn wartete. Oder gab es doch eine ganz einfache Erklärung? Nein, eine ganz einfache Erklärung dafür, warum ein Auto völlig unversehrt bei einem Vermieter in Bogotá steht, obwohl es sich kurz zuvor zweimal überschlagen haben soll, gab es nicht! Und Hugo hatte diesen Wagen gemeint! Er hatte ja davon gesprochen, dass der Wagen alt sei und nicht mehr so stabil, also konnte Acacio nicht mit einem anderen Wagen verunglückt sein.
Lober gab Gas. Er musste das jetzt durchziehen. Die Reise hatte eine neue Bedeutung bekommen. War es vorher noch die Trauer gewesen, die ihn hierhin zurück getrieben hatte, so war es jetzt etwas, das entweder in der Glückseligkeit oder in einer Katastrophe enden konnte.
3
Auf einmal war alles wieder da. Wie damals, vor einem halben Jahr.
Er kam aus der Ankunftshalle, voller Entschlossenheit und voller Erwartung seiner neuen Aufgabe, von der so viel für ihn abhing. Er war unangenehm überrascht von dem Gestank der Abgase, der ihm die Tränen in die Augen trieb, und von dem Lärm der Motoren, der Hupen und der scheppernden Durchsagen aus den Lautsprechern. Statt dass der Fahrer, den Professor Morales hatte schicken wollen, mit einem Namensschild in der Ankunftshalle stehen würde, hatte man ihn gebeten, vor dem Terminal zu warten. Es war zwar nicht das erste Mal, dass er in einer Großstadt gelandet war; trotzdem kam ihm die kolumbianische Hauptstadt gar nicht vor wie eine der Metropolen, die er kannte, und in denen er sich sofort zurecht gefunden hatte. Er fühlte sich unbehaglich, und er umklammerte den Trageriemen seiner Reisetasche. Unruhig schaute er um sich, ob nicht doch irgendwo ein uniformierter Fahrer mit dem Namensschild stand, aber hier liefen die Leute achtlos an ihm vorbei. Wenn ihn einer anrempelte, gab es ein flüchtiges perdón, sonst nichts. Die einzigen, die ihn ansprachen, waren die Taxifahrer in der Hoffnung auf eine lohnende Fahrt mit dem nobel gekleideten, jungen Señor. Je öfter Piet das Angebot ablehnen musste, umso nervöser wurde er, fühlte sich gar nicht mehr wie der selbstbewusste Wissenschaftler aus gutem Hause, der mit gerade einmal dreißig Jahren zum erlauchten Kreis jener hoffnungsvollen Elite zählte, vor der die moderne Wissenschaft den roten Teppich ausrollt. Hier interessierte es niemand, dass er demnächst wohl Deutschlands jüngster Professor und ein paar Jahre später Nachfolger auf einem der begehrtesten Lehrstühle sein würde; hier interessierte sich offenbar kein Mensch für ihn. Er griff in seiner Jacke nach seinem Mobiltelefon und suchte Professor Morales' Nummer. Es konnte doch nicht sein, dass man ihn vergessen hatte!
Schließlich fuhr der Wagen vor. Ein Buick Convertible aus den Siebzigern, ein Riesenschlitten, ockergelb, mit breiten blauen und roten Streifen an den Seiten: lackiert in den Landesfarben! Er fuhr sehr langsam, obwohl die Straße frei war, und er sah aus wie ein vergessenes Requisit aus einem Hollywoodfilm. Auch die Taxifahrer machten ihre Bemerkungen zu dem ungewöhnlichen Gefährt, das jetzt in einer der Parkbuchten angehalten hatte. Piet musterte den Wagen mit ungläubigem Interesse, zumal der junge Mann am Steuer auch noch zu ihm herübersah. Dann stieg er aus und schlenderte auf Lober zu, lässig, als wolle er Piet zeigen, dass man sich hier auch beim Abholen wichtiger Persönlichkeiten Zeit nahm. Die langen Haare wehten im Wind, genauso wie sein dünnes Hemd.
Ob er Señor Piet Lober de Hamburgo sei, sprach er Piet an, ohne die Sonnenbrille abzunehmen. Nachdem Lober seine nicht wirklich freudige Überraschung überwunden und die Frage mit einem eher gestammelten „Sí" beantwortet hatte, sagte der Fahrer des bunten Wagens:
„Ich bin Acacio Varela. Morales hat mich geschickt, um dafür zu sorgen, dass man Ihnen hier nicht den Hintern abschießt, dóctor." Dabei grinste er breit und entblößte eine Reihe makelloser Zähne.
Piet starrte ihn an. Nicht genug, dass es ihn schon ärgerte, mit welch seltsamem Vehikel man hier seine wissenschaftlichen Gäste abzuholen pflegte, auch diese Person hier war nicht unbedingt das, was er erwartet hatte! Piet war nie um eine Antwort verlegen gewesen, doch auf diese Begrüßung fiel im nichts ein.
Der junge Kolumbianer nahm die Sonnenbrille ab; Lober blickte in funkelnde, dunkelbraune Augen. Der Junge hielt ihm seine Hand hin und sagte in deutlich gemäßigterem Ton:
„Kleiner Scherz. Willkommen in Kolumbien."
Lober stotterte ein gracias und ärgerte sich über seinen verlorenen Punkt. Warum war ihm nichts eingefallen? Wie viele dümmliche Kommentare hatte er während seiner Vorträge lässig mit einem Spruch pariert und für entspannte Heiterkeit unter denen gesorgt, die seine Sprache sprachen? Jetzt gerade hatte er sich wie ein Idiot benommen.
Acacio drehte sich um und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, ihm zum Wagen zu folgen. Lober sah nach unten auf seine Taschen. Sie standen am Platz. Er hob den Kopf und sah zu dem Kolumbianer, aber der schlenderte schon wieder Richtung Wagen, wohl in der sicheren Annahme, dass Piet ihm folgen würde. Der Deutsche holte tief Luft, hob sein Gepäck vom Boden und stapfte zu dem Buick.
Die Universität würde ihm einen Fahrer schicken, hatte Professor Morales gesagt. Der würde ihn die ganze Zeit über im Hochland begleiten und ihm helfen. Statt des Fahrers war ein ungezogener Wilder in Schlabberklamotten gekommen, der ihn sein Gepäck schleppen ließ wie ein Rucksacktourist. Wenigstens öffnete er den Kofferraum des alten Cabriolets, ohne freilich auch nur die kleinste Anstalt zu machen, Piet beim Einladen zu helfen. Stattdessen stieg er ein, startete den Motor und vergewisserte sich mit einem schnellen Seitenblick, dass sein Fahrgast neben ihm saß.
Schweigend fuhren sie los. Acacio Varela schien es nicht zu interessieren, ob Lober der Verkehrslärm und die Abgase störten und er vielleicht lieber das Verdeck geschlossen hätte, oder dass sein Fahrgast beunruhigt um sich sah und feststellte, dass es keine Sicherheitsgurte gab. Er drückte aufs Gas, und das alte Vehikel brummte kraftvoll auf. Der Schub drückte Lober in den Sitz, und seine Hand klammerte sich am Türrahmen fest.
Acacio lachte. „Hier musst du so fahren, rubio, sonst nehmen sie dich auseinander. Die Gringos sind die Schlimmsten. Sie mieten sich feine Wagen, und dann fliegen sie in der zweiten Kurve von der Straße. Weil sie nicht wissen, dass wir hier auch beim Autofahren die Stärkeren sind."
Lober antwortete nicht. Seine Wut wurde immer größer, und am meisten ärgerte er sich über sich selber. Er musterte den Einheimischen neben ihm wie ein widerliches Insekt. Lässig grinsend saß Acacio hinterm Lenkrad, den Arm auf den Rahmen gelegt und wiegte den Kopf im Takt der Musik, als säße er allein im Auto. Er hatte ein feines, fast schon edles Profil, und sein Haar glänzte in der Sonne, pechschwarz. Seine Hände waren schmal, feingliedrig und sauber; Lober kam es vor, als gehörten diese Hände zu einem anderen Menschen als zu diesem ungehobelten Kerl, der wohl auch noch deutlich jünger war als er selbst.
Sie fuhren vom Gelände des Flughafens hinunter auf die Avenida, die aus der Stadt hinaus führte. Es war eine sechsspurige Straße, auf der sich der Verkehr trotzdem gnadenlos staute. Schwere Geländewagen drängten an nebeneinander fahrenden Mopeds vorbei, und im Gewühl bewegten sich Menschen, die ihre Waren den genervten Fahrern zum Kauf anboten: bunte Fähnchen, Knabbergebäck oder Wasserflaschen. Immer wieder passierten sie bunte, offene Busse, in denen Arbeiter in schmutzigen Kleidern und schwatzende Hausfrauen saßen genauso wie Kinder in piekfeinen Schuluniformen. Das Stadtzentrum mit seinen rostfarbenen Hochhäusern passierten sie in kurzer Zeit, und Lober sah ungläubig über den Rand der Karosserie auf kleine Schmiede- oder Schreinerbetriebe, Autowerkstätten, Reinigungen und dann auf eine Menge Blumenläden, die prächtig geflochtene Kränze feilboten. Ein Schild verwies auf das Cementerio Central. Keine breiten Boulevards, wo fein gekleidete Geschäftsleute mit dem Mobiltelefon am Ohr sich den Weg durch den Stau bahnten, keine Arkaden mit Luxusgeschäften, das Stadtzentrum von Bogotá erschien ihm gerade so provinziell wie der Flughafen. Die Häuser am Straßenrand wurden immer kleiner und ärmlicher, je weiter sie sich wieder vom Zentrum entfernten. Zwischen den Häusern waren Wäscheleinen gespannt, und überall standen volle Mülltonnen. Doch es schien niemand zu interessieren, dass sie voll waren: was nicht mehr hinein passte, wurde einfach liegengelassen: Speisereste in Plastiktüten, Kartons, Flaschen, sogar Möbel. Schwärme von Insekten kreisten um