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Malverde: Das Unkraut namens Lüge gedeiht überall
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eBook322 Seiten4 Stunden

Malverde: Das Unkraut namens Lüge gedeiht überall

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Über dieses E-Book

Im Kampf gegen eine tödliche Epidemie begegnen sich im Hochland Kolumbiens der deutsche Arzt Piet Lober und der einheimische Biologe Acacio Varela. Piet glaubt an den schnellen Erfolg, ist aber ganz schnell überfordert mit Todkranken, Not, Elend, Drogenkrieg und Guerillaterror. Die Erfolge fährt Acacio ein. Je schwächer Piet sich selber fühlt, umso stärker wird seine Bewunderung für die Leistungen Acacios – und schließlich für Acacio selbst. Es bleibt nicht bei Bewunderung - und Acacio geht es ebenso.
Aus Rivalität wird Liebe. Eine Liebe, die alle wollen: Piet, Acacio, ihr Umfeld - die Gebildeten ebenso wie die die einfachen Bauern im Regenwalddorf. Aber niemand bekennt sich dazu. Denn alle haben ihre Gründe.
Nicht die tödliche Krankheit führt zur Katastrophe, sondern die Lüge. Und die Katastrophe nimmt ihren Lauf.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum17. Sept. 2013
ISBN9783847636304
Malverde: Das Unkraut namens Lüge gedeiht überall

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    Buchvorschau

    Malverde - Brigitte Brandl

    2

    Was für ein Blick! Der Landeanflug auf den internationalen Flug­hafen El Dorado ist stets spektakulär. Die Maschine durchkreuzt enorme Wolkentürme, dann wieder reißt die Wolken­wand auf, und das Panorama ist faszinierend: die Bergketten halten die die weite Hochebene wie in einer Umarmung, und über das gesamte Gelände erstreckt sich die Stadt wie ein braun­roter Fli­ckenteppich. Sie baut sich auf aus den verstreu­ten Siedlungen am Ran­de, die in die Täler hineindringen und weit über den Fuß der Berge hinauf. Im Zentrum ragen die Hochhaustürme hinaus aus dem Braunrot mit ihren hellen Fassaden und den Rei­hen dunk­ler Fenster, die aus der Ferne wie ein Streifenmuster aussehen. Die Hoch­häuser ballen sich auf einem - im Vergleich zu den Aus­maßen der Stadt - kleinen Terrain, als habe man sie ge­waltsam in den Fli­ckenteppich gesetzt. Oder als hätten sie sich aus dessen Falten gebildet, als das Ge­birge sich gegen die Ausdeh­nung der Stadt gewehrt und sie zusammen geschoben hat. Unwirt­lich sind sie, fast schon hässlich; sie stö­ren die sanfte Lage der Stadt in ihrer Hochebene und wollen trotzig mit den mächtigen Bergen um sie herum in einen Wettstreit treten.

    Die Maschine schwebt in einer weiten Rechtskurve ein, bedrohlich schräg. Immer wieder scheint sie kurz davor, mit der Trag­fläche die Berge zu streifen. Dann, als nähme sie Anlauf, zielt sie auf die Stadt. Nun kann man die Häuser erkennen. Der braunrote Brei löst sich auf, und man sieht das Schachbrett aus Straßen, alle angeordnet von Nord nach Süd und von Ost nach West, kleine Vor­ortgassen und breite Ave­nidas, die ins Stadtzentrum führen. Gärtchen wer­den sichtbar, kleine Parks und begrünte Plätze. Die Hochhäu­ser haben aus die­ser Perspektive ihre Bedrohlichkeit verlo­ren, und was man vor­her noch für einen in der Sonne schimmern­den See ge­halten hatte, entpuppt sich nun als eines der riesigen, mit Kunststoffplanen überzogenen Schnittblumen­felder, die überall am Stadtrand liegen. Man sieht mittler­weile auch deutlich die Masten der Seil­bahn hinauf nach Mon­serrate, Bogotás berühm­tem Ausflugs­ziel. Das weiße Kloster thront dort mit seinem spitzen Turm über der Stadt wie eine päpstliche Mitra. Der Flug­hafen ist sichtbar, ob­wohl noch recht weit entfernt, und er scheint auf einem grünen Teppich zu liegen, durchzogen vom grauen Muster der bei­den Pisten. Das Flugzeug legt sich er­neut auf die Sei­te, dies­mal nach links abdrehend, und steuert schließlich auf die Landebahn zu. Es liegt an den Winden, heißt es, dass eine zusätzliche Kurve geflogen werden muss, sonst wäre die Gefahr zu groß, dass die Maschine vor dem Auf­setzen von hefti­gen Böen erfasst würde.

    Der Flughafen ist klein für eine Stadt mit über 6 Mil­lionen Einwohnern. Auch Piet hatte sich bei seiner ersten Ankunft damals etwas Vergleichbares vorgestellt: La Guardia, Heathrow oder Charles de Gaulle, aber der Flughafen der ko­lumbianischen Hauptstadt wirkt wenig weltstädtisch.

    Er stand wieder hier, auf diesem Flughafen, mit nicht halb so viel Gepäck wie beim letzten Mal, und sein Entschluss, hier­her zu fliegen, kam ihm auf einmal wie ein törichtes Hirnge­spinst vor. Bei seiner Abreise aus Deutschland war er in einer seltsamen Eile gewesen, hatte sich gar nicht überlegt, was er hier wirklich wollte. Als könne er das Un­fassbare noch verhindern, als läge es an seinem rechtzei­tigen Eintreffen, Acacios Leben zu retten! Doch er wusste, dass er hatte herkommen müssen, und sollte es nur gewe­sen sein, um endgültig Abschied zu nehmen, ein paar Blumen auf Acacios Grab zu legen und Hugo, Pablo, Flor und Maria die Hand zu drücken. Er erinnerte sich, wie Hen­ning ein­mal gesagt hatte, dass das Ritual des Abschieds eine gute Hilfe sei, einen Verlust zu verarbeiten, einen echten Schlussstrich zu ziehen. Sei es, in dem man ein Foto zerriss oder persönliche Dinge bewusst wegwarf, die eine Verbindung zu dem Verlorenen hat­ten, oder indem man eine Geste tat, wie die Blumen auf ein Grab zu legen. Es war ihm klar, dass es ein Abschied sein würde. Sie hatten ihn bereits begraben. Und wenn Hugo nicht ein so sentimentaler, alter Esel wäre, hätte Piet es vermutlich noch nicht einmal erfahren!

    Drei große Maschinen waren kurz hintereinander gelan­det. Die Reisenden bewegten sich in Richtung Ausgang, beladen mit ih­ren Koffern, Taschen und Rucksäcken. Piet ließ sich treiben mit der Menge, erschöpft von dem langen Flug und ge­schwächt von der Trauer und der Einsamkeit, die er spür­te, seit er Deutschland verlassen hatte. Das Stimmengewirr um ihn herum machte ihn nervös. Es war noch ein langer Weg durch das Ankunftsterminal, bis sich schließlich drsaußen die Menschenmenge in ihre Wege zer­streuen würde. Ihm war übel. Ihm war schon den ganzen Flug über übel gewesen. Jedes Mal, wenn er versucht hatte, zu schlafen, sah er den Wagen sich vor ihm überschla­gen. Er such­te Acacios Gestalt in dem tobenden Me­tallkäfig, wollte ihm ins Gesicht sehen, als gäbe dies den Beweis dafür, dass Acacio tat­sächlich in dem Unglücksfahrzeug geses­sen hatte und in ihm ge­storben war. Aber er hatte Acaci­os Ge­sicht nie ge­sehen. Nicht mal seinen Körper.

    Am Ausgang angekommen drängte er sich durch die Massen von Leuten, die ihre Angehörigen, Freunde, Geschäfts­partner, Liebhaber und Feriengäste abholten, Studenten mit bunten Rucksäcken, Frauen mit kreischenden Kindern auf dem Arm, Männer mit ange­strengtem oder gelangweiltem Blick, die Selbstgedrehte im Mundwinkel, obwohl sie längst nicht mehr brannte. Piet schob die Wartenden zur Seite; er sah sie nicht an, so als wolle er etwas verbergen, als sei sein Grund, hier zu sein, unwichtig im Vergleich zu dem der anderen. Ihn würde auch niemand abholen, man erwartete ihn nicht einmal. Er schluckte den Kloß im Hals hinunter und wischte sich übers Gesicht. „Henning, dachte er, „wie fein sind deine Theorien! Wie gut tun sie, wenn man sie nicht in Taten umsetzen muss! Einen Augenblick überlegte er, mit dem Bus weiter zu fahren. So hätte er noch viele Stunden Zeit, seinen Gedanken nach zu hängen und vielleicht doch endlich mal, mit dem Kopf gegen das Bus­fenster gelehnt, zu heulen.

    „Es dauert nicht lan­ge, Henning, hatte er damals gesagt. Und er hatte noch keine Woche vor­her vor allen ver­kündet, dass er es leid sei, Keimkulturen mit Wirkstoffen zu be­schießen und hochgelobt zu werden da­für, dass daraus irgendwann ein Medikament würde.

    „Henning, hatte er gesagt, „ich bin Mediziner, aber ich habe besten­falls im Klinikum Infusionen gelegt, aber noch nie einen kran­ken Menschen gesund gemacht.

    Wo war dieser Wunsch auf einmal hergekommen? Es hatte ihn doch noch nie etwas gestört an seiner Arbeit, und er war froh gewesen, als die Zeit in der Klinik vorbei war! Auch Silvia hatte sich zwar gefreut darüber, dass Piet nun erstmals auch so etwas wie Mut bewies, aber sie war nicht gerade begeistert gewesen von der Idee, dass er sich so kurz vor der Hochzeit zu diesem Himmel­fahrtskommando im kolumbianischen Dschungel melden woll­te. Piet hatte solche Wünsche noch nie vorher geäußert!

    „Ich muss das tun, Silvia, hatte Piet beteuert, „ich brauche das jetzt.

    Er brauchte das.... Im Nachhinein war ihm klar, was ihn vor einem halben Jahr wirklich getrieben hatte! Warum war ihm vorher nicht bewusst geworden, dass er Sil­via gar nicht heiraten wollte? Warum dieser Vorwand? Vielleicht hätte er Henning fragen sollen, der war Psychologe.

    Piet schulterte seinen Rucksack und trat auf die Straße. Gegenüber des Flughafens gab es einige Autovermietungen, und er würde noch vor dem Einbruch der Dunkelheit in Casillas ankommen. Er hatte das Gelände der Autovermietung noch nicht be­treten, da sah er den Wagen stehen: den Buick Convertible aus den Siebzigern, ockergelb, mit blauen und roten Streifen an den Seiten. Lober blieb stehen, und auf einmal wollte sein Herz sei­nen Kehlkopf aus dem Hals drücken. Er umklammerte die Tra­geriemen des Rucksacks und ging langsam zu dem Buick. Vor­sichtig führ­te er sei­ne Hand über den Kühler, ungläu­big, als wolle er sich vergewis­sern, dass er jetzt nicht vor Trauer und Er­schöpfung einer Hallu­zination aufsaß. Doch der Wagen stand echt und wahr­haftig vor ihm! Wie konnte das sein? Hugo hatte am Telefon ge­sagt, der Wagen habe sich zweimal überschlagen, und jetzt stand er hier und hatte noch nicht mal eine Schramme! Piets Beine zit­terten. Er stützte sich auf das Auto und stierte in den In­nenraum.

    „Kann ich ihnen helfen, Señor?" hörte er eine Stimme hinter sich. Erschrocken fuhr er herum und sah in das freundliche Gesicht eines kleinen, dicklichen Mannes mit Baskenmütze, der sich sei­ne Hände an einem Tuch abwischte und hastig die halbgerauchte Zigarette auf dem Boden zertrat.

    „Suchen Sie einen Wagen?"

    Lober schluckte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als wollte er den Schweiß wegwischen und nicht die Tränen. „Ja, dieser hier ist sehr schön!"

    Perdoneme,. Der Mann verzog verstört das Ge­sicht. „Der Wa­gen ist für meinen Sohn. Er wird nächste Wo­che fünfundzwan­zig, und ich habe lange gespart, um einen Wagen für ihn zu kaufen! Der Mann lächelte breit und schi­en gar nicht zu verstehen, warum der fein gekleide­te junge Aus­länder seine Freu­de und seinen Stolz gar nicht teil­te.

    „Haben sie ihn in Casillas del Bosque gekauft? fragte Piet, „im Hochland?

    Der Mann zuckte zusammen. „Woher wissen Sie …."

    „ Ich habe den Besitzer gekannt."

    „Jaja, der Mann nickte eifrig mit dem Kopf, „jaja, der Bürgermeister! Ist ihm zu groß und zu sperrig geworden, sein schönes Baby! Lachend klopfte er auf den Kühler. „Man wird eben doch alt, und da treibt man es nicht mehr so wild. Das können Sie aber nicht verstehen, hijo, Sie sind ja noch so jung!"

    Ohne den Mann anzusehen entgegnete Piet, der Wagen habe nicht dem Bürgermeister gehört.

    Der Mann riss die Augen auf. „Wem dann?"

    „Jemandem, den ich gut kannte."

    Piet holte tief Luft. Dann be­schwor er den Autovermieter, mit ihm zusammen rüber ins Flughafengebäude zu einer Bank zu gehen. Er würde ihm jeden Preis für den Buick zahlen, den er haben wolle, denn er brau­che diesen Wagen, unbedingt. Doch der Autovermieter ließ sich nicht beirren. Er entschuldigte sich er­neut und betonte, wie außerordentlich er es bedaure, aber den Wagen bekäme sein Sohn.

    Lober stand da, hielt seinen Rucksack umklammert und stierte auf den Boden. Er sah, wie sein Blick immer mehr ver­schwamm. Dann presste er heraus: „Bitte geben Sie mir den Wa­gen, er ist alles was mir geblieben ist." Nun war es ihm egal, ob der Autovermieter ihn heulen sah oder nicht.

    Verlegen kramte der Mann in seiner Hosentasche und zog ein zerdrücktes Zigarettenpäckchen hervor. Mit zitternden Fingern zog er eine Zigarette heraus, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug, als erwarte er sich von dem Tabak die Lösung seines Problems.

    „Ihr Sohn kann einen viel besseren Wagen haben, fuhr Piet mit zitternder Stimme fort, „dieser hier machts eh nicht mehr lange.

    „Der machts noch sehr lange, junger Freund! Er hat 5 Gringo-Prä­sidenten überlebt, da wird ihm so ein bisschen Straße nichts anhaben können." Der Mann lachte bitter.

    Piet fragte leise: „Bitte - haben Sie mir auch eine Zigarette?"

    Er hatte seit drei Jahren nicht mehr geraucht. Doch jetzt verspürte er ein so tiefes Verlangen danach, dass er nicht darüber nachdachte. Eine Weile standen sie nebeneinander, schwei­gend, rauchend, verbündet durch etwas qualmenden Tabak in einem Papierröllchen - und durch große Ge­fühle. Wie zwei Idio­ten.

    Piet sah einer Maschine nach, die majestätisch über dem Flughafen einschwebte. Eine andere startete, und von der gegen­überliegenden Seite der Straße buhlten die Taxifahrer mit Geschrei um Fahrgäste. Lieferwagen hupten und dräng­ten sich durch die Taxis. Um das Geschehen herum lag die Ebene und in der Ferne erhoben sich die Berge, grün und still, als wollten sie zeigen, wie gleichgültig ihnen das alles hier war.

    Lober drehte sich zu dem Mann. Der hatte gerade die Ziga­rette auf den Boden geworfen, trat sie aus und warf sich in die Brust.

    „Wieviel wollten Sie zahlen, Señor?"

    Piet reagierte sofort und versicherte dem Mann, er würde zahlen, soviel dieser wolle. Durch ein gutes Geschäft zuhause habe er nun Geld, und er riet dem Mann, für sei­nen Sohn einen Volkswagen zu kau­fen, der komme aus Deutschland, „wie ich selbst". Ein Volkswagen sei etwas Beson­deres, und er würde die schönste Schwiegertochter der Stadt bekommen. Gleichzeitig war Piet klar, dass er hier großen Blödsinn redete.

    Der Autovermieter grinste gequält. „Vamos," seufzte er.

    Piet hielt die Luft an, als er den Motor startete. Da war es wieder, genau dieses Geräusch! Der satte, dunkle Ton des großen Achtzylinders; was brauchte der alte Kasten für eine Unmenge an Sprit, vor allem, wenn jemand so fuhr wie Acacio!

    Acacio! Piet trat aufs Gaspedal und fuhr vom Hof, ohne sich um­zudrehen. Hugo, mentiroso, du Lügner, dachte er bitter, lass dir was Gutes einfallen, ich bin in sechs Stunden da!

    Wie gut er diese Straße kannte! Sie führt von der Haupt­stadt ins Hochland, durch die Kaffeeplantagen und durch den Dschungel, vorbei an den kleinen Dörfern der indi­genas und den Unterkünften für die Arbeiter in den Smaragd­minen. „Die Straße verbindet die Leben des Landes, wie eine immerwährende Hoffnung, zwar steinig, aber vorhan­den," hatte Aca­cio ge­sagt. „Die Leute le­ben von ihr, sie hält ihre Träume wach. Ein­mal kommt auf dieser Straße das Glück: eine Arbeit, ein Arzt, eine Frau, ein Mann! Weißt du, Pedro, es kommen aber auch so viele, die diesen Menschen hier sagen wollen, wie das Leben ist, nur, weil sie Europäer oder Gringos sind und auf großen Schulen waren. Aber die Leute hier sind es, die das Le­ben ken­nen, die mit dem leben, was um sie herum ist, was schon im­mer da war und immer da sein wird. Wenn ein Mann Arbeit in einer Mine bekommt, wird er sich krumm schuften. Das Gift wird ihm die Hände zerfressen und die Lungen, aber nie­mals seine Seele. Doch das nützt weder ihm, noch seiner Frau, noch seinen Kindern; es nützt nur der Minengesellschaft. Wenn die Leute ihre Kinder nicht in die Schule schicken, dann tun sie das, weil sie nur überleben können, wenn die Kin­der mitarbeiten in den Coca-Plantagen. Nur dann haben die Fami­lien genug zu es­sen, und es ist ihnen egal, ob ein paar reiche US-Kids an den Drogen von hier verrecken. Wenn du siehst, dass die, die du un­endlich liebst, leiden, dann interessiert es dich nicht, dass eine satte Regierung mit satten Ministern und vielen Pesos fünf Jahre Jahre Schulpflicht haben will, um der ganzen Welt zu zeigen, wie viel sie für ihr Volk tut. Dabei tut sie alles nur für sich sel­ber. Dann schickst du deine Kinder in die Coca-Plantage und scheißt auf die Regierung.

    Acacio! Acacio!

    Piet spürte wie die Tränen zurückkamen. Nur mit Mühe konnte er den Wagen auf der Straße halten, und er versuchte verzweifelt, die schlimmen Ge­danken aus seinem Kopf zu vertreiben. Aber er traute sich nicht einmal, die Musik einzuschalten. Womöglich war die gleiche Kassette noch drin, wer sollte sie auch raus genommen haben?

    Was, wenn die Geschichte mit dem Unfall gar nicht stimmte? Wenn Acacio noch lebte? Den Wagen gab es ja auch noch! Und das ist Acacios Wagen, da war Piet sich ganz sicher. Hatte Acacio Ana geheiratet? Oder war er zu Valderrama übergelaufen oder zu Gabriels Guerilleros? Hatte er jemand umgebracht und war dafür lebenslang verurteilt worden? Hatten ihn die Rebel­len entführt? Warum hatte Hugo überhaupt angerufen - und: warum hatte eigentlich Hugo angerufen und nicht Don Raúl?

    In diesem Moment ergriff ihn eine große Angst, dass am Ende der Fahrt etwas Schreckliches auf ihn wartete. Oder gab es doch eine ganz einfache Erklärung? Nein, eine ganz einfache Erklärung dafür, warum ein Auto völlig un­versehrt bei einem Ver­mieter in Bogotá steht, obwohl es sich kurz zuvor zweimal über­schlagen haben soll, gab es nicht! Und Hugo hat­te diesen Wa­gen gemeint! Er hatte ja davon gesprochen, dass der Wagen alt sei und nicht mehr so stabil, also konnte Acacio nicht mit einem anderen Wagen verunglückt sein.

    Lober gab Gas. Er musste das jetzt durchziehen. Die Reise hatte eine neue Bedeutung bekommen. War es vorher noch die Trauer gewesen, die ihn hierhin zurück getrieben hatte, so war es jetzt etwas, das entweder in der Glückseligkeit oder in einer Ka­tastrophe enden konnte.

    3

    Auf einmal war alles wieder da. Wie damals, vor einem halben Jahr.

    Er kam aus der An­kunftshalle, voller Entschlossenheit und voller Erwar­tung seiner neuen Aufgabe, von der so viel für ihn abhing. Er war unangenehm überrascht von dem Gestank der Abgase, der ihm die Tränen in die Augen trieb, und von dem Lärm der Motoren, der Hupen und der scheppern­den Durchsagen aus den Lautsprechern. Statt dass der Fahrer, den Professor Morales hatte schicken wollen, mit ei­nem Namensschild in der Ankunftshalle stehen würde, hatte man ihn gebeten, vor dem Terminal zu warten. Es war zwar nicht das erste Mal, dass er in einer Groß­stadt gelandet war; trotzdem kam ihm die kolumbia­nische Hauptstadt gar nicht vor wie eine der Metro­polen, die er kann­te, und in denen er sich sofort zurecht gefun­den hat­te. Er fühlte sich unbehaglich, und er umklam­merte den Trageriemen seiner Reisetasche. Unruhig schau­te er um sich, ob nicht doch irgendwo ein uni­formierter Fahrer mit dem Namensschild stand, aber hier liefen die Leute achtlos an ihm vorbei. Wenn ihn einer anrempelte, gab es ein flüchti­ges perdón, sonst nichts. Die einzigen, die ihn ansprachen, waren die Taxifah­rer in der Hoffnung auf eine lohnende Fahrt mit dem no­bel ge­kleideten, jungen Señor. Je öfter Piet das An­gebot ablehnen musste, umso nervöser wurde er, fühlte sich gar nicht mehr wie der selbst­bewusste Wissenschaftler aus gutem Hause, der mit gerade einmal dreißig Jahren zum erlauchten Kreis jener hoffnungsvol­len Elite zählte, vor der die moderne Wissenschaft den roten Teppich ausrollt. Hier interessierte es niemand, dass er dem­nächst wohl Deutsch­lands jüngster Professor und ein paar Jahre spä­ter Nach­folger auf einem der begehr­testen Lehr­stühle sein wür­de; hier interessierte sich offenbar kein Mensch für ihn. Er griff in seiner Jacke nach seinem Mobiltele­fon und suchte Professor Morales' Nummer. Es konnte doch nicht sein, dass man ihn vergessen hat­te!

    Schließlich fuhr der Wagen vor. Ein Buick Convertible aus den Siebzigern, ein Riesenschlitten, ockergelb, mit breiten blauen und roten Streifen an den Seiten: lackiert in den Landes­farben! Er fuhr sehr langsam, obwohl die Straße frei war, und er sah aus wie ein vergessenes Requisit aus einem Hollywoodfilm. Auch die Taxifahrer machten ihre Bemerkungen zu dem ungewöhnlichen Gefährt, das jetzt in einer der Parkbuchten angehal­ten hatte. Piet musterte den Wagen mit ungläubigem Interesse, zu­mal der junge Mann am Steuer auch noch zu ihm herüber­sah. Dann stieg er aus und schlenderte auf Lober zu, lässig, als wolle er Piet zeigen, dass man sich hier auch beim Abholen wichtiger Persönlichkeiten Zeit nahm. Die lan­gen Haare wehten im Wind, genauso wie sein dünnes Hemd.

    Ob er Señor Piet Lober de Hamburgo sei, sprach er Piet an, ohne die Sonnenbrille abzunehmen. Nach­dem Lober seine nicht wirklich freudige Überraschung überwun­den und die Frage mit einem eher gestammelten „" beant­wortet hatte, sagte der Fahrer des bunten Wagens:

    „Ich bin Acacio Varela. Morales hat mich geschickt, um dafür zu sorgen, dass man Ihnen hier nicht den Hintern abschießt, dóctor." Dabei grinste er breit und entblößte eine Reihe makelloser Zähne.

    Piet starrte ihn an. Nicht genug, dass es ihn schon ärgerte, mit welch seltsamem Vehikel man hier seine wissen­schaftlichen Gäste abzuholen pflegte, auch diese Person hier war nicht unbedingt das, was er erwartet hatte! Piet war nie um eine Antwort verlegen gewe­sen, doch auf diese Begrü­ßung fiel im nichts ein.

    Der junge Kolumbianer nahm die Sonnenbrille ab; Lober blickte in funkelnde, dunkelbraune Augen. Der Junge hielt ihm sei­ne Hand hin und sagte in deutlich gemäßigterem Ton:

    „Kleiner Scherz. Willkommen in Kolumbien."

    Lober stotterte ein gracias und ärgerte sich über seinen verlorenen Punkt. Warum war ihm nichts eingefallen? Wie vie­le dümmliche Kommentare hatte er während seiner Vorträge lässig mit einem Spruch pariert und für ent­spannte Heiter­keit un­ter denen gesorgt, die seine Sprache sprachen? Jetzt ge­rade hatte er sich wie ein Idiot benommen.

    Acacio drehte sich um und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, ihm zum Wagen zu folgen. Lober sah nach unten auf seine Taschen. Sie standen am Platz. Er hob den Kopf und sah zu dem Ko­lumbianer, aber der schlenderte schon wieder Richtung Wagen, wohl in der si­cheren Annahme, dass Piet ihm folgen würde. Der Deut­sche holte tief Luft, hob sein Gepäck vom Bo­den und stapfte zu dem Buick.

    Die Universität würde ihm einen Fahrer schicken, hatte Professor Morales gesagt. Der würde ihn die ganze Zeit über im Hoch­land begleiten und ihm helfen. Statt des Fahrers war ein unge­zogener Wilder in Schlabberklamotten gekommen, der ihn sein Gepäck schleppen ließ wie ein Rucksack­tourist. Wenigstens öff­nete er den Kofferraum des alten Cabrio­lets, ohne freilich auch nur die kleinste Anstalt zu ma­chen, Piet beim Einla­den zu helfen. Stattdessen stieg er ein, startete den Motor und vergewisserte sich mit einem schnellen Seitenblick, dass sein Fahrgast neben ihm saß.

    Schweigend fuhren sie los. Acacio Varela schien es nicht zu interessieren, ob Lober der Verkehrslärm und die Abgase störten und er viel­leicht lieber das Verdeck geschlossen hätte, oder dass sein Fahr­gast beunruhigt um sich sah und feststellte, dass es keine Si­cherheitsgurte gab. Er drückte aufs Gas, und das alte Vehikel brummte kraftvoll auf. Der Schub drückte Lober in den Sitz, und seine Hand klammerte sich am Türrahmen fest.

    Acacio lachte. „Hier musst du so fahren, rubio, sonst nehmen sie dich ausein­ander. Die Gringos sind die Schlimmsten. Sie mieten sich feine Wa­gen, und dann fliegen sie in der zweiten Kurve von der Stra­ße. Weil sie nicht wissen, dass wir hier auch beim Autofah­ren die Stärkeren sind."

    Lober antwortete nicht. Seine Wut wurde immer größer, und am meisten ärgerte er sich über sich selber. Er musterte den Einheimischen neben ihm wie ein widerliches Insekt. Lässig grinsend saß Acacio hinterm Lenkrad, den Arm auf den Rahmen gelegt und wiegte den Kopf im Takt der Musik, als säße er allein im Auto. Er hatte ein feines, fast schon edles Pro­fil, und sein Haar glänzte in der Sonne, pechschwarz. Seine Hän­de waren schmal, feingliedrig und sauber; Lober kam es vor, als gehörten diese Hände zu einem anderen Menschen als zu die­sem unge­hobelten Kerl, der wohl auch noch deutlich jün­ger war als er selbst.

    Sie fuhren vom Gelände des Flughafens hinunter auf die Avenida, die aus der Stadt hinaus führte. Es war eine sechsspurige Stra­ße, auf der sich der Verkehr trotzdem gnadenlos staute. Schwere Geländewagen drängten an nebeneinander fahrenden Mopeds vorbei, und im Gewühl bewegten sich Menschen, die ihre Waren den genervten Fahrern zum Kauf anboten: bunte Fähnchen, Knabbergebäck oder Wasserflaschen. Immer wieder passierten sie bun­te, offene Busse, in de­nen Arbeiter in schmutzigen Kleidern und schwatzende Haus­frauen saßen ge­nauso wie Kinder in piekfeinen Schuluniformen. Das Stadtzentrum mit seinen rostfarbenen Hochhäusern passierten sie in kurzer Zeit, und Lober sah ungläubig über den Rand der Karosserie auf kleine Schmiede- oder Schreinerbetriebe, Autowerkstätten, Reinigungen und dann auf eine Menge Blumenläden, die prächtig geflochtene Kränze feilboten. Ein Schild verwies auf das Cementerio Central. Keine breiten Boulevards, wo fein gekleidete Geschäftsleute mit dem Mobiltelefon am Ohr sich den Weg durch den Stau bahnten, keine Arkaden mit Luxusgeschäften, das Stadtzentrum von Bogotá erschien ihm gerade so provinziell wie der Flughafen. Die Häuser am Straßenrand wur­den immer kleiner und ärmlicher, je weiter sie sich wieder vom Zentrum ent­fern­ten. Zwischen den Häusern waren Wäscheleinen ge­spannt, und über­all standen volle Mülltonnen. Doch es schien nie­mand zu inter­essieren, dass sie voll waren: was nicht mehr hin­ein passte, wurde einfach liegengelassen: Speisereste in Plastiktüten, Kar­tons, Flaschen, sogar Mö­bel. Schwärme von Insekten kreis­ten um

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