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Das Schöne und das Notwendige
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eBook276 Seiten3 Stunden

Das Schöne und das Notwendige

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Über dieses E-Book

Zwei Männer, viel Kaffee und eine Schleichkatze.

Das Schöne und das Notwendige ist eine ökologische Parabel, ein witziger und herzklopfenerregender Roman, in seiner Wirkung dem Kaffee nicht unähnlich:
Er weckt die Sinne.

Zwei Freunde, die vor dem finanziellen Ruin stehen, fassen einen gewagten Plan: Sie wollen in den Kaffeehandel einsteigen und mit einem originellen Einfall die mitteleuropäische Kaffeekultur revolutionieren.
Die geniale Idee hat nur einen Haken: Für ihre Umsetzung benötigen die beiden Männer eine asiatische Schleichkatze. Ein nachtaktiver, pelziger Bewohner der Baumkronen indischer Regenwälder. Denn auf dem Speiseplan dieser Katzen stehen unter anderem Kaffeebohnen ...
Woher bekommt man aber ein solches Tier, und wie hält man es in einer Wohnung im fünften Stock?

Andrea Grill erzählt mit großer Leichtigkeit, hintergründig und berührend. Ihr neuer Roman ist eine literarische Ernte der überraschenden und manchmal auch bitteren Früchte des Lebens.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Dez. 2012
ISBN9783701361694
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    Buchvorschau

    Das Schöne und das Notwendige - Andrea Grill

    bedroht.

    1  Coffea arabica

    Der erste kultivierte Kaffeebaum. Bekannt unter dem Namen „Arabica Kaffee". Wird bis zu fünf Meter hoch, zur Erleichterung der Ernte meist aber auf zwei Meter gestutzt. Zwei bis vier Jahre nach der Pflanzung beginnen die Bäume weiß und stark duftend zu blühen. Ihr Duft ähnelt dem des Jasmins. Aus den Blüten entwickeln sich die Kaffeekirschen

    Der April hat so vielversprechend begonnen, mit seinem elastischen Mund, voll Blühpflanzen und knospender Bäume. Jetzt ist August, ein Monat wie ein Sonntag, dem Sehnsüchtigen alles versprechend, um nichts zu halten außer einer erstickenden Temperatur. Von den Wäscheleinen, wo sie zwischen feuchten Socken und Unterwäsche eine letzte Zuflucht gesucht haben, hängen vertrocknete Regenwürmer. Die Erde bricht, ausgedörrt. Am ganzen Kontinent herrscht eine Trockenperiode. Auch das andere Land glüht, sein Adoptivland. Er ist nie dort gewesen, hat es nur vorhin in der Zeitung gelesen, die einer der Fabrikarbeiter, die in die Frühschicht gefahren sind, liegen gelassen hat. Von ihnen ist nichts zu erwarten. Deshalb beginnt er später. Es wird ein schlechter Tag für ihn werden. Die meisten morgendlichen Zugfahrer blättern in der Zeitung, sie würden es auch wissen: Rumänien vertrocknet, wie ganz Europa, in Rumänien brennt der Wald. Er steht auf, geht durch den Waggon, wankend, die Strecke ist kurvig, er stützt sich an jeder zweiten Sitzlehne ab.

    Einmal greift er dabei in Haare, so lang, dass sie wie ein eigenes Wesen auf dem Stoff liegen. Der Kopf, zu dem sie gehören, lehnt einen Sitz weiter. Erst als ein böser Blick ihn trifft, bemerkt er ihn. Der Kopf schüttelt sich, Arme bündeln die Haare über eine Schulter.

    Vom Fenster aus sieht er draußen wieder die Frau, die er jeden Tag sieht, ihr gelbes Kopftuch leuchtet zwischen den abgeernteten Stängeln, den Plastikkuppeln über den Salatbeeten. Er möchte sie fragen, was sie tut, wenn sie nicht am Feld arbeitet. Ob sie Zeit hat. Immer wenn der Zug durch die Peripherie der Stadt fährt, sieht er sie dort zwischen den Beeten stehen.

    Er macht sich an die Arbeit, holt einen Stoß Zettel aus der Hosentasche, geht durch den Mittelgang, der Zug fährt langsamer und geradeaus. Auf den Zetteln steht, dass er aus Rumänien ist, drei Kinder hat und sein Haus bei einer Überschwemmungskatastrophe zerstört wurde. Mit dem Oberarm wischt er sich einige Schweißtropfen von der Stirn, der heutige Tag wird noch schlimmer werden als die anderen dieser Woche. In den Waggons dunsten Pendler und Reisende in der Hitze, lehnen apathisch in ihren Sitzen. Eigentlich könnte er gleich aufhören, gleich aussteigen, umsteigen und zurückfahren.

    Den ersten Zettel legt er einer jungen Frau hin. Sorgfältig und bedächtig, aber ohne sie anzuschauen, platziert er das Stück Papier auf das schmale Tischchen vor ihr, unter dem sich der ausklappbare Mistkübel befindet. Sie tut, als sähe sie den Zettel nicht, als konzentriere sie sich ganz auf das in ihrem Schoß liegende Telefon, ununterbrochen drückt ihr Daumen eine Taste, als spiele sie ein Spiel. Er weiß, sie denkt nur an seinen Zettel. Eigenhändig, von ihm selber unterschrieben, mit einem rumänischen Vornamen. Radu steht da, in seiner Schrift. Im Zug nennt er sich so.

    *

    Ich heiße Ferdinand. Aber alle nennen mich Fiat, hat er im April zu Finzens gesagt, in ihrem ersten Gespräch. Vier Tage später ist er bei ihm eingezogen.

    Fiat?

    Ja. Fiat.

    Wie das Auto?

    Wie das Auto. Meine Eltern fanden, dass ich etwas mit dem Auto gemein habe, und Mercedes ist ja auch ein Name. Ich bin es gewöhnt.

    Ich könnte dich Ferdinand nennen. Einfach, wie du heißt. Fiat wäre mir lieber.

    Von den roten Bänken, auf denen sie sich niederließen, um Bekanntschaft zu machen, sah man eine Uhr, auf einem langen Stiel vom Gehsteig aufragend, als hätte jemand sie gepflanzt, wie die Linde daneben. Es war zwölf Uhr vierzig. Von der Linde fielen Zweiglein mit trockenen Fruchtkapseln vom Vorjahr aufs Tischtuch.

    Zum ersten Mal begegnet sind sich die beiden Männer im sechseckigen Beinhaus direkt neben der Kathedrale der Stadt, wo Tausende Schädel aufeinandergestapelt sind. Finzens verbringt dort oft seine Mittagspause. Er ist in der Kathedrale angestellt. Fiat war an dem Tag als Tourist gekommen. Eine Frau, deren Charme er sich nicht entziehen konnte, hatte ihm empfohlen, sich das Beinhaus anzuschauen, und er wollte berichten können, dass er dort gewesen sei und dass es ihm gefallen habe. Als Finzens ihn ansprach, stand er gerade überrascht vor einem Schädel, auf dem er seinen eigenen Nachnamen entdeckt hatte.

    Kennen Sie hier jemanden?, fragte Finzens, das Leuchten in Fiats Gesicht, der an diejenige dachte, die ihm den Besuch des Beinhauses nahegelegt hatte, fehldeutend. Unwillkürlich hatte Fiat genickt und auf den Schädel gezeigt, der vor ihm lag. Anna Neupert war in bunten Buchstaben auf die Stirn gemalt. Daneben lag Rosa Engl, kleine helle Blümchen über dem E.

    Das ist meine Großmutter gewesen, sagte Finzens und deutete auf den Schädel von Rosa Engl. So kamen die zwei Männer ins Gespräch.

    Das Bemalen der Totenschädel hat eine lange Tradition in der Stadt, erklärte Finzens, ohne dass ihn jemand darum gebeten hätte. Von eigens dafür ausgebildeten Künstlern werden Ranken und Weinblätter, bunte Zeichen angebracht. Vorher werden die Schädel gewaschen und in Chlorwasser gebleicht. Der Grund für diese ungewöhnliche Aufbewahrungsweise Verstorbener ist schlicht Platzmangel. Der Friedhof ist zu klein. Er befindet sich auf einer Hügelkuppe an der Peripherie der Stadt, direkt neben der Kathedrale, umgeben von Weinstöcken in vielen Reihen. Die Skelette der Begrabenen müssen nach ein paar Jahren wieder exhumiert werden, ihr Fleckchen Boden freigeben für neue Tote. Weltweit sei dies die beeindruckendste Sammlung, sagte Finzens bei ihrer ersten Begegnung.

    Äußerlich (wie innerlich) könnten die Freunde kaum unterschiedlicher sein.

    Finzens Engl kam in Bardarski Geran zur Welt, einem Dorf unweit der bulgarischen Hafenstadt Orjachov. In diesem Dorf lebte damals noch eine aus dem rumänischen Banat zugewanderte deutschsprachige Minderheit, der auch Finzens Familie angehört. Diese Leute sind inzwischen abgewandert oder ausgestorben oder haben sich angewöhnt, bulgarisch zu sprechen. Finzens spricht Deutsch, und niemand, der ihn reden hört, würde vermuten, dass es nicht seine Muttersprache ist. Mittlerweile kann er vier Sprachen: deutsch, bulgarisch, rumänisch, und englisch, und alle spricht er so deutlich, dass sogar Beistriche und Kommata hörbar sind, als würde ihn kontinuierlich jemand interviewen, ein unsichtbarer Gesprächspartner, dessen Intelligenz es mit jeder Silbe zu überflügeln gilt. Die Besessenheit, sich sorgfältig auszudrücken, hat er von seinem Großvater geerbt (das sagt Finzens selber).

    Im Gegensatz zu Fiat hat Finzens einen Beruf, einen richtigen, wichtigen. Er ist Ruhestifter in der Kathedrale der Stadt. Stille! Stille! Ruhe! Bitte!, schreit er in Abständen von ungefähr fünf Minuten. Und zwischendurch: Keine Fotos! Keine Videos! Auf fünf Schreie um Stille kommt einer, der Fotos und Videoaufnahmen verbietet. Dann lässt er das Mikrophon sinken und schlendert bedächtig umher, kontrolliert, was er schreiend befohlen hat. Die Stille.

    Für Stille zu sorgen, sei eines der schwierigsten Unterfangen überhaupt, sagt Finzens, wenn Fiat meint, mit so einem Beruf sei das Geld leicht verdient.

    Zum Beispiel gibt es da ein Kind, einmal wöchentlich bringen die Eltern es in die Kathedrale. Dieses Kind liegt immer auf dem Bauch. Sogar im Auto wird es bäuchlings transportiert, es liegt auf dem Rücksitz, die schuhlosen Füße schlagen gegen das Glas der Seitenfenster. Der Vater trägt es auf den Armen herein, vor dem Altar versuchen sie, es zum Stehen zu bringen, vergeblich. Sobald man es auf den Boden lässt, legt es sich auf den Bauch, den Kopf auf die Arme, da zappelt es dann mit den Füßen, dünn und in bunten Strumpfsocken. Aber es dreht sich nicht um. Würden die Eltern es drehen, würde es schreien wie am Spieß. Finzens beobachtet die Szene jedes Mal mit angehaltenem Atem. Für einen Ruhestifter ist ein brüllendes Kind eine Horrorvorstellung.

    Täglich um acht Uhr früh betritt Finzens die Kathedrale. Sie liegt ein bisschen außerhalb der Stadt und er muss mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen. Wenn er kommt, ist sie schon offen. Einer der Mönche des Klosters, zu dem sie gehört, sperrt das Tor um sieben für die Frühmesse auf. Von sieben bis acht erhält sich die Stille von selber, um diese Zeit gibt es kaum Besucher. Die Messe – das Zeigen und Hochheben der Monstranz und die Worte des Pfarrers – schafft sich ihre eigene Andacht. Sobald der Chor der Mönche den Abschlusschoral anstimmt, betritt Finzens den Schauplatz. Bald darauf läuten die Glocken, und von einer anderen Uhr in der Stadt schlägt es acht.

    Finzens hat dichte lockige Haare, hellblond (fast weiß). Er trägt sie lang, ab und zu in zwei dicken, unten mit roten Wollfäden zusammengebundenen Zöpfen, im Dienst in der Kathedrale immer offen, in der Freizeit („was ist Freizeit, lieber Fiat, als könnte man uns von der Zeit befreien") eher zusammengebunden. Seine Augen sind blau.

    Als Ruhestifter schlüpft er allmorgendlich in eine spezielle Uniform. Er zieht sich in einem Container um, von dem aus tagsüber Kopfhörer und MP-3-Spieler vermietet werden, die den Besuchern der Kathedrale deren Geschichte erzählen. An zwei in die Wand geschlagenen Nägeln hängen seine Kleider: ein grauer Anzug, die Uniform des Wächters der Stille. Hose und Sakko. Der Anzug wird ihm zur Verfügung gestellt. Die Nägel hat er selber eingeschlagen, um seine Kleidung in seiner Abwesenheit sicher aufbewahrt zu wissen. Früher, als er sie einfach über einen Sessel warf, wenn er Feierabend machte, setzte sich oft jemand darauf.

    In der Freizeit trägt er Schnürlsamthosen und Rollkragenpullover, auch im Sommer. Er ist 1,98 groß und hat Schuhgröße 43.

    Ferdinand Neupert, alias Fiat, stammt aus einer Kleinstadt, die nur etwa achtzig Kilometer von der Stadt entfernt liegt, in der die beiden wohnen. Er spricht keine Fremdsprachen und ist zur Zeit arbeitslos. Pardon, er arbeitet als „fliegender Händler" im Zug, der zum Flughafen fährt – so hätte er sich ausgedrückt. Fiat hat dunkelbraune, leicht schräg stehende Augen (das gibt ihm einen treuherzigen Anschein, eine seiner vier Tanten nannte es charmant).

    Er trägt seine Haare halblang, zum Pagenkopf geschnitten, die obersten Zentimeter grau, darunter ein Streifen dunkles Kastanienbraun. Unter seinem Bett hat er achtzig Schachteln dieser Farbe stehen, sein eiserner Vorrat. Die Marke und Nuance des Färbemittels, des einzigen, das er jemals verwendet hat und verwenden wird, war eines Tages urplötzlich aus den Geschäften verschwunden. Den Vorrat unter seinem Bett verdankt er dem Lager eines Greißlers, der in Konkurs ging. Wenn der Vorrat aufgebraucht ist, wird er als graue Maus herumlaufen müssen (befürchtet er). Er ist 1,82 groß und hat Schuhgröße 46.

    Wenige Tage nachdem er Finzens kennengelernt hatte, zog er – auf dessen Vorschlag – bei ihm ein. Länger hätte er den (von einer der vier Schwestern seiner Mutter anlässlich seines Geburtstags finanzierten) Status des „Touristen", auch nicht aufrechterhalten können.

    Wir sind wie Wechselbälge, sagt Finzens manchmal zu Fiat. Ich müsste du sein und du müsstest ich sein. Du spielst einen Rumänen, während ich einer bin. Kein Wunder, dass wir einander begegnet sind.

    Die Stadt, in der sie leben, befindet sich dort, wo der westlichste Teil Mitteleuropas langsam verlischt, wie ein Nachtkerzchen, das nur benützt, wer noch an die romantische Liebe glaubt. Sie liegt auf einer Hochebene in ungefähr 1000 Metern Meereshöhe und wird von einem bescheidenen Fluss in zwei ähnlich große Teile geschnitten. In einiger Entfernung ragen höhere Berge in die Wolken. Auf den Gipfeln strahlt im Frühling der Schnee noch leuchtend weiß, wenn unten die Straßenränder schon wochenlang grün sind.

    In unmittelbarer Nähe gibt es mindestens einen See, Felder, auf denen Getreide angebaut wird, Gemüse, Salat und rundum einen Gürtel von Plantagen. Die Bauern ziehen Obstbäume, vor allem Äpfel, in rauen Mengen. Die Einheimischen haben seit langem genug von Äpfeln.

    Fünfundfünfzigtausend Menschen leben in dieser Stadt, das ist zu viel und zugleich zu wenig. Ich habe die Stadt zu schätzen gelernt, wie man alles schätzt, was man besser kennt. Sie hält sich für schön, entspricht aber wohl einfach dem Geschmack der Leute. Gesäumt von Akazienbäumen ist da ein weitläufiger offener Platz, wo man an lauen Sommerabenden einige Zigaretten rauchen kann. Insider nennen den Platz „Die Wiener Schule". Woher der Name kommt und in welcher Beziehung er zum namensgebenden Wien steht, begreift nur, wer sich gerade dort befindet. In Wien scheint alles seinen Anfang zu nehmen, obwohl es nur einen Kopfbahnhof hat. Von dem aus könnte man aber mit der Eisenbahn nach Frankreich fahren und würde, wenn man einen kleinen Umweg macht, die Stadt durchqueren.

    *

    Im Zug hat Fiat heute, wie erwartet, keinen Erfolg. Nicht nur, dass ihm keiner Geld gibt, die meisten interpretieren sein Verteilsystem falsch und schmeißen die Zettel in einen der aufklappbaren Mistkübel unter den Tischchen, bevor er sie sich wieder holen kann. Die Frau mit dem Telefon hat es getan. Ein älterer Herr hat es getan. Vergeudete Zettel, die er mühsam nochmals kopieren muss. Vergeudete Arbeit. Er legt den Zettel auch einem Mann hin, der wie ein Herr aussieht, ein Sakko anhat, eine Krawatte trägt. Der Mann ist ein Herr und begreift sofort. Er gibt ihm den Zettel zurück, kaum dass er ihn hingelegt hat. Außer dem Zettel gibt er ihm nichts.

    Fiat steigt aus. Am Bahnsteig, wie er dasteht und auf den Zug wartet, der in die Gegenrichtung fährt, könnte er für einen objektiven Betrachter alles sein, ein Büroarbeiter zum Beispiel oder ein Verkäufer in der Käseabteilung des Supermarktes, nein, kein Fabrikarbeiter, dazu ist sein Hemd zu glatt. Ein Rechtsanwalt könnte er sein, dem Äußeren nach. Vorhin, auf dem Zugklosett, hat er sich die Schuhe geputzt, das tut er immer, bevor er vor die Kunden tritt. Nicht einmal Rechtsanwälte tun das immer, er kennt einen, aus dem Zug, hat sich mit ihm angefreundet. Eine wortlose Freundschaft, denn im Zug spricht er kein Deutsch. Rumänisch natürlich auch nicht, also muss er still sein. Ausgerechnet der Rechtsanwalt ist heute nicht da gewesen, er hätte ihn aufgemuntert. Der durchschaut ihn, spielt aber mit. Überschwemmung, hätte der Anwalt gesagt, das ist ja furchtbar, das haben wir auch einmal erlebt, vor ein paar Jahren, da konnte man von der einen Seite der Stadt nicht mehr auf die andere, alle Brücken waren unter Wasser, meine Frau hat es in Gummistiefeln gerade noch nach Hause geschafft. Wie soll es weitergehen, wenn die Trockenheit in Rumänien anhält?, denkt Fiat. Wenn die Hitze anhält? Das Klima ruiniert ihm das Geschäft.

    Er wird den Freund fragen, vielleicht hat der einen Einfall, Finzens hat ständig Einfälle. Unlängst verbrachte er einen ganzen Abend damit, zu erläutern, wie man im Golf von Venedig das Hologramm eines Orkans errichten könnte.

    Warum Rumänien, hat er Fiat schon oft gefragt, warum drei Kinder? Wäre es nicht besser, bei der Wahrheit zu bleiben, ehrlich zu sein, wäre das nicht immer besser, vor allem: einfacher? Ob ihm daran liege, sich das Leben zu komplizieren? Du ergreifst zu selten die Initiative, hat Finzens gesagt, man muss pro-aktiv sein.

    Fiat hat den Ausführungen des Freundes aufmerksam gelauscht und entschieden, dass pro-aktiv nichts für ihn ist. Die Antworten auf die übrigen Fragen blieb er Finzens schuldig.

    Was wahr ist, wird sich nie herausstellen, war sein einziger Kommentar, nur, was unwahr ist.

    Fiat mag Bequemlichkeit und er mag die Zeit. Weil sie allen Leuten in gleichem Maße zugeteilt ist und von niemandem verwaltet wird. Sie ist einfach da zur Selbstbedienung, eine Art Wunder, jedenfalls: ein Ideal. Ein sich täglich aus dem Nichts erneuerndes Kapital. Vierundzwanzig Stunden für jeden, zins- und steuerfrei. Die Zeit ist das demokratischste Prinzip überhaupt. Manchmal denkt Fiat, das habe er erfunden, und wenn er es endlich jemandem sagte, die Erkenntnis an der richtigen Stelle deponierte, würde ihm umgehend der Nobelpreis verliehen. Im Handumdrehen würde jeder wieder Zeit haben; die gestressten Alltagsforscher und Börsenhaie oder wie sie alle heißen, die vor seinen Zettelchen sitzen, mit ihren mobilen Telefonen an den Ohren. Als Nobelpreisträger würde er davon abraten. Die beiden Dialogierenden bewegen sich in unbekannte Richtungen voneinander weg oder aufeinander zu. Keiner weiß, wo sich den anderen vorstellen.

    Fiat, du übertreibst maßlos, hat Finzens gesagt, du bist einfach nur faul.

    Als ob das einfach wäre. Faulsein ist äußerst kompliziert!

    Der Zug in die Gegenrichtung lässt auf sich warten. Der Perron füllt sich mit schwitzenden, ungehaltenen Leuten. Erhitzte, übellaunige Menschen kann Fiat heute noch weniger ertragen als sonst. Wenn man Menschen lieben will, muss man sie meiden, denkt er. Er geht nach vorne, fast bis ans Ende des Bahnsteigs, starrt auf die Gleise. Auf der Rückfahrt will er sich in den letzten Waggon setzen, er weiß, die Fahrt ist zu kurz, als dass der Schaffner sich bis zu ihm vorarbeiten könnte. Auf der Hinfahrt unterstreicht das Fahren ohne Karte seinen Status, ein Eklat mit dem Schaffner ist gut fürs Geschäft, irgendwie sind alle Passagiere immer gegen den Schaffner, selbst wenn sie 1. Klasse Fahrkarten haben. Auf der Rückfahrt will er unbehelligt bleiben. Ein paar Kilometer von hier arbeitet die Frau mit dem gelben Kopftuch in der hochsommerlichen Sonne. Auf die Augenblicke, während derer sie vom Zugfenster aus zu sehen ist, wartet er jeden Tag.

    Du musst dich auf Rohstoffe verlegen. Handel mit einem essentiellen Rohstoff, hat Finzens zu ihm gesagt. Diese Bettlerei ist doch unter deiner Würde.

    Rohstoff? Was meinst du damit? Soll ich nach Öl bohren? Nach Kohle graben? Gold waschen? Auf Diamantsuche gehen in den Bergen? Heutzutage gibt es doch gar keine Rohstoffe mehr. Keine echten. Alles ist verarbeitet und bearbeitet. Die Rohstoffe werden nicht mehr gefunden, sondern in Fabriken hergestellt. Abgesehen davon, bin ich irr, mir so was anzutun? Bin ich ein Präsident, der sagt, guten Tag, ich werde einen Krieg anfangen, weil man bös zu mir war. Ist mir viel zu anstrengend.

    Ich rede von einem sanften Rohstoff, hat Finzens geantwortet. Etwas Menschliches. Etwas, das das Schöne mit dem Notwendigen verbindet.

    Das Schöne mit dem Notwendigen verbinden … Utopist. Das Schöne ist eben schön, weil es nicht notwendig ist, gänzlich überflüssig.

    Essen ist notwendig und schön. Trinken.

    Aber nicht schön, wie ich es meine.

    Deine Schönheit kenne ich dann nicht.

    2  magnistipula

    Ein erst vor wenigen Jahren entdeckter Kaffeebusch aus West Afrika. Der wissenschaftliche Name kommt von den Stipeln, den Nebenblättern, die diese Pflanze ausbildet und an denen sich Regenwasser und Detritus sammelt. Oberirdische Zusatzwurzeln, die erst nach der Keimung ausgebildet werden, nehmen aus dem dort gesammelten Wasser Nahrung auf

    Die Vielfalt der Welt reckt sich ihm entgegen. Wie andere im Wald wandern, um zur Ruhe zu kommen, wandert er durch ein Gestrüpp von Kleiderständern. Schals schlingen sich weich und flauschig um seinen Hals, gesäumte Ärmel von Staubmänteln umarmen ihn, bevor er das Geschäft geschwind wieder verlässt. Kinder, die da unvermittelt vor seine Füße geraten, aus Ecken hervorschießen, als würden sie gejagt, gleichen in seiner Vorstellung wilden Füchsen, Wieseln oder Dachsen, von irgendeinem Rascheln aufgeschreckt. Es ist lange her, seit er zum letzten Mal etwas gekauft hat. Kaum war er bei Finzens eingezogen, hat er eine Investition getätigt, sich ein scharfes Messer zugelegt, für Gemüse.

    Jetzt, im Trubel der Stadt, streunt er von Geschäft zu Geschäft. Zwischen den Türen der Kaufhäuser bläst ein straffer Wüstenwind. Er hält sich die Hände vors Gesicht, als müsse er sich wirklich durch einen Sturm kämpfen und die klimatisierten Verkaufsräume wären Oasen. Er trägt helle Sandalen, an den Zehen haben sie Ranken, wie Blättchen. Weil Finzens dieses Schuhwerk oft verspottet, überlegt er, ein neues Paar zu erstehen. Besser gar kein Geld als zu wenig. Jemand muss doch den Markt beleben. Die Verkäuferinnen sind siebzehneinhalb Jahre junge Kinder. Ein Mädchen mit dunklen Zöpfen hat ihm ihr Alter verraten, im Vertrauen, ein Kichern verschluckend.

    Wenn Sie dieses Modell unbedingt wollen, strahlt sie ihn an, dann kann ich in der Filiale weiter unten anrufen, Sie kennen sie vielleicht, die gegenüber von Peek & Cloppenburg, nur fünf Minuten von hier. Er nickt, will unbedingt, dass sie anruft.

    Leider, in ihrer Größe ist nichts mehr

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