Liebesmaschine N.Y.C.: Storys
Von Andrea Grill
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Über dieses E-Book
Aber eigentlich schreibt hier nicht nur eine Wienerin, sondern jemand, der sich zeitlebens als New Yorkerin gefühlt hat. Andrea Grill nimmt uns mit auf ihre Reise. Sie stellt uns Menschen vor, denen sie begegnet ist, und berichtet Ereignisse, die sie miterlebt hat. So erfährt man ei-niges über das Leben in dieser ewig faszinierenden Stadt und gleichzeitig - wie es dem Ideal des Reisens entspricht - sehr vieles über die Person, die reist.
Wie filmische Short cuts reihen sich die Episoden der Porträtierten zu einem bunt gewürfelten Ganzen. "Liebesmaschine N.Y.C." ist die Liebeserklärung einer Schriftstellerin an eine Stadt, die einen in ihren Rhythmus und ihre Lebendigkeit hineinzieht.
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Buchvorschau
Liebesmaschine N.Y.C. - Andrea Grill
Kerouac
METRONOM
ICH BIN EINE New Yorkerin gewesen, bevor ich je einen Fuß in die Stadt setzte. Das ist nicht einfach so dahin gesagt. Das Tempo der Schritte der Fußgänger ist das Metronom einer Stadt, ein Code, anhand dessen sich identifizieren lässt, wo man sich befindet; auf der Suche nach einer Messgröße für die Verschiedenheit von Städten ist man darauf gestoßen. Nicht die Bauwerke, die Schritte der Menschen, die sich in ihr aufhalten, machen jede einzelne Stadt unverwechselbar.
Ich gehe so schnell wie die New Yorker, kann nicht mehr aufhören zu gehen, wenn ich gehe, höre ich ein Klicken im Rücken, unterm Schulterblatt, ein dumpfes metallisches Geräusch, das Echo eines Knisterns. Ganz plötzlich ist es da gewesen, kein echter Schmerz, eher ein Drücken, manchmal vergessen, trotzdem: anwesend. Wie, wenn einem jemand eine Hand auf die Hand legt, das tut nicht weh; erst auf Dauer tut es weh. Ich muss ein Stück Eisen absorbiert haben, oder Stahl, nach Aluminium klingt es nicht. Das Metall hat sich unmerklich ins Fleisch integriert, klickt zu jedem meiner Schritte entlang der Avenues.
Habe ich eine der Tabletten verschluckt? Die es geben wird, wenn singularity eintritt, das Eingreifen der Technik in die menschliche Evolution; kleine Hardwarechips, die nach Bedarf diverse innere Organe reparieren, sie folgen der auf ihnen befindlichen Software. Man schluckt sie, statt sich einer Operation zu unterziehen. Es klingt nach Fortschritt.
Bei einem Thema, das es erlaubt, nimmt er kurz meine Hand, hält sie fest, obwohl sich das Thema geändert hat; die Geste könnte noch als unverbindlich gelten.
Ich habe einen Zwilling in New York, sagt er.
Wie oft Menschen einander im Gespräch berühren – ein anderes Metronom; in Mexiko hundert Mal pro Stunde, in Rom zwanzig Mal, in London ein Mal, in manchen Städten hält man sich während des Sprechens immer an den Händen. In New York, wo ich zuhause bin, geschieht es, wie es sich ergibt, einmal so, einmal so. Je nachdem, mit wem man spricht; je nachdem in welcher Sprache.
Wenn Musiker in einer Stadt auftreten, sprechen sie das Publikum mit dem Namen der jeweiligen Stadt an, egal woher die Leute in Wirklichkeit kommen; manchmal sind sie aus einem anderen Land. Bei vielen Konzerten habe ich mich von einer solchen Anrede angesprochen gefühlt ohne aus der betreffenden Stadt zu sein.
Bevor ich nach New York reise, liege ich am Strand einer italienischen Insel, auf der ich mich regelmäßig aufhalte. Es ist Mai, es ist windig, ich lese am Telefon meine elektronische Post. „Wenn Sie wollen, können Sie ab September nach New York kommen."
New York steht nicht in der Nachricht, aber für mich steht da: New York. In Wirklichkeit steht da: New Jersey, die Achselhöhle Amerikas. Und plötzlich will ich, an der Küste des tyrrhenischen Meeres, dringend nach New York. „Falls Sie so kurzfristig reisen können", steht da. Ja, antworte ich, ja ich kann.
Zu allen sage ich: Ich gehe nach New York, meiner eigentlichen Heimat, es ist mir vertraut. Zu keinem sage ich: New Jersey.
Ich liege im Mittelmeersand und denke an schnurgerade breite Straßen, deren Enden sich in staubigem Dunst verlieren. Bald werde ich sein, wo ich hingehöre.
Ich fahre mit einem Kajak auf der Donau.
Ich organisiere eine Party.
Ich kaufe einen Koffer.
Eine Freundin schenkt mir ein Armband mit einem echten Skorpion darin.
Habe ich dir je ein Armband mit einem in Glas eingelassenem Insekt geschenkt, fragt sie, als wir uns verabschieden.
Nein, antworte ich wahrheitsgemäß.
Die Antwort überrascht sie. Sie zieht eine Lade auf und nimmt aus der Lade, ohne zu suchen, genau das richtige Armband.
Das habe ich vergessen, dir zu geben, das wird dein Flugzeug und alle Flugzeuge vorm Absturz bewahren. Sie ist Astronomin, mit sehr blonden Haaren, einem senegalesischen Herz.
Der Koffer ist der erste Koffer, den ich mir nicht ausborge.
Den größten, den Sie haben, verlange ich im Geschäft. Als ich ihn über die Mariahilferstraße rolle, scheint er mir viel zu groß. Zuhause fülle ich ihn an. Nicht mit dem, was ich für drei Monate brauche, sondern bis er voll ist. Ich versuche, ihn aufzuheben; es geht nicht. Ich räume alles wieder aus und packe ein, was ich normalerweise für zwei Wochen mitnehmen würde. Ich hebe den Koffer auf – ob das zwanzig Kilo sind? Waage besitze ich keine.
Mein Wissen über New York City setzt sich, wie das bei Heimatorten so ist, kaum aus Zahlen, Fakten zusammen, ich weiß, welche Farben, Umrisse es hat; klar, scharf, kein Pastell. Licht, sehr viel Licht, crispy, knuspriges, resches Licht, vor allem: Bars. Ich kenne das Leben in New York, seine Bewohner, wie sie sich kleiden, was sie hören, lesen, beschäftigt; wie beschäftigt sie sind.
Wie meine Reise auf einer Insel beginnt, hat die Idee zu dieser Stadt mit einer Insel angefangen, holländische Siedler nannten sie New Amsterdam, kein Wunder, Holländer hatten nie Scheu vor dem Wasser. Unter dieser Insel, Manhattan, muss ein enormer Magnet sein, dessen Gravitationsfeld alle Leute der Erdoberfläche ansaugt und das hinausreicht bis in andere Galaxien. Kaum denkbar, wie es die Erde schon so lange geben hat können, bevor es New York gab. Niemand sagt zu mir, Ach schade, du Arme, du musst nach New York.
In New York haben wir es zum ersten Mal geschafft, eine Landschaft zu bauen, mit Canyons, Talmündern – ein für den einzelnen unkontrollierbares Relief, aber doch ganz von uns und nicht von einem Gletscher oder Fluss gestaltet und bewohnbar bis in seine äußersten Spitzen.
Wir bewundern unser Talent. New York ist ein Talisman, ein Amulett, dem wir glauben, dass uns Menschen nichts wirklich Schlimmes zustoßen kann; wir haben den Glücksbringer ja selber gemacht.
Für mich als New Yorkerin im Exil erfüllt die Zeitschrift The New Yorker eine ähnliche Funktion. Ich kaufe den New Yorker zu einem überteuerten Preis auf europäischen Flughäfen oder in Bahnsteigkiosken; trage ihn mit mir herum, lese ab und zu eine Seite. Nie habe ich den New Yorker von vorne nach hinten gelesen, selten einen Artikel zu Ende. Ihn zu haben ist herrlich. Er ist die einzige Zeitschrift, die ich möglichst jede Woche haben will. Ich lege mich mit ihm auf die Couch und das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben, stellt sich ein; smart zu sein, clever und crisp. Er fällt mir aus den Händen auf die Nase. Dass ich den New Yorker lese, ist der Beweis dafür, dass es mir gut geht.
Am elften September des Jahres zweitausendundeins war ich ebenfalls auf der Insel, auf der ich neun Jahre später die Einladung aus New York erhalte.
Ich betrat eine Bar in einem Dorf mitten in den Bergen und sah, wie Fenster eines Wolkenkratzers – hinter den mit Aperol gefüllten Cocktailgläsern erkannte ich das Gebäude auf den ersten Blick gar nicht – wie Erdäpfelchips herumflogen, die der Luftzug einer knallenden Tür aus der Schale fegt. Die Übertragung war kein Thriller, sondern Live-Nachrichten.
Questo è New York, sagte der kahle Mann hinter der Theke damals bedächtig, stellte eine Schale Oliven neben die Gläser mit dem durchsichtig roten Aperol.
Neun Jahre später bin ich wieder dort und alles ist ruhig wie damals. Auf der Straße spricht man in Großbuchstaben, in Kleingruppen, an ein Auto gelehnt, zählt die Sonntage an den Segeln der Frachtschiffe aus dem Westen.
Bevor ich nach New York City abfliege, esse ich mit einem Freund Risotto. Vielleicht riecht es noch danach, wenn du zurück kommst, sagt er, als er sich verabschiedet.
Ich reise über Paris, die Flight-Attendants sprechen Französisch, sind höflich wie ich mir eine Schwiegermutter wünsche. Über den Wolken scheint, wie immer, die Sonne; neben mir sitzt