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Der Radfahrer von Tschernobyl
Der Radfahrer von Tschernobyl
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eBook257 Seiten3 Stunden

Der Radfahrer von Tschernobyl

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Über dieses E-Book

Javier Sebastián setzt den namenlosen Opfern und verleugneten Helden von Tschernobyl ein literarisches Denkmal - so spannend wie ein Abenteuerroman und mindestens ebenso informativ wie das beste Sachbuch zum Thema.

Auf dem Weg nach Paris zur Internationalen Generalkonferenz für Maß und Gewicht wird der spanische Delegierte und namenlose Erzähler dieses außergewöhnlichen Romans Zeuge davon, wie ein alter Mann in einem Fastfood-Restaurant ausgesetzt wird. Mehr oder weniger unfreiwillig nimmt er sich des Fremden an, auf dessen Unterarm eine geheimnisvolle Tätowierung in kyrillischen Buchstaben prangt.
Als sich herausstellt, dass es sich bei dem Alten um den Atomphysiker Wassili Nesterenko handelt, dank dessen Intervention damals in Tschernobyl noch Schlimmeres verhindert werden konnte, verwischen sich die Grenzen zwischen Fiktion und Fakten vollends: Sebastián entführt uns aus Paris nach Prypjat, der Retortenstadt in unmittelbarer Nähe des Reaktors, und erzählt eindringlich die Schicksale seiner Bewohner.

Sie verdanken Nesterenko - oder Wassja, wie der Radfahrer von Tschernobyl von ihnen liebevoll genannt wird - nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Zukunft: Unbeeindruckt von der staatlichen Repression tut Nesterenko alles dafür, den Opfern von Tschernobyl den Alltag nach der Katastrophe wenigstens ein bisschen zu erleichtern.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. Sept. 2013
ISBN9783803141415
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    Buchvorschau

    Der Radfahrer von Tschernobyl - Javier Sebastián

    ist.

    EINS

    Jede Sekunde war ewig, als würde sich alles auf dem Meeresboden abspielen.

    Ich überflog eine Reportage über den Untergang der Lusitania 1915, und als ich aufblickte, sah ich sie die Treppe hinaufkommen. 1 198 Passagiere waren damals ums Leben gekommen auf dem Dampfer, der unter britischer Flagge fuhr. Der alte Mann und die Frau sahen aus wie Überlebende der Tragödie.

    Es war ein modernes Selbstbedienungsrestaurant mit Leuchttafeln, auf denen für diverse Menükombinationen mit Beilagen und Extras geworben wird. Die beiden gingen zu einem Tisch neben der Theke mit dem Serviettenspender und den portionsweise abgepackten Saucentütchen. Die Frau schleppte zwei volle Kleidertüten, die nach Umzug aussahen. Ich riss mich zusammen und wandte mich wieder meiner Sonntagsbeilage zu; was ich dort sah, fiel nicht in mein Gebiet. Derjenige, der befohlen hatte, die Lusitania zu torpedieren, so las ich, hatte die Seekriegsbestimmungen missachtet, die verlangten, dass die Passagiere ziviler Schiffe vor einem Angriff ausgebootet sein mussten.

    Wie magnetisch angezogen, wanderte mein Blick zu den soeben eingetroffenen Schiffbrüchigen hinüber. Der Mann hatte sich auf einen Stuhl gesetzt, oder vielmehr hatte er sich darauf fallen lassen. Ich nahm an, dass ihn furchtbare Rheumaschmerzen plagten. Er kippte in eine gefährliche Schieflage, die Frau setzte ihn wieder gerade hin.

    Es ging mich nichts an, also schaute ich wieder in meine Zeitung. Von einem Artikel über die Tobin-Steuer interessierte mich lediglich die Überschrift, ich blätterte weiter und blieb bei einer Werbeanzeige hängen. Eine weibliche Bikinihüfte mit einer Digital-Pentax darauf, an dem Strand wäre ich jetzt auch gern. Aber das geht nicht, es ist Sonntag und es ist September, ich bin tausendeinhundert Kilometer weit weg von zu Hause, und hier schaut keiner irgendjemanden an. Keiner außer mir, ich linse hinter meiner Zeitung hervor und habe alles im Blick: Die zwei Lusitania-Überlebenden haben ihre Essensschachteln geöffnet, Juniorboxen, die Frau muss es machen, er kann es nicht. Vielleicht hat einer von beiden Geburtstag, und sie wollen hier feiern. Das Lokal befindet sich auf der berühmtesten Prachtstraße des Landes. Das Land ist Frankreich. Und durch die breite Fensterfront hat man einen echten Luxusblick.

    Der Mann kippt wieder zur Seite. Sie schiebt ihn zurück, damit er nicht abstürzt, wie sie es an diesem Tag sicher schon viele Male hat tun müssen. Dann streicht sie ihm das Haar aus dem Gesicht.

    Ich brauchte Servietten, das war meine Ausrede, um an ihnen vorbeizuschlendern. Da sah ich alles. Der Mann konnte kaum kauen, ich denke sogar, er aß im Grunde gar nicht.

    In den Tüten waren tatsächlich Kleider. Das konnte ich immerhin genau erkennen.

    Zurück an meinem Tisch, breitete ich die Sonntagsbeilagen wie einen Fächer vor mir aus, als hätte ich vor, noch eine ganze Weile zu bleiben; es kam mir auf einmal ganz gemütlich vor hier, beinahe wie zu Hause. Ich linste wieder hinüber. Sein Anzug war ihm zu weit. Das Jackett hatte ihm vielleicht früher mal gepasst, jetzt aber nicht mehr.

    Sie steht auf. Wischt sich die Krümel von der Bluse. Stellt mit Bedacht die Essensreste auf das Tablett wie jemand, der alles richtig machen will, und trägt es zu einem Abfalleimer. Dort wirft sie alles hinein. Kommt wieder zu ihm an den Tisch. Sie beugt sich ein wenig zu ihm hinunter, wie um ihm etwas ins Ohr zu flüstern, doch dann hält sie inne, sagt nichts, richtet ihm lediglich den Hemdkragen, der sich ihm hinten aufgestellt hat. Sie gibt ihm einen Kuss auf die Stirn, streicht ihm über die Wange, noch ein Kuss, und sie geht. Sie ist weg.

    Die Frau war gegangen und hatte den Lusitania-Überlebenden in dem Selbstbedienungsrestaurant neben zwei vollen Kleidertüten sitzenlassen. Nach zehn Minuten war sie immer noch nicht zurück. Nicht nach einer Viertelstunde und auch nicht nach einer halben. Da der Mann vom Stuhl zu kippen drohte und sie nicht zurückkam, musste ich zu ihm hingehen und ihn wieder richtig hinsetzen. Dass ich es nicht mit ansehen konnte, wie er so schief dasaß, erklärte ich ihm so behutsam wie möglich.

    Der Lusitania-Überlebende gab keine Antwort. Er schaute mich an wie jemand, der nicht versteht. Mit einer Geste verlangte er nach etwas zu schreiben, jedenfalls kam es mir so vor, ich gab ihm eine Papierserviette, schreiben Sie darauf, was Sie wollen, sagte ich. Wenn Sie nicht sprechen können oder es Sie zu sehr anstrengt, können wir uns schriftlich verständigen. Hier, Sie können meinen Stift nehmen. Aber der Mann zuckte mit den Schultern und wollte doch nicht mehr schreiben.

    Ich half ihm, sich richtig hinzusetzen. So würde er nicht vom Stuhl fallen, wenn ich meine Sachen zusammenpackte und ging. Alles Weitere würde schon irgendjemand in die Hand nehmen. Doch dann begegnete ich auf der Treppe einem Angestellten, dachte, Bescheid sagen könnte ich immerhin, und sprach ihn an.

    Sehen Sie den Mann da drüben, sagte ich. Vielleicht könnten Sie sich um den kümmern, man hat ihn hier sitzenlassen.

    Der Mann von Prypjat hatte seinen Unterschlupf in der Autoscooterkabine. Er sortierte die Chips nach Farben, und an manchen Abenden erlegte er Schlangen mit einer Pfanne. Er trug zwei Mäntel übereinander und hatte noch einen dritten als Reserve.

    Das Autoscooterhäuschen war sicherer als eine Wohnung, denn in den Höfen, in den Parks und auf dem Gelände des Tschemigow-Sportkomplexes streunten wilde Hunde. Unten im Hausflur nahmen sie Witterung auf und kamen dann über die Treppen nach oben. Es gab keine Türen mehr, die hatten sie alle abtransportiert, und die Hunde drangen überall ein. Magere, dreckstarrende Köter, manche hatten blutige Pfoten, an denen sich die Haut abgelöst hatte.

    Es geschah bei den Autoscootern. Der Mann von Prypjat hatte eine Technik erfunden, die Wagen wie von alleine fahren zu lassen, dann konnte man rufen: Hurra, der Strom ist wieder da, es lebe das Leben, es kommt wieder zurück, das Schlimmste ist vorbei.

    Für die vereiste, spiegelglatte Bahn hatte er sich Seilrollen und mehrere Meter Seil aus einem Lager besorgt. Die Seile schlang er einmal um das Gitter und knotete die Enden an den Lenkrädern fest.

    Er blickte zum Himmel auf und dachte, dass es keinerlei Notwendigkeit dafür gab, dass er existierte. Aber irgendjemand in Prypjat sollte doch existieren und die Verwandlung sehen, die sich gleich vollziehen würde.

    Das Seil fest gepackt, zählte er – eins, zwei, drei – und zog mit aller Kraft. Die Wagen setzten sich in Bewegung. Der rechte, der mit der Nummer fünf, hatte sich zehn Meter nach vorne bewegt. Seiner war mehr zur Seite gerollt, schräg über die Bahn, bis zu einem Riss im Asphalt. Seine Botschaft war: Shmychow, du bist nicht mehr allein.

    Oder falls hier noch irgendjemand lebt, dann weiß er jetzt Bescheid. Es ist ein neuer Bewohner eingetroffen in der Stadt Prypjat, der Stadt des Atomkraftwerks.

    Jetzt fehlte nur noch, dass die Lichter angingen. Fröhliches Rummelplatzgedudel, alte Schlager und aktuelle Charthits, junge Leute mit Fahrchips in der Hand, die darauf warteten, dass sie an der Reihe waren. Die Sirene ertönt und Fahrerwechsel, die nächste Riege auf die Piste.

    Ja, jetzt konnte man sagen, dass in der Stadt Prypjat jemand lebt, und der Beweis dafür ist, dass er vier Autoscooter in Bewegung gesetzt hatte. Manchmal pochte er morgens mit einem Stock gegen die Blechjalousien, um sich anzukündigen. Oder er legte auf einer Straßenkreuzung seinen Namen aus Steinen. Was konnte er sonst tun, ich habe doch zwei Hände, rief er laut, ich nehme Raum ein, ich gehe Straßen entlang, ich hinterlasse Spuren, wenn ich gehe.

    Das heißt: Jetzt gibt es Beweise, sehen Sie mich an, wenn Sie es nicht glauben, man wird diese Autoscooter hier zur Kenntnis nehmen müssen, wo haben sie vor fünf Minuten gestanden, und wo stehen sie jetzt? Von alleine fahren sie nämlich noch nicht, die Autoscooter.

    Es sollte aber auch Publikum geben, selbst wenn die Zuschauer nur Attrappen wären, also machte er sich auf in die Uliza Drushby Narodow, wo vor dem Unfall ein Laden gewesen sein musste. Er stapfte über losen Schutt, alles war von Pflanzen überwuchert. In einer Kiste fand er zwanzig Säcke, später würden sicher noch mehr auftauchen, aber erst einmal hatte er diese zwanzig Säcke, so groß wie Handtaschen.

    Er ging zurück über den großen, leeren Platz, auf dem noch ein paar Busse standen, die Ikarusse von der Evakuierung. Unterwegs rupfte er allerlei Unkraut aus und stopfte damit die Säcke voll. Solange keine anderen da sind, sind das hier eben meine Freunde und Bekannten, sagte er.

    Er postierte sie um die Bahn herum, band sie am Gitter fest, wie die Gesichter von Zuschauern sahen sie aus, Verwandte und Bekannte, die über die Landstraße von Iwankowo gekommen waren, um ihn Autoscooter fahren zu sehen. Mit einem Körper aus Zweigen und einem Mantel oder einer Decke darüber würden sie von weitem aussehen wie Menschen.

    Unterdessen warteten die Gesichter darauf, dass sie an der Reihe waren. Aber sie werden noch ein wenig warten müssen, wir haben alle Zeit der Welt, die Piste zu stürmen, überlegen Sie sich ganz in Ruhe Ihre tausend kleinen Kunststückchen, bis das Eis geschmolzen ist, sehen Sie mich an, wie ich die Kunst des Fahrens beherrsche. Er erhob sich und applaudierte.

    Hier, ihr Gesichter, seht mich an!

    So begann er feierlich sein fabelhaftes neues Leben. Er blieb noch einen Moment in dem Autoscooter sitzen, es sollte bloß nicht eins von den Gesichtern kommen und ihm den Wagen wegnehmen, noch war er dran. Das Atmen fiel ihm schwer, die Leute sagen, am Ende wird einem die Zunge schwarz. Die Haut löst sich ab, und man fängt an sich zu übergeben. Oder man spuckt gelben Schleim. Aber die Leute sagen alles Mögliche, also kann man nie wissen.

    Man musste sich nur daran gewöhnen, in Prypjat zu leben hatte nämlich durchaus Vorteile, zum Beispiel den, dass hier alles ihm gehörte, weil keine anderen da waren, war er der Chef, der Vorsitzende vom Gorkom, dem Sitz des Parteikomitees.

    Vom Seilziehen waren ihm die Hände ganz blau geworden. Er griff nach dem Lenkrad und stellte sich vor, er sei unterwegs auf der Straße. Mit größter Sympathie grüßte er die Passanten. Aber bitte halten Sie mich nicht auf, ich werde nämlich im Kraftwerk erwartet, ich soll dort etwas berechnen.

    Er fuhr über die Felder. Beschleunigte auf hundert Stundenkilometer. Durchquerte Semichody, Schepelytschi und die nächstliegenden Orte. Ob jemand hier sei, rief er im Vorbeifahren, und es tauchte vielleicht eine Witwe in langem Gewand auf, das Haar mit einem Tuch zurückgebunden und das Foto ihres seligen Mannes in der Hand. Ich bringe Brot und Nachrichten, rief der Mann. Hier können Sie nicht bleiben, Sie sind hier nämlich mitten in der Sperrzone, und sehr bald werden die Soldaten Ihr Dorf mit ihren Baggern begraben; es wundert mich, dass sie es nicht schon längst getan haben. Falls Sie aber doch bleiben, gehen Sie nicht in den Wald, pflücken Sie keine Pilze, trinken Sie kein Brunnenwasser.

    Ja, bei den Autoscootern fing alles an. Ein paar Tage später wollte er die Wagen noch einmal fahren lassen, er hielt schon das Seil in der Hand, da sah er, dass einer der Säcke am Gitter fehlte. Er hatte ihnen allen Namen gegeben: meine gute Ilsa, große, endgültige Liebe meines Lebens. Alexei. Wolodja. Der Sack hier soll Valentina Maljawskaja heißen. Der andere da ist Shmychow von der Anorganischen Chemie im Sosny-Laboratorium. Die kleine Darja. Und so weiter bis zwanzig. Und jetzt waren es nur noch neunzehn.

    Beim Riesenrad und bei den Schaukeln fand er nichts, also suchte er das ganze Gelände bis zu den Bänken im hinteren Teil ab und umrundete erneut die Autoscooterbahn. Wo steckst du, brummte er, du Sack oder du Gesicht du, keine Ahnung, wie ich dich nennen soll. Aber ich werde dich sowieso finden, das ist reine Zeitverschwendung hier. Plötzlich lag der Sack auf einem der Autoscootersitze, daneben eine Handvoll Kosmos-Bonbons.

    Jemand hatte ihm Augen und Mund gemalt.

    Bei dem Anblick befiel den Mann von Prypjat ein so panisches Entsetzen, dass er sich schnellstens in seine Kabine flüchtete. Unter mehreren Decken vergraben, spähte er eine ganze Weile regungslos durch den Türspalt, doch es war niemand zu sehen.

    Früh am nächsten Morgen traf ich mit den Vertretern der Staaten zusammen, die an der offiziellen Homologierung des Kilogramms teilnahmen, dafür war ich in Paris. Einberufen hatte die Generalkonferenz für Maß und Gewicht. Willkommensfrühstück und altbekannte Worte über die Bedeutung unserer Arbeit von Roland Jöhri, dem Vorsitzenden der Konferenz. Später wurde jeder einzelne Zylinder exakt gewogen und feierlich verwahrt, damit wir später in den jeweiligen Territorien unserer Rechtsprechung bescheinigen konnten, dass ein Kilo auch exakt ein Kilo war. Ein eindeutiges und unmissverständliches Kilo. Das amtliche Kilogramm.

    Die Waagen maßen bis auf die Tausendstel genau, denn die geringste Gewichtsabweichung konnte für die Industrie oder die Landwirtschaft eine Katastrophe bedeuten. Zum Schluss bekam man ein paar orangefarbene Papiere abgestempelt, die anschließend in Plastik eingeschweißt wurden, und damit fuhr man zurück in sein Land.

    Die Vertreter der übrigen sechs Konventionsmaße wurden an den folgenden Tagen einberufen. Das Mol, das Kelvin, das Ampere und der Rest. An diesem Tag war das Kilogramm dran. Da der Veranstaltungssaal der Zentrale in Sèvres renoviert wurde, beförderte man uns mit dem Bus in ein nahe gelegenes Gebäude, gut vier Dutzend Beamte mit identischen Koffern, darin jeweils exakt ein Kilogramm.

    Ich allerdings hatte zwei Zylinder dabei. 1896 nämlich, genau in dem Moment, als das homologierte Kilo nach Manila geschickt werden sollte, hörten die Philippinen auf, Kolonie zu sein, und die spanischen Behörden, denen der Zylinder ja gehörte, beschlossen, ihn zu behalten. So war Spanien das einzige Land der Welt, das offiziell zwei Kilogramme besaß, und ich als sein Vertreter trug sie durch die Gegend, genau wie meine Amtsvorgänger es getan hatten. Doppeltes Gewicht, doppelte Anstrengung, aber die gleiche Bezahlung wie die übrigen Delegierten. Doch ich beklagte mich nicht. Meine Arbeit flößte denen, die meine Dienste benötigten, Respekt ein.

    Da kommt der Exakte. Der Mann, der niemals lügt. Da kommt Dos Kilos, wie sie mich nannten.

    Ich fand das ganz lustig, nahm es aber nicht allzu ernst.

    Ich sprach mit dem belgischen Delegierten und mit der Russin Jana Lednewa, die zur Abteilung Mol gehörte und von daher an diesem Tag nicht hätte da sein müssen, aber trotzdem da war. Ich sprach mit Montignoso, mit Peter Becker von der deutschen Physikalisch-Technischen Bundesanstalt und mit Carolina Pompeo.

    Am späten Vormittag bekamen wir die Zertifikate, und ich verabschiedete mich. Ich blieb nicht zum Mittagessen und auch nicht zu den Nachmittagssitzungen. Und das, obwohl Jana Lednewa sich beträchtlich ins Zeug legte. Aber es ging nicht. Ich hatte etwas zu erledigen.

    Ich trat auf die Straße hinaus und ging zu Fuß zurück zum Hotel, die Avenue de La Motte-Picquet entlang, und die Lusitania-Überlebenden gingen mir nicht aus dem Kopf, wie schon den ganzen Vormittag über. Deshalb war ich auch nicht geblieben.

    Der Mann war vielleicht in dem Selbstbedienungsrestaurant ausgesetzt worden, und ich hatte mich dann auch nicht um ihn gekümmert. Obwohl das genaugenommen so nicht ganz stimmte; bevor sie ging, war die Frau immerhin so anständig gewesen, ihn zum Essen einzuladen, und zwar an einem Ort, an dem nicht nur die Menüs leicht zu kauen waren, sondern wo sie auch davon ausgehen konnte, dass ihm bestimmt jemand zu Hilfe kommen würde, was etwas ganz anderes ist, als ihn zu Hause vor sich hin faulen zu lassen. Und ich, ich hatte einem Angestellten Bescheid gesagt, damit sich jemand seiner annahm.

    Da ich mit dem Auto unterwegs war, musste ich nicht zu einer festen Zeit nach Spanien zurückfahren und marschierte mit meinem Zweikiloköfferchen in das Fastfood-Lokal. Ich wollte wissen, was aus dem Mann geworden und ob meine Zeugenaussage erforderlich war.

    Ich stieg die Treppe hoch in die obere Etage, aber da war er natürlich nicht, wie sollte er da auch sein; da sah man es, ich hatte kein Talent. Auch die Kleidertüten entdeckte ich nicht. Insgesamt keinerlei Hinweis darauf, dass hier einen Tag zuvor jemand ausgesetzt worden wäre. Die Welt erneuert sich jeden Augenblick. Indessen verschwindet das Vergängliche, ohne dass man weiß, wohin. Ich wollte schon wieder gehen, da sah ich den Angestellten vom Vortag, ich erkannte ihn an seiner Fantasybrille mit dem lila Gestell. Erinnern Sie sich an mich? Er blickte mich mit unergründlicher Miene an. Und erinnern Sie sich an den älteren Herrn, der gestern an dem Tisch da drüben saß?, fragte ich ihn und deutete mit dem Finger auf den Tisch. Ja, ich erinnere mich, sagte er.

    Was ist denn aus ihm geworden?

    Einen Moment bitte, er werde den Geschäftsführer rufen, Monsieur Parveaux. Der Brillenmann schoss in Richtung Büro davon und verschwand hinter einer Tür. Ich schaute ihm perplex hinterher, ich hatte ihm doch eine ganz einfach zu beantwortende Frage gestellt. Die Tür ging auf, jemand streckte kurz den Kopf heraus, blickte mir forschend ins Gesicht und zog die Tür wieder zu. Eine Minute später war Monsieur Parveaux bei mir und entschuldigte sich beflissen, dass er mich habe warten lassen.

    Ich wollte mich nur nach dem Mann erkundigen, rein mitmenschliches Interesse, nichts weiter, weil ich doch gestern gesehen habe, wie er hier am Ende ganz alleine sitzen geblieben war, und immerhin habe ich hier, ich klopfte mir auf die Brust, keinen Stein.

    Monsieur Parveaux verstand.

    Aber bitte, kommen Sie doch bitte hier entlang.

    Er bestand darauf, dass ich ihn ins Büro begleitete, fasste mich am Arm, es machte beinahe den Eindruck, als hielte er mich fest. Es schmeichelte mir, dass er mich so dringend zu konsultieren wünschte, und ich hatte ja keine Eile.

    Der alte Mann. So schutzlos wirkte er, immer schräger hing er da auf seinem Stuhl, beinahe wäre er zu Boden gestürzt. Und die Kleidertüten, was haben Sie mit denen gemacht, Monsieur Parveaux? Sagen Sie mir doch bitte, was passiert ist. Aber zunächst bat mich Monsieur Parveaux darum, ganz kurz einen Fragebogen zur Servicequalität des Lokals auszufüllen. Dafür erhielt ich mehrere Gutscheine, mit denen ich Anspruch auf ein Dutzend Menüs hatte.

    Nichts lag mir ferner, als dem liebenswürdigen Monsieur Parveaux meine Achtung zu versagen, also stellte ich mein Köfferchen auf dem Boden ab, um den Bogen auszufüllen. Ich musste um einen Stift bitten, denn meinen hatte der alte Mann behalten, nach dem ich mich erkundigen wollte, wie ich jetzt bemerkte.

    Hier haben Sie mehrere, sagte Parveaux, Geschenk des Hauses. Als ich bei der elften Frage war, die die Sauberkeit des Etablissements betraf, und noch schwankte, ob ich befriedigend oder vollkommen befriedigend ankreuzen sollte, klopfte es an der Tür. Ohne Parveauxs Aufforderung abzuwarten, traten zwei Gendarmen ein. Das ist er, sagte Parveaux schnell und zog sich hinter seinen Schreibtisch zurück, wo er sich offenbar sicherer fühlte. Er zeigte mit dem Finger auf mich. Das ist er.

    Die Gendarmen wollten meinen Namen wissen, ich nannte ihn. Kommen Sie mit.

    Ich widerspreche niemandem gern, ich sehe meist keine Veranlassung dafür, also fand ich mich zu allem bereit. Der eine Gendarm sagte, sie würden mir alles beim SAMU Social erklären, dem französischen Sozialdienst. Jetzt seien Sie still, und kommen Sie mit. Sie würden mir

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