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Die Kathedrale
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eBook354 Seiten5 Stunden

Die Kathedrale

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Über dieses E-Book

Tea lebt alleine und zurückgezogen, sie herrscht über ein Chaos aus Müll, den sie immer wieder neu sortiert. Doch wie wurde eine Tochter aus gutem Haus, eine Arztgattin und Mutter, zur Erbauerin schwankender Joghurtbechertürme - zum Messie? Als Teas Schwester Kerstin stirbt, trifft man sich zum Gottesdienst. Mit unterkühltem Humor und feinem Sinn für das Absurde beschreibt Taskinen, wie die würdevolle Trauerfeier einer bürgerlichen Familie in ihr Gegenteil kippt. Es tun sich alle Abgründe auf, die Tea zur verzweifelten Sammlerin jener scheinbar wertlosen Bausteine gemacht haben, aus denen ihr Leben besteht. Durch die Empathie ihres Erzählens gelingt es Satu Taskinen meisterhaft, uns mit der Grausamkeit des Familienlebens zu versöhnen.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum22. Sept. 2015
ISBN9783701745111
Die Kathedrale

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    Buchvorschau

    Die Kathedrale - Satu Taskinen

    Satu Taskinen

    Die Kathedrale

    Satu Taskinen

    Die Kathedrale

    Roman

    Aus dem Finnischen übersetzt

    von Regine Pirschel

    Residenz Verlag

    I – Finnish Literature Exchange für die Unterstützung.

    Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

    Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

    im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    www.residenzverlag.at

    Die Originalausgabe »Katedraali« erschien 2014 im Verlag Teos, Helsinki.

    Für die deutschsprachige Ausgabe

    © 2015 Residenz Verlag GmbH

    Salzburg – Wien

    Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks

    und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

    Umschlaggestaltung: Thomas Kussin

    Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

    Lektorat: Jessica Beer

    ISBN 978 3 7017 4511 1

    Für Ewald.

    Für die Liebe. Für die Freude. Für das Mitgefühl.

    Prolog

    Am Unglücksort

    Zu entgleisen ist viel erbarmungsloser und weit furchtbarer als gegen eine Wand zu prallen, sagte der eine Mann, er war klein, breit und philosophisch.

    Das mag sein. Aber das ist keine Antwort auf eine ganz normale Frage, und ich müsste jetzt hier mal durch, Entschuldigung, sagte der andere Mann, er war lang, schmal und ungeduldig.

    Ein Unfall war passiert, ein Auto war mitten auf der Straße in eine Baugrube gerutscht, Neugierige versammelten sich am Ort des Geschehens.

    Ist Hilfe unterwegs?, wurde gefragt. Ja, die kommt schon, hören Sie nur. Sirenengeheul näherte sich aus mehreren Richtungen gleichzeitig, in irgendeiner Zentrale war wohl sicherheitshalber eine Art Großalarm ausgelöst worden. Bleiben würde, wer als Erster eintraf.

    Auch Donner grollte. Die Frau des philosophischen Mannes mochte keinen Donner, der jagte ihr Angst ein. Sie verspürte eine wilde, mit Ehrfurcht gemischte Erregung, die ihr Herz schneller schlagen ließ und ihr Blut so stark in Wallung brachte, dass sich die Wangen röteten und die Achseln schweißfeucht wurden.

    Es grollte erneut. Die Frau versuchte sich zu beruhigen: Kein Grund zur Sorge, es hat im Frühjahr ständig gedonnert, auch im Winter, im Herbst, ein ganzes Jahr lang. Nur selten wurde ein Unwetter daraus, es donnerte einfach nur. Doch dann meldeten sich andere Gedanken: vielleicht war es pures Glück gewesen, dass noch nichts Schlimmes passiert war, wo doch andererseits alles immer größer und heftiger ausfiel und häufiger auftrat, und außerhalb der Stadt schlug der Blitz auch schon mal in Passanten ein. Davon konnte man in der Zeitung lesen, zuletzt war ein 42-jähriger Mann von guter körperlicher Verfassung ums Leben gekommen. Oder waren das Zeitungen gewesen, die man nicht hätte lesen sollen? Wie viel Lüge war eigentlich erlaubt? Wie viel durfte jemand lügen, ohne dass er dafür ins Gefängnis kam, gab es so ein Gesetz überhaupt?

    Der philosophische Mann dachte: Man muss abwarten, bis sich die Situation klärt.

    Seine Frau dachte: Die Sirenen heulen, auch die Verkehrsbetriebe haben eigene Notfallfahrzeuge, die halten vor dem Blumengeschäft und dem Lebensmittelgeschäft, dem Call Shop, der Drogerie und der Pizzeria Azzurro, eine wahre Armada. Seine Frau beobachtete alles, sie war interessiert wie ein wachsames Tier, sie wusste auch, dass sie interessiert war wie ein wachsames Tier: die Hände raus aus den Taschen, als die Beobachtung, die Kartierung begann. Die Unfallhelfer näherten sich mit rhythmischen Schritten, sie schritten stets rhythmisch aus.

    Der ungeduldige Mann dachte nervös: Wie lange wird das dauern? Die Straßenbahnen bildeten bereits eine Schlange.

    Aber Straßenbahnen können nicht überholen, die Fahrer können ihre Fahrgäste nur bitten auszusteigen, sie können sich nur den Schweiß von der Stirn wischen und bedauern, mehr können sie nicht tun, wenn ein Auto mit schrecklichem Getöse in die Grube zwischen den Schienen gerutscht ist.

    Die Polizei verbot den Leuten, die Straße an dieser Stelle zu überqueren, in einer Stadt gab es immer auch andere Wege.

    Der ungeduldige Mann dachte: Ja, zum Glück, die gab es. Aber nicht alle Leute gehorchten, und die Polizei wiederholte das Verbot. Man musste entweder warten oder umkehren und einen anderen Weg nehmen, also vergessen Sie den Hut. Den Hut?, wunderte sich der ungeduldige Mann. Irgendjemandem war anscheinend bei diesem Wind und dem ganzen Chaos der Hut abhanden gekommen, ein guter Hut. In Australien fuhr man mit dem Traktor über solche Hüte, das war die dortige Art der Qualitätskontrolle.

    Ich will die Grube sehen, sagte der ungeduldige lange Mann, aber der philosophische Mann und seine Frau verdeckten die Sicht. Eindeutig abgerutscht, aus der richtigen Bahn geworfen, geradezu entgleist, sagte der Philosoph und wich keinen Zentimeter. Er sprach mit starkzahnigem, sicherem Mund, sein Gebiss hatte im Laufe der Jahre eine eigene, leicht schiefe Form angenommen.

    Seine Frau dachte bei sich, wie wach sie sich doch jetzt fühlte und wie schwer morgens immer das Aufwachen gewesen war, es sei denn, man konnte anschließend noch liegen bleiben und erneut einschlafen, und genau das konnte sie jetzt. Hätte man also besser aufpassen müssen, was man sich wünscht?

    Der lange ungeduldige Mann musterte das Ehepaar: Wer war dieser Herr eigentlich? Müsste man ihn kennen? Gut, jetzt stehen wir also hier. Dass man hier warten musste und nicht mal über die Straße gehen durfte, daran war jemand anderer Schuld, vergessen Sie den Hut.

    Der kleine philosophische Mann stand mit den Schuhspitzen am Rand der Grube, er hatte die Situation mit zwei Worten richtig eingeschätzt, steckte die Hände in seine Taschen, rührte sich nicht.

    Der ungeduldige Mann dachte ärgerlich bei sich: Komme ich hier wirklich nicht mehr weiter, das kann nicht sein. Vielleicht konnte die Frau des philosophischen Mannes helfen. Wortreiches Bedauern usw., ich sollte jetzt wirklich weiter usw. Müssen wir jetzt wirklich miteinander streiten? Die Frau blickte in die Grube, war sie taub?

    Die Frau sagte sich: Man hätte eben gleich einen anderen Weg nehmen müssen, man hat ja schon vom Anfang der Straße aus gesehen, was los war: die Menschenmenge, die Autoschlange, die aufgestauten Straßenbahnen. Es wäre einfacher, wenn ich nicht immer und bei jeder Sache unbedingt so unglaublich störrisch sein müsste. Esel. Ich sollte meine Augen benutzen. Esel. Esel. Esel.

    Der ungeduldige Mann begann zu provozieren und zu scherzen, um die Aufmerksamkeit des Ehepaares zu gewinnen: Dürfte ich Ihren Mann vielleicht ein wenig schubsen? In Paris werden die Autos im Leerlauf geparkt.

    Die Frau erstaunt: In Paris?

    Ja, in Paris.

    Die Frau: Schubsen? Meinen Sie das etwa im Ernst? Sehen Sie denn nichts? Was ist mit Ihnen? Sie wirken blass. Sind Sie krank?

    Ihr Mann wich immer noch nicht, keinen Zentimeter. Vergessen Sie es, dachte der ungeduldige Mann, alles war nur ein Scherz, natürlich wird niemand in die Grube fallen.

    Mein Vater, sagte der philosophische Mann. Mein Vater kam mal von der Straße ab, ein Unfall, der diesem ganz ähnlich war. Als Mann vom alten Schlag beschleunigte er in der Kurve, obwohl er natürlich vom Gas hätte gehen müssen. Er wusste schon, bevor die endgültige Kollision passieren würde, dass – der Mann wandte sich an seine Frau, für sie waren seine Gedanken und Worte stets bestimmt –, denk nur, ein Mensch, der sein Leben lang gewöhnt war zu handeln, konnte nichts weiter tun, als dazusitzen und mitsamt seinem Auto in den Graben zu fahren.

    Er lachte kurz und sah seine Frau an. Sie hielt mit der einen Hand ihre Handtasche, die andere presste sie fest um den Regenschirm, dessen Spitze zum Himmel aufragte, erwartete sie sich davon jetzt Unterstützung und Sicherheit?

    Das Stimmengewirr ringsum schwoll an, je mehr Publikum sich einfand. Und die Leute waren hilflos, ein halb in der Grube liegendes Auto, als wäre plötzlich die Straße unter ihm verschwunden, was ja tatsächlich der Fall war, und – auch das stand in der Zeitung! – einmal grasten acht Kühe nebeneinander auf dem Feld, da schlug der Blitz in sie ein. Es passiert so allerlei.

    Der Philosoph sagte: Allerdings bin ich mir bei dieser Art von Unfällen nicht ganz sicher, es gibt ja so viele verschiedene Arten, vom Weg abzukommen. Oft hat der Mensch ja eine gewisse Vorahnung, manch einer sagt hinterher, ich wusste, dass das passieren würde, und ärgert sich, dass er nichts dagegen unternommen hat, obwohl es ihm vielleicht noch möglich gewesen wäre. Der Philosoph hatte es sich anscheinend zur Aufgabe gemacht, alle Dinge grundsätzlich zu überprüfen und die Ergebnisse dann den anderen mitzuteilen.

    Der ungeduldige schmale Mann dachte ein wenig missbilligend: Die beiden Eheleute zählen sich offenbar zu den führenden Köpfen dieses Spektakels.

    Die Frau sagte: Wenn und wenn und wenn, hör doch auf, das alles ist schlimm genug. Sie drückte den Arm ihres Mannes.

    Sie dachte: Tiere, die nebeneinander stehen, suchen gegenseitigen Schutz. Wenn der Blitz einschlägt, bringt das Nebeneinanderstehen keinen Nutzen, im Gegenteil.

    Der schmale Mann gestand sich ein, dass er die beiden andererseits verstehen konnte: Der Philosoph sprach von seinem Vater, der Vater war in seiner Rede gegenwärtig. Immer gab es Menschen, die gegenwärtig waren, und von ihnen redete man. Immer gab es einen Verursacher für alles. Immer mehr Menschen strömten herbei. Eine Straßenbahn nach der anderen musste anhalten, und wenn sich die Türen öffneten, stiegen aus den Waggons natürlich weitere fragende Fahrgäste, von denen sich einige im Halbkreis um die Grube versammelten, um zu schauen, andere waren im Handumdrehen verschwunden, wählten alternative Routen, nicht alle hatten Zeit, sie alle waren irgendwohin unterwegs, auf der Welt passierten täglich fast dieselben Sachen.

    Und immer noch hörte man nur die Stimme des philosophischen Mannes, vielleicht war es seine Eigenschaft oder sein unabänderlicher Charakterzug, dass er nie von etwas abließ, sondern philosophierte und philosophierte und dasselbe Thema ständig drehte und wendete.

    Kann sein, dass so ein Charakterzug, ein bestimmter Teil davon oder seine Kehrseite der Frau des Mannes, dieser Indie-Grube-Glotzerin, gefiel. Vielleicht war das schon seit Jahren der Grund dafür, dass sie immer noch mit ihm verheiratet war, ihn liebte, obwohl sie schon mindestens vor einem halben Leben zu dem Schluss gekommen war, dass er größtenteils einfach Stuss redete.

    Jemand aß Eis. Ein Kind. Es war ebenfalls Teil des Publikums und aß Eis an diesem Frühlingstag, an dem man nicht wusste, ob es Regen oder Sonnenschein geben würde.

    He!, wurde plötzlich gerufen. Hierher! Hier, macht Platz! Und die Leute, die aus den Straßenbahnen ausgestiegen waren (jene, die gewartet hatten, diejenigen, die ständig auf die Uhr gesehen hatten), stiegen wieder ein, bezogen die alten oder neue Plätze, die Bahnen setzten sich eine nach der anderen wie eine Karawane in Bewegung, dem ungeduldigen Mann fiel das Wort Mehltransportwaggons ein. Der philosophische Mann und seine Frau, die sich am Regenschirm festgeklammert hatte, traten jetzt gemeinsam vom Rand der Grube zurück, der Philosoph hatte irgendwie die Eingebung, dem ungeduldigen Mann zuzunicken, sollte das ein Gruß sein? Fehlten nur noch die Rose, die Schaufel Erde und das Kreuzzeichen, und wie ging es dem Fahrer des verunglückten Autos überhaupt?

    Der ungeduldige Mann zögerte: Kann man jetzt einfach gehen?

    Der Polizist sagte: Das kann man durchaus.

    Die Frau war erleichtert, obwohl festzustellen war: Das Auto war natürlich Schrott, hoffentlich war es gut versichert, um den Fahrer kümmerte man sich mittlerweile, das Menschenleben war immer am wichtigsten, diesmal war der Fahrer des Unfallwagens mit dem bloßen Schrecken davongekommen, man weiß nie, und wer so spricht (wer? der Lehrer? die Eltern? eine andere Autoritätsperson?), schüttelt meist dabei auch den Kopf. Am besten sollte man daraus die Lehre ziehen, dass es nie genug Schuldbewusstsein gibt. Was ja auch wahr ist. Man weiß nie, wann man selbst dran ist. Um sich selbst muss man sich natürlich in erster Linie selber kümmern, man muss aufhören, ein Esel zu sein, man muss gesund essen und sich bewegen, vernünftig sein, und die Hauptverantwortung für alles trägt jeder unbedingt immer selbst, sogar wenn er ein Esel ist und sogar wenn es für seine Schwierigkeiten trotz alledem einen anderen eigentlichen Grund gibt. Aber sollte dennoch irgendetwas passieren, würde natürlich alles Erdenkliche getan werden, diese Dinge sind in diesem Teil der Welt selbstverständlich absolut geregelt.

    Die Frau sah ihren Mann an, sie ballte die Hände in den Taschen zu Fäusten.

    Man kann die Hände in den Taschen fest zu Fäusten zusammenpressen, wenn man nicht weinen will, die Tränen nicht mag, sie sogar fürchtet, verabscheut, keinerlei Fließen ertragen kann. Die Haare kann man aus der Stirn streichen, sie sind so geschnitten, dass man sie nach Belieben mit oder ohne Scheitel tragen kann. Man kann tief atmen und schauen und an andere Dinge denken, manchmal funktioniert es.

    Der ungeduldige Mann dachte bei sich, dass diese Frau eigentlich recht schön war, woraus sich sein nächster Gedanke ergab: Nicken wir also zurück, sollte es tatsächlich ein freundlich gemeinter Gruß gewesen sein. Siehe da, dem Paar schloss sich auch ein kleines Mädchen an, jenes unauffällige kleine Kind, das Eis gegessen hatte.

    Komm, komm, sagte die Frau zu dem Mädchen, das nun dem Ehepaar folgte.

    Die Frau dachte: Sturm wird es heute sicherlich nicht geben, denn die Sonne hatte doch wieder über die Wolken gesiegt.

    1.

    Als Gleichgewicht bezeichnet man den Zustand

    eines mechanischen Systems, in dem sich kein

    Teil bewegt.

    Um zehn Uhr morgens ist es endlich geschafft: duschen und anziehen. Ich kann mich aufs Sofa setzen, um Kräfte zu sammeln. Staub schwebt in einem frühlingshaften Lichtstreifen, das Licht ist durchs Fenster hereingekommen, durch die Gardine, hat eine Brücke vom Himmel nach hier drinnen gebaut, der Wind lässt die Gardine wehen, ist der Wind dieselbe Luft, die aus der Lunge kommt?

    Ich kann den Kamm aus der Schublade nehmen. Die rechte Hand heben, so hoch es irgend geht, und den Kopf vorbeugen.

    Ich setze die Zinken mitten auf dem Kopf ins feuchte Haar und lasse den Kamm durch das Gewicht des Arms vom Scheitel heruntergleiten. Der Schultermuskel ist fast gänzlich verkümmert, die Bewegung verläuft langsam und schmerzt. Hoch und hoch und hoch. Reicht das? Sehe ich schon halbwegs wie ein Mensch aus? Die Haare sind nachgedunkelt. Niemand könnte mehr von mir sagen, da kämmt sich eine Blondine. Und wo ist die Pinzette? Ich krame in der Schublade, nehme die Gegenstände einzeln heraus: das Schminkkästchen, in dem grüner und blauer Lidschatten und Rouge am meisten verbraucht sind, den Nagelhautschieber aus Orangenbaumholz, das Lippenstiftetui mit dem Lippenstift darin. Am Deckel des Etuis ist innen ein schmaler rechteckiger Spiegel befestigt, der rote Futterstoff beginnt sich an den Ecken zu lösen, und ich hatte schon lange vor, ihn festzukleben, das Etui wurde vor mindestens fünfundzwanzig Jahren in China hergestellt, in irgendeiner Seidenfabrik.

    Es klingelt an der Tür. Ich stehe auf, suche Halt an der Sofalehne, dann an der Wand.

    Ich schaue auf dem Fernsehtisch nach, blicke unter die Zeitungsstapel auf dem Sofa, überschlage die Möglichkeiten; hier ist seit Wochen niemand gewesen. Ich suche in diversen Tüten, Einkaufsbeuteln und Handtaschen. Eine der Taschen hat auf dem Boden ein Loch in der Größe eines Zeigefingers, sonst ist sie richtig gut und schick, hat sowohl Henkel als auch einen Schulterriemen. Auch Carlos findet es erstaunlich, wie gedankenlos die Leute Sachen wegwerfen, er hat recht, wenn er sagt, dass es unverantwortlich ist, die Mülltonnen mit brauchbaren Dingen zu füllen. Und: Nicht der ist reich, der viel hat, sondern der, der viel gibt. Statt selbstsüchtig, sollte man freigiebig sein, sollte auch mal an andere denken.

    Es klingelt erneut an der Tür.

    Ich spähe durch den Spion.

    Aber ich kann jetzt nicht und habe keine Zeit.

    Ich schminke mein Gesicht.

    Ich creme die Schuhe ein.

    Ich suche alles zusammen, was ich brauche.

    Nach einer Stunde ertönt die Klingel, zwei mal kurz, das ist Mark. Ich öffne ihm die Haustür und horche auf die Geräusche im Treppenhaus: Es hallt, die Tür des Fahrstuhls wird auf und wieder zu gezogen, der Mechanismus setzt sich in Gang und der Fahrstuhl rumpelt herauf. Angesichts der Geräusche, die mit dem Vorgang verbunden sind, ist klar, warum Kinder den Fahrstuhl nicht alleine benutzen dürfen. Mark maulte deswegen immer wieder, als er noch klein war, aber eines ist klar: Auf der Welt muss es bestimmte Regeln geben. Ja, ist klar, lernte Mark wie ein Papagei nachzusprechen. Mark öffnet die Fahrstuhltür, kommt aus dem dunklen Flur auf mich zu wie eine Erscheinung, ist ja auch eine Erscheinung, kommt genau auf den Glockenschlag, wie angekündigt, lass dich umarmen, Mutter. Dagegen habe ich natürlich nichts, die Mutter zu umarmen ist gut und richtig. Mark bringt in seiner Kleidung den Geruch und die Temperatur der Luft da draußen mit. Ist es dort so kühl? Dann muss ich mir einen dickeren Mantel anziehen. Zigarettenrauch hängt in seinem Atem, auch in seinen Haaren, in den Gerüchen eines geliebten Menschen könnte man versinken. Ein Geruch kann einen allerdings auch abstoßen, Zigaretten tun niemandem gut. Wir müssen jedoch weiterkommen, also sage ich mir, das macht jetzt nichts und wir haben noch genug Zeit eine zu rauchen und zusammen eine Tasse Kaffee zu trinken, oder? Mark fragt, wie es mir geht, ich sage oh ja, oh ja, und gehe in die Küche. Ich zünde mir eine Zigarette an und lösche sie gleich wieder. Mark pflegt immer zu sagen: Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber wenn der Glaube fehlt, erreicht man nie etwas.

    In der Küche sind zwei neue Motten aufgetaucht, ich hatte die Viecher eigentlich getötet, vielleicht haben sie hier irgendwo ein Nest? In einer Mehlpackung?

    Ich habe nicht nach der Feier gefragt, ja, nicht mal nach der Einladung, obwohl ich mir vorgenommen hatte: Sobald Mark kommt, frage ich. Ich lasse kaltes Wasser aus dem Hahn laufen, leere das abgestandene Wasser aus dem Elektrokocher und fülle ihn mit frischem, der Kocher ist schwer, das Handgelenk hängt in einer komischen Stellung und schmerzt, der Kocher ist einfach zu schwer, er hat einen völlig unsinnigen Platz neben dem Herd, er müsste in der Nähe des Wasserhahns stehen, da ist schließlich eine Steckdose und alles. Ich drücke auf den Plastikknopf des Kochers. Unter dem Finger fühle ich eine Null und eine Eins. Ich drücke fest und lange, genau wie die Türklingel, damit auch bestimmt eine Reaktion kommt. Manchmal fließt der Strom nicht, manchmal funktionieren Maschinen und Knöpfe nicht, sie haben ihre Macken oder einen eigenen Willen.

    Das Wasser beginnt zu brausen, während es sich erwärmt. Ich wische meine Hände am Geschirrtuch ab, was nimmst du?

    Keine Antwort.

    Ich finde Mark im Wohnzimmer mit der Fernbedienung in der Hand, der Fernseher läuft.

    Wie?

    Was nimmst du, Kaffee oder Tee?

    Ganz egal.

    Mark schaut im Stehen fern, sein Rücken ist gerade und breit, oben breiter und unten schmaler, so wie es bei jüngeren Männern sein soll, zieh doch die Jacke aus, dir wird heiß und du könntest dich erkälten. Mark folgt der Aufforderung, legt seine Jacke auf die Sessellehne, sieht sich um, prüfend, fragt, was ich eigentlich gemacht habe. Das hört sich an wie ein Tadel. Wie aus dem Mund des Zahnarztes. Der hat gesagt, ich soll nachts eine Beißschiene benutzen, weil ich offenbar mit den Zähnen knirsche, aber ich will nicht.

    Wieso?

    Ach, ich wollte einfach nur wissen, was du inzwischen so gemacht hast.

    Ich habe die Pinzette gesucht.

    Hast du sie gefunden?

    Nein.

    Wir stehen einen Moment da, ich stütze die Hände auf den Sessel, etwas weniger Gewicht.

    Dann kommt Mark mit in die Küche, man geleitet mich hier von einem Raum in den anderen, Mark wird von meinen Kartons gebremst, schiebt sie beiseite, glaubt immer noch nicht, dass man ihnen ausweichen und nicht sie bewegen soll, einer der Kartons kippt um, sein Inhalt ist ein großer Haufen Gratiszeitungen. Mark sagt: Mit dieser Wohnung muss etwas geschehen. Er sammelt die Zeitungen ein, legt einen Teil des Stapels aufs Sofa, den Rest lässt er auf dem Fußboden liegen. Ich sage, dass die Zeitungen nach dem Datum sortiert waren.

    Mark sagt, dass wir für mich eine neue Pinzette kaufen werden, man muss die Dinger sowieso zwischendurch auswechseln, denn sie verschmutzen und werden stumpf, und dann kommt es zu Entzündungen. Ich frage, ob er hier übernachten wird, und er sagt, dass er sich bereits ein Zimmer im Hotel reserviert hat. Er trinkt ein wenig Kaffee, pustet in die Tasse, stellt sie auf den Spültisch, blickt auf sein Handy, das zugleich Uhr und Radio und Kamera ist.

    Gehen wir dann?

    Ja, gehen wir. Ich wechsle nur meine Strumpfhose.

    Ich muss die Strumpfhose wechseln, weil sie beim Waten durch die vollen Kartons ein Loch bekommen hat.

    Ich trage ein weites schwarzes Strickkleid, das eigentlich in Ordnung ist, der Halsausschnitt ist zu eng, aber das Kleid sieht immer noch wie neu aus, obwohl es bereits vor dreißig Jahren angefertigt wurde.

    Heute Abend kann man laut Radiomeldung eine vollständige Mondfinsternis bewundern, sofern es das Wetter erlaubt. Aus der Küche sieht man den Vollmond am besten. Man muss den Küchenhocker an die Wand stellen, mindestens auf die dritte Stufe steigen und das Vogelfernrohr aufs Gewürzregal legen. Je höher man hinaufzusteigen wagt, desto länger kann man den Mond betrachten.

    Die Haare sind noch nicht trocken und ein bisschen wirr, aber ich bin angezogen: Kleid, Strumpfhose, Pumps. Kein Hut, und das wurmt mich.

    Ich stoße die Schlafzimmertür auf. Mark dreht sich um, steckt dabei sein Handy in die Tasche.

    Das willst du tragen?, fragt er.

    Wieso, ist etwas falsch daran?

    Na ja, es ist reichlich verschlissen. Hast du nichts Neueres? Ist das Kleid überhaupt sauber? Mir scheint, es riecht ein bisschen.

    Ich habe nichts Neueres. Was heißt, es ist nicht sauber?

    Ist es das alte von Ilse? Sieht ganz so aus. Warum trägst du Ilses alte Sachen?

    Es ist aber sauber, ich habe es waschen lassen.

    Dann nichts für ungut, es ist ganz okay. Doch, das ist es. Und Taschentücher? Hast du genug Taschentücher dabei?, fragt Mark.

    Ja. Sitzen meine Haare?

    Ja.

    Gehen wir also.

    Der Friedhof ist feucht vom vielen Regen. Hoch oben türmen sich die Wolken.

    Am Tor bleibe ich stehen, mache eine kleine Pause.

    Ich halte mich am grün gestrichenen Eisen fest und blicke zum Himmel, eine Krähe krächzt, eine, zwei, viele. Im Sommer wird es den Krähen hier zu heiß und sie ziehen in den Norden, vielleicht nach Russland, vielleicht nach Sibirien, eine ziemlich lange Strecke legen sie zurück, rasten sicherlich zwischendurch. Ich habe gelesen: Die Krähen werden mit drei Jahren monogam. Sie legen drei bis sieben Eier und brüten drei Wochen lang in der Zeit zwischen Mitte März und Ende April. Die Jungen verlassen im Alter von fünf, sechs Wochen das Nest, und im Alter von acht Monaten sehen sie bereits erwachsen aus.

    Was schaust du? Stimmt etwas nicht?, fragt Mark.

    Mir fehlt nichts.

    Ist alles in Ordnung? Was gibt es dort zu sehen?

    Mark spricht schnell und viel, hört nicht richtig zu.

    Es wird nicht mehr regnen.

    Stimmt.

    Ein Glück, dass der tagelange Regen gerade heute aufgehört hat.

    So ist es.

    Bist du warm genug angezogen?

    Ja.

    Im Frühjahr und im Sommer sollte Schwarzes pechschwarz sein, sonst wirkt es hässlich und billiggrau.

    Ilse und Bea warten schon vor der Kapelle. Ich habe sie gleich vom Parkplatz aus gesehen. Und Leo. Leo ist auch da und kommt in meine Richtung, er winkt mir leicht zu, Bea ebenfalls. Leo kommt mit Simon. Simon bleibt ein wenig hinter ihm. Leos Mantel steht offen und weht. Man kann sie alle an ihrem Wesen erkennen, ihr Wesen hat sich in all den Jahrzehnten überhaupt nicht verändert.

    Wir haben einander lange nicht gesehen, ja, vielleicht ein ganzes Jahr nicht, und ich registriere einen kleinen Hüpfer in meiner Herzgegend, die Freude des Wiedererkennens. Ein Blick, und die Sache ist klar: Mark hatte recht, und Ilse trägt tatsächlich die gleichen Sachen wie ich, oder umgekehrt. Es kommt daher, dass ich Ilses altes Kleid und alten Mantel anhabe, doch mein Mantel ist nicht mehr so gut in Schuss, das Futter ist hier und da ausgebessert, ein Ärmel ist ausgefranst, aber man sieht es nicht, die kaputte Stelle ist innen, ich muss den Mantel mit der Futterseite zur Wand aufhängen. Und Bea? Wie schaut Bea aus? Ganz als wäre sie ein wenig gebeugt, als hielte sie sich nicht mehr so gerade, ihr Hals wirkt dicker als früher, der Kopf scheint zwischen den Schultern eingesunken, die jetzige Stimmung lässt auch einen stolzen Hals schrumpfen. Mark blickt mich an, als wollte er fragen: Kommst du klar? Ich sage, verzieh dich. Mark geht.

    Es ist Kerstins Beerdigung. Ich weiß nicht, was es bedeutet, wenn nicht, dass die Welt die Menschen verstößt.

    Dem Alter nach waren wir Vater, Ilse, Bea, Leo, ich, Kerstin und Mark. Vater starb als Erster von uns, aber das ist lange her, und so dachte und sagte ich für gewöhnlich: Wir waren Ilse, Bea, Leo, ich, Kerstin und Mark. Und Simon? Er wurde schon ein Fremder, bevor er davonging.

    Meine große Schwester Bea dreht sich um und lässt den Blick schweifen, entdeckt auch mich, winkt mir zu, ich gebe den Blick zurück, oder lächle sogar, aber das weiß Bea nicht, denn von da, wo sie steht, kann sie unmöglich meine Mimik erkennen. Bea übergibt Ilse an Mark, ist Ilse vielleicht ein Paket? Nein, Ilse ist meine Mutter. Beas, Leos, meine und Kerstins Mutter. In dieser Reihenfolge. Marks Aufgabe ist es heute, sich um Ilse zu kümmern, sie zu begleiten, zu heben und abzusetzen, alles zu tun, was Ilse wünscht, und alles andere zu unterlassen. Das war früher einmal meine Aufgabe, aber jetzt bin ich zu alt dafür. Überall habe ich Schmerzen, womöglich genau eine Folge dessen, dass ich einst Ilse betreute. Mark soll außerdem dafür sorgen, dass sämtliche Trauergäste nach der Feierstunde mit ihrem eigenen Auto oder einem Taxi den Weg von der Kapelle zu Ilses Wohnung finden und dass Ilse keinen Augenblick allein ist, aber das schafft Mark sicherlich.

    Ich mache mich auf den Weg. Ich bewege mich vorwärts. Diese Schnecke hier bewegt sich vorwärts, gelangt dorthin, wo auch alle anderen sind. Wir begrüßen uns, nur Ilse schaut zu Boden, hat bisher zu keinem etwas gesagt, nicht mal zu Mark. Der Pastor kommt, gibt allen die Hand, sagt mein Beileid, nickt, blickt freundlich, auch andere Leute kommen und geben uns die Hand. Dann stehen wir dort beisammen. Der Pastor macht den Eindruck eines recht guten Pastors.

    Allerdings: ein natürlicher Tod. Kerstins natürlicher Tod.

    Der Kies knirscht unter den Schuhsohlen und Absätzen, als diese Menschentraube vorwärtsschreitet, das Geräusch erinnert an Essen, Zähne, Zwieback, ein ähnliches Malmen, der Hunger meldet sich, vielleicht haben wir alle schon ein wenig Hunger. Unsere Schritte vereinen sich zu einem einzigen Rhythmus, aus vielen Wesen ist dort, während wir uns versammelten, ein einziges geworden.

    Wir betreten die Kapelle. Sie hat farbige Malereien an der Decke und wirkt wie die Miniaturausgabe der Kathedrale in der Innenstadt. Auch herrscht der gleiche Geruch. Alle Kirchen, jene Tempel des Heiligen Geistes, verbindet etwas: ein Kreuz und der gleiche Geruch. So riecht der

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