Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ende der Schonzeit
Ende der Schonzeit
Ende der Schonzeit
eBook303 Seiten3 Stunden

Ende der Schonzeit

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Hauptkommissarin Christine Paulig wird zu einem ungewöhnlichen Mordfall ins Voralpenland geschickt. Bei den Ermittlungen gerät sie an den skurrilen Betreiber eines Freibads, einen krachledernen Polizeidirektor und eine undurchsichtige Caféhausbesitzerin.
Niemand scheint der zu sein, der er vorgibt zu sein, und wenn sie nicht aufpasst, ist ihr Leben schneller in Gefahr, als sie sich vorstellen kann.
Oberstaatsanwalt Bernhauer hält ihr zwar den Rücken frei, fällt ihr dabei aber ständig in den Arm. Keine große Hilfe, wenn man sich durch den modrigen Filz einer gutbürgerlichen Scheinwelt zu kämpfen hat.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum29. Okt. 2019
ISBN9783967244694
Ende der Schonzeit

Mehr von Dieter Weißbach lesen

Ähnlich wie Ende der Schonzeit

Ähnliche E-Books

Mord für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Ende der Schonzeit

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ende der Schonzeit - Dieter Weißbach

    Schonzeit 

    Sie lebte alleine. Sex war ihr nicht wichtig. Die Ehe hat sie nie gesucht.

    Hauptkommissarin Christine Paulig, viele Jahre das ungeschminkte Gesicht der Münchner Mordkommission, war groß und schlank, hatte Wangenknochen wie Erker und kam eben aus dem Urlaub.

    »Guten Morgen, Christine. Wie war‘s?«, rief die aktuelle Referendarin ihr entgegen, legte eine Akte zur Seite und hob den Kopf.

    »Südtirol. Wein, Schnaps und deftiges Essen. Und dann auch noch ein Familienhotel. Aber sag mal«, deutete Paulig auf ein Foto, das aus dem Akt spitzte. »Kümmern wir uns jetzt schon um massakrierte Hunde?«

    »Ach so. Das kommt aus dem Justizministerium. Die haben angefragt, ob wir nicht jemanden schicken könnten. Du hast doch bestimmt die Schlagzeilen gelesen. Und … Äh … Jetzt überlegt der Chef, wer rausfährt und sich das mal anschaut.«

    »Ist er da?«, nahm Paulig eine Witterung auf, die ihr nicht gefiel.

    »Ja.«

    »Allein?«

    Die Referendarin nickte.

    Paulig ging zur Türe, klopfte und trat grüßend ein. Oberstaatsanwalt Bernhauer hatte kaum zurück gegrüßt, da machte sie bereits einen langen Arm auf die Schlagzeile der aktuellen BILD-Zeitung.

    Münchner Süden ertrinkt in Hundeblut 

    »Und München erstickt in Hundekot. Vielleicht sollten wir den Täter bitten, mal einen Ausflug in die Stadt zu machen«, ätzte sie gegen das Blatt, das sich auf Bernhauers Schreibtisch ungewöhnlich breit machte.

    »Wär eine Idee. Aber im Ernst. Die haben keine Idee, wer das gewesen sein könnte. Keine Spuren, keine Verdächtigen, dafür reihenweise Stornierungen. Da haben die jetzt einfach uns gefragt.«

    »Soll das ein Witz sein?«

    »Nein. Kein Witz«, ließ Bernhauer sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ich weiß selber, dass wir nicht der Tierschutzbund sind. Aber die paar Altfälle, die wir auf dem Tisch haben, laufen nicht davon. Sieh es einfach als verlängerten Urlaub in deiner alten Heimat.«

    Sein Gesichtsausdruck war eindeutig. Der ihre auch.

    »Was? Ich!?«

    »Die haben extra meinen besten Mann verlangt. Was kann ich dafür, dass der eine Frau ist«, bemühte er schnell einen Humor, für den er nicht berühmt war.

    »Wen soll ich mitnehmen?«, grummelte Paulig, die wusste, wann Widerstand zwecklos war.

    »Du fährst natürlich alleine. Sonst wär‘s ja kein Urlaub«, bedankte Bernhauer sich mit einer weiteren Kostprobe.

    »Auch keine Spurensicherung?«

    »Doch. Sabine meldet sich, sobald sie unterwegs ist. Ach ja, fahr bitte direkt nach Murnau zum Bürgermeister. Kottmüller heißt er.«

    »Nicht erst zu den Kollegen?«

    »Danach. Eine seiner Ferienwohnungen liegt direkt am See. Da kannst du auch wohnen. Natürlich nur wenn du willst. Aber besser wär‘s. Damit du nicht ständig hin und her fahren musst. Ich will, dass wir den Fall möglichst zügig wieder vom Tisch haben.«

    »Sonst noch etwas, das ich wissen sollte?«

    »Steht alles im Akt. Viel Erfolg. Und danke, dass du dich so schnell … Du weißt schon. Ach ja. Bevor ich es vergesse: Erinnerst du dich noch an deinen ersten Chef? Schwendt? War der nicht aus Murnau? Ist jetzt in Pension. Vielleicht willst du ihn ja besuchen. Er würde sich bestimmt freuen. Sitzt im Rollstuhl, der arme Teufel.«

    »Kann ich machen«, verabschiedete sie sich knapp, verzog sich in die Kantine und las sich ein.

    Das erste Gemetzel hatte ein Automechaniker aus Riegsee entdeckt, als er in der Früh aus dem Fenster schaute. Vom Überrollbügel des Gemeindetraktors hing ein aufgeschlitzter Schäferhund. Die Gedärme verteilt auf Ackerschiene, Sitz und Bürgersteig. Der Mann rief die Polizei, die nahm den Kadaver ab und deponierte ihn vor Ort in einer ausgedienten Kühltruhe. Solange bis klar war, was mit ihm geschehen sollte.

    Der zweite Hund war ein Pudel, den ein Unbekannter von der Straße fischte, ausweidete und an den Maibaum von Ohlstadt band. Gegenüber wohnte ein ehemaliger Pharmareferent. Er schnitt ihn vom Mast und informierte ebenfalls die Polizei.

    Murnau war der dritte Ort der Heimsuchung. Bürgermeister Kottmüller war auf dem Weg ins Büro.

    Die Menschen, denen er um diese frühe Zeit begegnete, eilten an ihre Arbeit oder reinigten den Markt von den Hinterlassenschaften der letzten Nacht. Heute standen sie gestikulierend um die Mariensäule. Kottmüller erkannte einen Hirtenhund, mit übereinander gelegten Läufen um den Sockel drapiert, den Körperinhalt in die niedergetrampelte Hecke geworfen. Was ihn zusätzlich erboste. Buchs ist nicht billig.

    Die Sonne war kaum vernünftig aufgegangen, zählte man drei tote Hund in drei Gemeinden. Den Hals durchgeschnitten, ausgeweidet und dann mitten im Ort ausgestellt.

    Kottmüller hatte seine kleine Führung beendet und polterte zum Abschied noch einmal los: »Wenn Sie mich fragen, entweder Islamisten, Hundehasser oder irgendwelche Deppen, die was gegen Fremdenverkehr haben. Eine freie Ferienwohnung in der Saison. Allein dafür gehört dieses Gesocks eingesperrt. Oder meinen Sie, die steht zum Spaß leer? Ende August steht bei uns nie was leer!«

    Paulig hatte nicht vor, das zu kommentieren. Aber Kottmüllers in die Hüften gestemmte Fäuste forderten eine klare Positionierung.

    »Ach so. Ja. Unbedingt. Geht gar nicht.«

    »Wir verstehen uns«, nickte der Bürgermeister. »Ich muss dann wieder. Oder brauchen Sie noch was?«

    »Ich wüsste jetzt nicht …«

    »Ich auch nicht. Wiederschaun.«

    Kottmüller schritt zu seinem Wagen, Paulig zurück in ihre Klause und dort alles noch einmal in Ruhe ab.

    Zwei Zimmer, Küche, Bad, eine Terrasse mit Seezugang, als Sichtschutz Ufergras. Was sich im Schilf tummelte, wollte sie nicht wissen. Aber wenn jeder auf seiner Seite blieb, sollte es gehen.

    Dann stand sie wieder in der Wohnküche, in der ein Kalender der örtlichen Sparkasse darüber informierte, wo Kottmüller sein Geld hinbrachte und zwei mit Reißzwecken befestigte Poster Marke ›Gipfelglück‹, dass er keinen Cent mehr investierte als nötig.

    Sie kontrollierte die Funktionsfähigkeit der Kaffeemaschine, den Inhalt der Schränke, dann klingelte ihr Handy.

    »Paulig?«

    »Sind Sie die Kommissarin aus München?«

    Der Mann klang weniger aufgeregt, vielmehr traurig.

    »Ja, bin ich. Was kann ich für Sie tun?«

    »Röslein hier«, seufzte der Stimme gewordene Handschmeichler. »Der Wirt vom Rosenstüberl. Schon wieder ein toter Hund.«

    »Wo?«

    »Hier, in Seehausen. An der Anlegestelle. Ein Golden Retriever. Ausgerechnet. Wenn Sie bitte gleich kommen? Auf der anderen Seite der Bucht. Direkt gegenüber von Kottmüllers Ferienhäusl. Einfach die Seestraße entlang bis zur Seehauser Kirche. Dann links runter zum See.«

    »Bin unterwegs. Aber woher haben Sie meine Nummer?«

    »Von der Polizei.«

    »Bis gleich. Und bitte nichts anfassen.«

    »Wir haben nur schnell eine Plane drüber gelegt.«

    »In Ordnung.«

    Sie dachte, warum rufen die Murnauer Kollegen nicht selbst an, wollte das aber nicht vertiefen und wählte die Handynummer der Rechtsmedizin.

    »Christine? Was gibt‘s?«, fiedelte eine muntere Frauenstimme.

    »Sabine? Wo bist du?«

    »Auf dem Weg nach Riegsee. Spuren sichern und Schäferhund abholen. Warum?«

    »Der Schäferhund kann warten. Wir haben einen frischen. An der Anlegestelle von Seehausen.«

    Paulig stieg in ihren Wagen, fünf Minuten später war sie drüben. Etwas erhöht stand das Rosenstüberl. Dort hatte sie eine gute Rundumsicht, ihr Wagen behinderte nicht die Zufahrt zum Tatort und nichts die Erinnerungen, die sich ihrer umgehend bemächtigten. So unverändert hatte der Blick die Jahre überstanden. Unten der See, rechts das Stüberl und links der bodennah verfaulte Zaun des Nachbaranwesens, der bierseligen Spätheimkehrern schon als Pissrinne diente, als sie hier noch ihre Runden drehte.

    Mit zusammengekniffenen Augen erinnerte sie sich an die Blaskapellen, die in ihrer Jugend zum Tanz aufspielten, während in den Bootshäusern Joints kreisten, Pärchen sich in hinterste Ecken verdrückten und wenn die Sonne aufging, fuhren Hippies und Trachtler sich gegenseitig heim. Und die Polizei ließ sich nur blicken, wenn jemand in den Graben fuhr. Doch Paulig war nicht auf Nostalgietour. Geschwind verließ sie die weich gezeichnete Welt ihrer Jugend und federte hinunter zu dem vom Fahrplan gerutschten Hund. Das führte zu ihrer ersten Annahme, dass der Täter es wohl eilig hatte. Paulig war sparsam mit Schlussfolgerungen, aber danach sah es aus.

    Links der Tafel stand die alte Bootsverleiherin, die den Kadaver entdeckt hatte, als sie Blumen für ihr Kassenhäuschen pflücken wollte. Rechts Röslein, der erst später dazu kam. Sie trug Kniestrümpfe und Schürze, er Janker und Trachtenhut, unter dem ein grauer Pferdeschwanz hervorschaute. Gemeinsam wirkten sie wie die zwei Figuren aus einem Wetterhäuschen.

    Paulig stellte ihre Fragen, auf die sie keine Antworten hatten. Röslein habe tief und fest geschlafen und die Bootsverleiherin antwortete mürrisch, sie würde sowieso nichts mitbekommen, weil sie sich immer ums Geschäft kümmern müsse. Deshalb hätte sie auch keinen Mann, nur das ererbte Haus. An dessen Zaun würde jede Nacht jemand hinmachen. Ob die Kommissarin da vielleicht abhelfen könne. Der Hund wurde sofort zur Nebensache, die Frau vergrößerte sich förmlich. Paulig verneinte und verwies auf die Kollegen vor Ort. Die Frau winkte ab und schrumpfte auf ihr altes Maß. Bis die da wären, sei es noch jedes Mal zu spät gewesen. Mit einem elektrischen Weidezaun hätte sie gute Erfahrungen gemacht. Aber von dem Geschrei der Elektrogeschockten wären jedes Mal die Nachbarn aufwacht.

    Paulig lachte. Die Frau lachte mit und schlappte zurück in ihr Kabuff. Paulig sah ihr nach, bis ein älterer Polizist wissen wollte, wo er die Sperrzone ziehen sollte.

    Gerade so als würde er das heute zum ersten Mal machen.

    Etwas befremdet deutete sie zum Steg, links zum Bootsverleih, hinauf zur Terrasse vom Rosenstüberl und im Halbkreis wieder hinunter zum See.

    »Hauptsache die Leute kommen noch ans Wasser.«

    Dann zog sie Handschuhe an und filzte Büsche, Steg und Uferweg. Ein roter Haarschweif flatterte in ihr Blickfeld, gefolgt von kofferschleppenden Overallträgern. Wohl um die Wichtigkeit des Einsatzes zu dokumentieren, wurden sie angeführt von zwei Kollegen der Mordkommission. Sie hob die Hand, deutete Richtung Steg und schritt voran.

    Bis die Glocken der Seehauser Kirche zur Nahrungsaufnahme mahnten, waren die Spuren gesichert und der tote Hund verladen. Zum Abschied fragte Paulig, ob Sabine schon etwas sagen könne. Die gab an, dass der tote Hund mindestens schon einen Tag im Gebüsch gelegen habe. Alles weitere, wie immer, später. Dann startete sie den Motor und fuhr schon mal voraus nach Riegsee.

    Paulig würde nachkommen. Doch erst wählte sie die Nummer der Murnauer Dienststelle. Aber der Leiter, bei dem sie sich wenigstens schon mal telefonisch vorstellen wollte, war unterwegs. Sie kündigte an, erst noch die anderen Fundorte abzuklappern und es dann noch einmal zu versuchen. Dann fuhr sie ebenfalls los.

    Beim Einbiegen rechts in die Straße nach Murnau übte sie den Schulterblick einmal vor und einmal nach der erhöht gelegenen Kirche. Hinter der Friedhofsmauer stand Röslein. Er schien zu beten. Wer lag da? Seine Eltern? Ein Kind?

    Sie überlegte, ob sie ihn noch einmal ansprechen sollte. Das Quäken einer Traktorhupe riss sie aus ihren Überlegungen.

    Sie schmiss sich wieder aufs Lenkrad und fuhr hinüber nach Riegsee in sanften Schwüngen. Dort verstauten Sabine und Kollegen eben den zwischengelagerten Schäferhund. Der Mechaniker stand mit nach hinten geschobenem Kopfhörer dabei. Als er Paulig sah, steckte er sich eine Zigarette an und schaute sie erwartungsvoll an.

    Eine Kippenlänge später hatte er seine Aussage gemacht. Angereichert mit Schlüpfrigkeiten, auf die Paulig nicht einging.

    Sabine und die KT machten sich auf den Weg nach Ohlstadt, Paulig tuckerte hinterher. In Murnau wollten sie den Kreis dann schließen. Im alten Marktcafé, Murnaus Kommunikationszentrum. Wenigstens war es das vor fünfunddreißig Jahren, als sie in Garmisch aufs Gymnasium ging und in Murnau ihre Freizeit verbrachte. Mit den gesammelten Eindrücken würde sie danach ins Polizeipräsidium fahren und sich mit den hiesigen Kollegen bekannt machen.

    Im CD-Player steckte ›Carmen‹, die wie immer mit ihrem Leben bezahlen würde. Wenn nicht irgendwer dazwischen ginge. In der Regel die Zeit, die für eine komplette Oper selten reicht.

    Diesmal war es ein Murnauer Kollege.

    »Frau Kommissarin? Können Sie nochmal kommen?«

    »Wohin?«

    »Nach Seehausen.«

    »Zu Röslein? Ist ihm noch was eingefallen?«

    »Nein.«

    »Hat er noch einen Hund gefunden?«

    »Auch nicht.«

    »Was dann?«, spaßte sie weiter. »Katze, Maus, Floh?«

    Die nach dem Ableben eintretende Erstarrung der Muskulatur, die Totenstarre, beginnt etwa ein bis zwei Stunden nach dem Exitus. Als erstes trifft es die Augenlider. Nach weiteren zwei bis vier Stunden die Kaumuskeln und die kleinen Gelenke. Danach Kiefer, Nacken, obere und untere Extremitäten. Die Reihenfolge variiert, je nachdem, welche Muskelgruppen vor dem Tod als letzte beansprucht wurden. Sechs bis zwölf Stunden später ist die Leichenstarre voll ausgeprägt. Wird sie innerhalb der ersten vierzehn bis achtzehn Stunden gebrochen, setzt sie nach einiger Zeit wieder ein und führt zu einer erneuten Erstarrung. Die Rechtsmedizin macht sich dieses Wissen zunutze, indem sie die Leichenstarre absichtlich bricht und die Zeit bis zu einem eventuellen Wiedereinsetzen entsprechend bewertet.

    Im Fall Röslein konnte sie sich das sparen. Er war gut warm und lag, wo Paulig ihn zuletzt gesehen hatte. Hinter der Friedhofsmauer der Seehauser Kirche.

    Als sie eintraf, griffen die Routinen bereits stabil ineinander. Jetzt wusste jeder, was zu tun war und die Frau, die ihn gefunden hatte, dass die Kommissarin sie gleich erneut befragen würde. Aber sie konnte nur wiederholen, was sie bereits ausgesagt hatte. Dass sie nichts gesehen hätte. Paulig variierte die Frage mehrmals, doch die Witwe blieb ihrer Aussage treu. Zum Abschied erhielt sie eine Visitenkarte und die Ermahnung, noch einmal in Ruhe über alles nachzudenken. Im Erfolgsfall solle sie bitte sofort anrufen. Die Frau nahm die Karte andächtig in beide Hände und ging weiter einkaufen.

    »Wollen wir ihn mal umdrehen?«, fragte Sabine, nachdem sie sich einen ersten Eindruck verschafft hatte. »Du die Beine, ich den Kopf?«

    Paulig griff nach seinen Füßen und fragte zurück: »Schon eine Vermutung?«

    Nachdem der Wirt neben der Grabstelle lag, in die er nicht gehörte, strich Sabine ihm erst eine Strähne aus dem Gesicht und betrachtete ihn dann ausgiebig.

    Dann seufzte sie: »Was für eine Verschwendung. Wie kann man nur einen so schönen Mann einfach erschlagen. Aber um deine Frage zu beantworten: Er hat mindestens zwei Schläge auf den Hinterkopf bekommen.«

    »Mit was? Nur ganz grob.«

    »Stumpfer Gegenstand.«

    »Dass er einfach nur hingefallen ist, schließt du aus?«

    »Zweimal hintereinander?«, grinste Sabine »Schließ ich aus.«

    »War er sofort tot?«

    »Denk ich mal. Es gibt keine Anzeichen, dass er sich nochmal bewegt hat.« Sie hob ihr Kinn zum Tor und drückte sich in den Stand. »Ah. Die Firma Denk ist auch schon da.«

    »Danke, Sabine«, antwortete Paulig und wandte sich ihren Münchner Kollegen zu, die nach Mordwerkzeugen suchten.

    »Habt ihr schon was?«

    »Bis jetzt nichts«, stöhnte der türkische Teil der Mordkommission. »Scheiß Hitze.«

    »Das sagst ausgerechnet du?«, wunderte sich ein älterer Kollege mit Anzug. »Ich denk, deine Vorfahren kommen aus dem Orient?«

    »Aber ich nicht.«

    Ihr heiseres Kichern versilberte das Knirschen der Kieselsteine unter den hektischen Schritten des Mesners.

    »Auf geht‘s, Hochwürden. Jetzt oder nie. Sonst ist er weg.«

    »Aber ist der nicht ausgetreten, der Röslein?«, gab der Pfarrer zu Bedenken.

    »Egal. Jetzt haben wir ihn ja wieder. Nochmal kommt er uns jedenfalls nicht aus.«

    Der Mesner lief voraus, der Pfarrer warf sich eine schwarze Stola über den Arm und hechelte hinterher, von der kühlen Sakristei hinaus in Gottes überhitzte Schöpfung.

    Während der Pfarrer aussegnete, läutete Pauligs Handy. Sie sah zu, dass sie Land gewann.

    »Ja?«

    Es war Oberstaatsanwalt Bernhauer. Er klang besorgt.

    »Meinst du, es gibt einen Zusammenhang?«

    »Zwischen den Hunden und Röslein? Kann ich mir nicht vorstellen.«

    »Sollte sich das ändern, sagst du mir bitte sofort Bescheid.«

    »Klar.«

    »Das war‘s auch schon wieder. Solltest du Unterstützung brauchen, melde dich. Du hast freie Hand. In beiden Fällen. Murnau weiß Bescheid.«

    »Danke. Ich melde mich, wenn‘s was Neues gibt.«

    Paulig passierte die Kirche und bog rechts in den neuen Friedhof, der eine Weite hatte, die sie aufatmen ließ. Mord war ihr Geschäft. Aber dass sie das Opfer kurz vorher kennenlernte, eine Besonderheit, auf die sie gerne verzichtet hätte. Beiläufig registrierte sie Jahreszahlen und Namen, atmete tief durch und kehrte zurück, wo die hiesigen Beamten gerade die Polizeibänder abnahmen.

    Ihre Münchner Kollegen waren ebenfalls am Gehen. Zum Abschied machten sie ein paar scherzhafte Bemerkungen über die urlaubende Chefin, über die sie gerne gelacht hätte. Aber ihr Handy machte sich schon wieder wichtig.

    Kottmüller schnarrte, die Sache mit dem toten Wirt unter allen Umständen unter der Decke zu halten. Er habe gerade mit Oberstaatsanwalt Bernhauer telefoniert. Sie wären sich darin einig, bis zum Beweis des Gegenteils handele es sich um einen Unfall. Nichts anderes wolle er hören.

    Paulig hatte gute Lust, ihn zu fragen, ob sie ihn in der Schule Kotzmüller gerufen hätten und er sich deshalb immer so aufführen würde.

    Sie war Gockeleien gewohnt und die Rache in Gedanken Teil ihrer genetischen Ausstattung als Frau. Also schnaufte sie nur: »Ganz wie Sie meinen«, packte sich in ihren Wagen und fuhr zurück zum Stüberl.

    Frau Röslein saß in der Küche. Eine Freundin war bei ihr. Paulig kondolierte in einen Vorhang von Tränen hinein und stellte ihre Fragen, die Frau Röslein allesamt mit Kopfschütteln beantwortete. Zum Abschied bat Paulig, wenn ihr Sachdienliches einfiele, egal was, egal wie abwegig, bitte nicht lange nachdenken, gleich anrufen. Dann legte sie eine Visitenkarte auf den Berg mit den gerollten Bestecken und fuhr zurück in ihre Klause. Sie warf sich in ihre Joggingklamotten und lief einmal um den See. Nach zwei Stunden war sie zurück. Erschöpft legte sie ein Badetuch bereit und stellte sich unter die Brause. Aber der belebende Effekt blieb aus. Sie verschob das Marktcafé auf morgen und ging früh zu Bett. Doch an Ruhe war nicht zu denken. Hier gab es zwar keine singenden Bierleichen wie in der Stadt oder testosterongesteuerte Autofahrer, dafür dauerstridulierende Insektenchöre, Mücken und liebeskranke Frösche. Es war nach eins, als der Schlaf sie endlich in seine Höhle schleifte wie einen aufgegebenen Kadaver.

    Paulig säuberte die Wand von den Moskitoleichen der letzten Nacht und schlurfte ins Bad. Warf einen Blick in den Spiegel, dachte, ausgeschlafen sieht anders aus und machte sich an die Restaurierung. Danach trabte sie die Uferstraße entlang nach Seehausen. Vorbei am Murnauer Freibad und ausgedehnten Seegrundstücken beiderseits der Dorfstraße. Auf halber Strecke öffnete sich der Blick. Links auf den See, rechts auf einen Hang, bevölkert mit friedlich kauendem Fleckvieh. Nach einer Gesamtlaufzeit unter zehn Minuten umrundete sie die Seehauser Kirche und stand im Gastgarten vom ›Stern‹.

    Auch sieben sind machbar. Aber da trennt sich die Spreu vom Weizen, wie sie sich hier schon seit Jahrhunderten trennt. Der Weizen geht in die Messe, die Spreu säuft sich schon mal warm. Der Sonntagnachmittag droht mit Verwandtschaft. Also bleibt man gleich da, wo man unter Gleichgesinnten ist und die Sorgen teilt. Dann ist der Montag zwar auch im Einer, aber die Woche hat schließlich noch mehr Tage.

    Heute war Dienstag und Paulig allein auf weiter Flur. Eine mittelalte Duttträgerin robbte sich Tische und Stühle abwischend durch den Gastgarten. Raumgreifende Bewegungen brachten überweidete Brüste zum Schaukeln und einen Kellnerinnengeldbeutel, verziert mit messingfarbenen Kühen.

    Unter Pauligs abwartenden Blicken unterwarf sie auch den letzten Tisch mit vorzeigbarer Leichtigkeit, steckte den Lappen in den Gürtel und befahl dem ersten Gast des Tages: »Was darf‘s sein.«

    Paulig antwortete mit dem gezielten Einsatz des gemeinsamen Dialekts.

    Der gegnerische Angriff erlahmte. Sogar Sonderwünsche durften geäußert werden. Die Kellnerin verwies nicht auf die Karte, sondern auf ihre Sonnenseite.

    »Müsli. Aber ohne Birnen. Gern. Kommt sofort.«

    Paulig bedankte sich artig, aber ohne sie aufzuhalten mit überflüssigem Geschwätz. Sie wusste um das Geschenk einer freundlich gesonnenen Bedienung, die nach Kernseife duftete, frischem Heu und dem Tau von Geranien. Der sie ein einfaches Leben zuschrieb, den Jahreszeiten folgend und vielleicht hin und wieder dem Lockruf eines überständigen Männchens. Was braucht es mehr um glücklich zu sein, dachte sie und griff nach einer Zeitschrift. Die war feucht vom Tau, aber nicht frisch. Sie blätterte ein wenig herum, dann war sie wieder bei Röslein, der auf den Friedhof ging und keiner wusste wieso.

    Schon schoss die Bedienung mit klingendem Spiel, das von ihren Ohrringen stammte, ums Eck.

    »Entschuldigen Sie. Hat etwas gedauert. Die Kaffeemaschine spinnt. Müsli ohne Birne. Wohl bekomm‘s.«

    Kaum hatte Paulig begonnen, ihren Verdauungstrakt zu beschicken, massierte ihr Handy die Tischplatte. Die Murnauer Kollegen. Wegen der Hunde. Eine Urlauberin wäre hier. Ihr Sohn hätte was gesehen. Die Frau Kommissarin möge sich aber keine übertriebenen Hoffnungen machen. Wenn

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1