Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Morisco
Morisco
Morisco
eBook570 Seiten8 Stunden

Morisco

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Andreas Lenk ist erfolgreich. Schon nach kurzer Zeit ist aus dem Studenten ein Architekt geworden, der beim Bau einer Großsiedlung eine leitende Funktion einnimmt, sich fast mühelos zu den Privilegierten hocharbeitet. Lenk hat eine Frau, bald zwei Kin- der, ist anerkannt. Und wird doch erkennen müssen, dass sein Leben einer Großbau- stelle mit »beschädigtem Gelände« gleicht.
1987 erschien Alfred Wellms »Morisco«, ein Roman, der bald in Vergessenheit geraten sollte. Trotz seiner literarisch hohen Qualität, trotz einer bewegenden Geschichte, die jeden angeht. Denn Morisco erzählt über Träume, von denen sich die Realität immer mehr entfernt. Über Anpassung in große und vermeintlich unumstößliche Abläufe, über Anerkennung im Kleinen und Verkennung im Grundsätzlichen, über gesellschaftliche Mechanismen, die sich in einst grandiose Lebensentwürfe schleichen ... Ein fast 30 Jahre junger Roman, der nichts an Aktualität eingebüßt hat.
SpracheDeutsch
HerausgeberHinstorff Verlag
Erscheinungsdatum1. Mai 2017
ISBN9783356021424
Morisco

Ähnlich wie Morisco

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Morisco

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Morisco - Alfred Wellm

    KAPITEL

    Erster Teil

    ERSTES KAPITEL

    1 Ich zeichne manchmal eine Volute in meinen Schreibblock, weil eine Sitzung ewig dauert und ich auf eine Rede horche.

    Das ist nicht erwähnenswert. Doch zeichnete ich in letzter Zeit oftmals ein Ornament auf den Rand meines Notizblattes, und vor Tagen zeichnete ich die Kuppel eines Turmes, die aus der Schräge eines alten Daches ragte. Unter die Kuppel zeichnete ich ein Belvedere. Mit toskanischen Säulen, mit Bogenfenstern in den Nischen. Im übrigen war es ein unscheinbares Belvedere, das wohl auch früher nie eine Bedeutung hatte; aber es lag eine seit je bestehende Unruhe in seiner Architektur, da die Säulen eine Schwellung hatten. Als widersetzten sie sich nun der Last der schweren Kuppel. Es schien, als wäre dieses kleine Turmgeschoß dem Druck der Kuppel nicht gewachsen, das Spiel der Kräfte war noch nicht entschieden, man sah betroffen in den Augenblick – das schon seit Hunderten von Jahren.

    Der Hufschlag der Pferde auf dem Pflaster. Sechs Reiter, die, mit stolzen Rücken, auf ihren Pferden saßen. Sie schnalzten, unhörbar für uns, so daß eine schöne Unruhe über die Pferdekörper kam. Autos fuhren, rechts standen die Platanen. Hinter den Reitern führte ein Mann in Arbeitskleidung das siebente Pferd, ein junger Hengst, mit schmalem langem Hals, und das dünne Fell zuckte nervös. Die Nüstern waren breit geöffnet und waren innen völlig rot. Mein Leben war seinen Weg gegangen, aber ohne daß es eine Berührung mit Pferden hätte haben können, und der Anblick eines Pferdes hatte mir nie etwas bedeutet. Zwei Lastkraftwagen fuhren auf die Gruppe zu, so war zu fürchten, daß der junge Hengst nun steigen würde; aber der Mann, der ruhig neben dem Pferd herging, redete ständig mit ihm. Er hielt die Zügel kurz und streng, da Morisco nach der Herde drängte; er klopfte mit der freien Hand den dünnen Hals – nur mit der halben Hand, sah ich, soweit die Finger reichten.

    Für mich hatte ein ungewöhnlicher Sommer angefangen. Ich wohnte in einem alten Schloß, ja in einem Turm des Schlosses. Unter mir hörte ich die Stadt. Anfangs wohnte ich alleine in dem sehr weitläufigen, alten Haus, und es hatte einen unheimlichen Reiz, erinnere ich mich, im Dämmerlicht des Abends durch die verödeten Trakte zu gehen, die Säle, die Flure und die Treppengänge.

    2 Das Atelier war im Dachgeschoß des Schlosses, mit altem Gebälk im Raum, vier Fenstern, die nach Westen gingen. Auf den Tischen war immer eine Unordnung von Aufrissen und flüchtigen Skizzen. Wir hatten ein paar Gegenstände an die Wand gehängt, einen Hammer aus Jahrhunderten, eine Kachel aus dem Großen Saal, einen Türbeschlag; im Grunde waren es wertlose Dinge, und es lag kein eigentlicher Sinn darin, diese Gegenstände an die Wand zu hängen, nur, daß es uns gefiel. Matthias (er ist vor einem Jahr an einer chronischen Leberzirrhose gestorben, hörte ich) saß an der Maschine und addierte, während ich am Reißbrett zeichnete. Oder ich blickte auf das Durcheinander auf den großen Tischen. »Und wie alt sind die Jungen jetzt?« fragte mich Matthias.

    »Der eine ist sechs Jahre, aber der andere wird achtzehn.«

    Später sagte ich: Ich habe nie mit ihnen einen Drachen steigen lassen. Dieses Versäumnis war mir am Morgen eingefallen, und es ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hätte mir das immer vorgenommen, sagte ich, wir wollten ein sehr ungezogenes Gesicht auf unseren Drachen malen, und wir hätten es uns vorgestellt, wie der Drachen auf uns niederblicken würde, wir wollten sehr viel Schnur mitnehmen, und wir wollten ihn immer höher steigen lassen. Wir wollten zu den Hügeln der blauen Felder gehen, sagte ich, aber ich hätte es nie getan.

    Wir hatten die Fenster offenstehen, so daß wir die Beilschläge der Zimmerleute hörten. »Und der Ältere?« fragte mich Matthias.

    »Der Ältere ist sehr sensibel, sie sind beide sehr sensibel, aber der Ältere wird es einmal schwer haben.«

    »Aber du denkst, sie werden damit fertig?«

    »Ich weiß es nicht. Mein Gott, ich weiß es nicht!«

    Zwischendurch hörten wir die Zimmerleute auf der Rüstung; es ging wohl ein Bekannter unten in der Straße, und die Zimmerleute riefen nun zu ihm hinab.

    Oder Matthias riet mir, einen Arzt aufzusuchen. Ich wußte, ich hatte einen Tick, es zuckte links unter dem Auge, und manchmal zuckte mir die ganze Wange, dann drückte ich sie gegen meine Hand, um sie zu beruhigen. Er wüßte einen guten Arzt, sagte er. Gewiß, rief ich, aber was hat ein Arzt damit zu tun.

    Einmal ging ich durch die Straße, ich hatte nichts bei mir als meine schwarze Tasche, darinnen ein paar Blätter, ich ging nur durch die Straße und horchte auf die Schritte, die sich näherten und sich wieder entfernten, Schritte, wie man sie hundertmal am Tage hört. Aber sie prägten sich seltsamerweise in mir ein. Ich lag nachts wach und dachte, was aus den Schritten zu entnehmen wäre. Nicht, daß ich etwas von den Menschen wußte, ich hatte ihre Schritte ja das erste Mal gehört.

    3 Die Stadt war zurückhaltend gegen mich und öffnete sich nicht sofort, das vergrößerte den Reiz. Es gab auch Winkel, Gassen, die ich noch nicht betreten hatte; ich schob das mutwillig hinaus, um meine Neugierde zu steigern. Sonntags wanderte ich durch die Wiesen, auf dem Steig am Fluß. Links aus dem Nebel ragte eine Esse, und zur rechten Seite war der Garten einer Anstalt, aus dem Nebel blickten rote Ziegelhäuser. Manchmal traf ich einen Angler, ich grüßte ihn oder ging vorüber, je nachdem. Bei den Wildgehegen überquerte ich die Straße und ging über die bewaldeten Berge, zurück ging ich den Weg am See. Ich wollte an nichts denken …

    Wir warten auf den Zug nach N., der sich verspätet. Wir sitzen beide auf der Bank und sehen immer zu dem einen Mann, der auf dem anderen Bahnsteig steht: ein alter kleiner Mann mit seinem Koffer. Der Alte ist schon vorzeitig gekommen, er ist in dunkelblauem Mantel, aus dem ein wenig Rot von seinem Schal vorleuchtet. Vielleicht ist es die erste ordentliche Reise, die der Alte unternimmt, vielleicht auch seine letzte. Er mustert insgeheim die fremden Menschen, er blickt sehr oft zur Bahnhofsuhr. Dann fällt ihm ein, er könnte einen Gegenstand vergessen haben, und wir verfolgen, wie er nach dem Koffer blickt und wie ihn jetzt hartnäckig der Gedanke quält. Danach kniete der Mann nieder, legte den Koffer flach auf die Erde und öffnete ihn, um in seinen Sachen nachzusehen, nahm Wäschestücke heraus, Wollstrümpfe und braune Tüten und stapelte das alles neben sich. Wir kamen nie dahinter, welchen Gegenstand er suchte und ob er ihn gefunden hätte; wir sahen, wie er Stück um Stück zurück in seinen Koffer legte. Dann stand er auf und richtete den Koffer hoch, und eine Zeit war er zufrieden und beherrscht, stand da und sah nur hin und wieder nach der großen Uhr. Aber wir kannten ihn nun schon und warteten darauf, daß ihn die Ungewißheit wieder foppte. Er ruckt unwillig mit dem Unterkiefer. Er dreht sich um und will sich selbst den Rücken zeigen. Wir sehen, wie er sich dem Zweifel eine Zeitlang standhaft widersetzt. Dann kniete der Alte nieder und öffnete seinen Koffer, legte Wäschestücke, braune Tüten auf den Bahnsteig, um sich zu vergewissern. »Ich habe manchmal solche Angst«, sagte Jan zu mir.

    »Ich weiß, als wir auf dem Ellenbogensee geschwommen sind.«

    Er gibt mir keine Antwort.

    »Ich hatte auch Angst. Als der Wind immer stärker wurde und die Wellen uns in die Gesichter schlugen, es ging mir gar nicht besser.«

    Er schweigt.

    »Man konnte deutlich die Kühe zwischen den Erlen sehen, es sah ja aus, als wären sie ganz nahe, aber es waren doch noch ein paar hundert Meter bis zur anderen Seite.«

    Er blickte mich nicht an. »Das mein ich nicht«, sagte er.

    »Dann denkst du an die Brücke?«

    Jan war damals viel zu sehr gewachsen, er sah mager aus, keines der Kleidungsstücke wollte ihm recht passen. »Ich hab dir das angesehen«, sagte ich, »aber ich freute mich, daß du damit fertig wurdest.«

    »Sind es tatsächlich elf Meter?«

    Ich hätte das mit David ausgemessen, vom Geländer bis zum Wasserspiegel wären es genau elf Meter.

    »Ich spring nicht gerne von der Brücke.«

    »Aber du wolltest es. Ich hab dir gesagt, daß du es nicht tun solltest.«

    »Ja, ich wollte es selbst. Ich will es immer selbst, weil ich sehen will, ob ich feige bin.«

    »Ach, du bist doch nicht feige, Jan.«

    »Ich schaffe es jedesmal, und danach sage ich mir auch, daß ich es nicht bin.«

    »Es sah gut aus, wie du gesprungen bist. Und außer dem Athleten hat es niemand mehr riskiert.«

    »Ich meine etwas anderes«, sagte er.

    Wir sahen, wie der Alte wieder kniete und in seiner Wäsche suchte; zwei Frauen waren auf ihn aufmerksam geworden, sie konnten nichts begreifen. »Ich habe manchmal Angst, daß ich einen Mord begehen könnte.«

    »Einen Mord?«

    Ich bin so überrascht von dem Gedanken, ich spüre, wie es mich durchfährt, ich verberge meinen Schreck und sage: »Das geht vielen Menschen so, die in deinem Alter sind. Hast du schon lange diese Angst?«

    »Jeden Abend.«

    »Nein, glaub mir, das geht vorüber«, sagte ich noch einmal. »Das ist bei jungen Menschen so. Du solltest dich damit nicht quälen.«

    »Nein, es ist ernst. Es ist absolut ernst.«

    »Aber im Grunde weißt du doch, daß du niemanden ermorden könntest.«

    »Ich weiß es nicht mehr«, sagte er.

    Ich sah ihn immerzu an, er blickte angespannt zum anderen Bahnsteig, obwohl er jene Vorgänge jetzt gar nicht mehr verfolgte; ich dachte, daß ich ihn noch nie so hilflos hatte sitzen sehen. »Doch, das weißt du, Jan; und wen solltest du wohl auch ermorden.«

    »Ich habe Angst, daß ich dich oder Mutter ermorden könnte. Oder David.«

    »Unsinn, Jan, du liebst uns doch.«

    Er sprach leise, ohne den Anflug einer Erregung in den Sätzen, so als habe er sie viel zu oft durchdacht. Ja, er liebe uns, er liebe uns so sehr, daß er es nicht beschreiben könne. Dennoch dächte er, er könne uns ermorden.

    »Du steigerst dich da jetzt hinein.«

    »Nein, es ist ernst, ich denke sogar nach, womit ich euch ermorden würde.«

    Der Zug ist unerwartet eingefahren, die Türen öffnen sich, ein Schaffner ruft. »Mach dir jetzt keine Gedanken«, sagte ich und reichte ihm die schwere Tasche. »Bis Sonnabend!« – »Bis Sonnabend!«

    Nachts las ich über die Baukunst der Renaissance. Ich hatte mir einen Stapel Bücher in meine Stube getragen, ich machte mir die kleine Lampe an, las über Florenz und Michelangelo. Oder ich betrachtete die Kuppel der Sankt-Peters-Kirche, danach zeichnete ich sie auf ein Blatt Papier. Ich ging durch meine Stube und sinnierte, niemand, dem ich Rechenschaft schuldig wäre, ob ich nun aufsprang und eine Stunde durch die Stube ging. Unweit von meinem Fenster sang die ganze Nacht ein Sprosser (anfangs dachte ich, daß es ein Sprosser sei). Ich las bis in den Morgen; manchmal war mir übel zum Erbrechen, doch ich hatte neben mir ein Glas mit Salzwasser. Danach ging es mir besser.

    4 Ich hatte mir Farben gekauft, vier Pinsel und ein Fläschchen Firnis. In meiner Tasche lagen Zinnoberrot, Ultramarinblau und Pariser Blau, ich hatte mir zwanzig Tuben herausgesucht. Nicht, daß ich ein Maler wäre, ich hatte mir auch lange nicht mehr die Zeit genommen, für mich still zu sitzen und ein Bild zu malen. Ich ging hinauf in meine Stube, setzte mich und überlegte. Woher nahm ich nur den Glauben, daß ich malen könne!

    So verging ein Tag.

    Aber ich merkte, wie ich ruhiger wurde. Nicht jene äußerliche Ruhe, zu der ich mich noch zwingen mußte, diese Ruhe, merkte ich, war anders, und doch war sie mir nicht fremd, sie war wie ein Gedanke, den ich vor Jahren nur vergessen hatte. Ich saß auf meinem Stuhl und horchte.

    Um halb sechs kam Jarchow und ging in seine Pförtnerstube, holte den großen Schlüssel und ging zum Torhaus und öffnete die schweren Flügeltüren.

    Der alte Jarchow begrüßte mich jedesmal, indem er seine Mütze vom Kopf abnahm und sich vor mir verbeugte. Als wäre ich der Großherzog. Doch ich sagte dazu nichts, denn ich wollte ihn nicht verletzen, und so nahm auch ich die Mütze herunter und verbeugte mich, wie er es tat. Außer den ionischen und korinthischen Säulen gab es nie einen Zeugen für unsere Zeremonie, und später empfand ich es wie einen angenehmen Kult, wenn wir morgens im Hof barhäuptig unsere Verbeugungen machten, ehe wir die letzten Schritte aufeinander zugingen, um uns zu begrüßen.

    Zehn Minuten vor sechs kamen die beiden Zimmerleute; Matthias aber kam durch die kleine eiserne Tür, die auf der Hinterseite des Hofes war. Dann kamen die Maurer und der Stukkateur und um sechs der Klempner und der Lehrjunge des Klempners, der die Karre mit den Kupferblechen schob. (Leo kam damals erst um acht, denn er arbeitete nur vier Stunden.) Ernsthaft gesehen, waren wir ein viel zu kleiner Haufe für das Vorhaben, aber es überfiel uns jedesmal eine lebhafte Besessenheit, wenn wir morgens im Hof beisammenstanden, und wir bemühten uns, den Eifer voreinander zu verbergen. Die Zimmerleute nahmen ihre Rucksäcke wieder auf, in denen sie Fuchsschwanz und Dechsel und das andere Werkzeug trugen, wir gingen zum Italienischen Turm, stiegen die breite Treppe hinauf und gingen über den Boden des Südflügels, danach über den Boden des Westtrakts, benutzten Stiegen und Leitern und gelangten schließlich zur Turmhaube über dem Eingangsrisalit, und Paul, dem der erste Schweiß auf der Stirne stand, sagte wie jedesmal, wenn wir die offene Kuppel erreichten: »Hart ist das Leben an der Küste.« Und Karl sagte dann: »Aber gerecht.« Denn wir blickten von hier oben in den Gefängnishof, der auf der anderen Seite der Straße war.

    Die beiden hatten ihren stillen Spaß an ihren stereotypen Sätzen, und sie schockierten manchen, der sie nicht näher kannte. Aber auch wegen ihrer lauten Rufe mochte ich sie, wenn sie auf einer sehr hohen Rüstung arbeiteten, und ihres Geschickes wegen mochte ich sie sehr, wenn sie mit den gekrümmten Dechseln die Gratsparren beschlugen. Wir saßen auf den alten Balken, wie man vor gut vierhundert Jahren hier gesessen, und berieten ausgiebig, denn die beiden wollten den Schwung des Helmes kühner machen. »Das ist es nämlich, der Schwung ist mir zu lasch.«

    »Ja, er ist zu lasch«, sagte Karl.

    »Wiederum, wenn man die alten Schifter sieht …«

    Wir verglichen die neuen mit den alten, mürben Schiftern, die sie vorsichtig gelöst hatten, und hielten sie aneinander.

    »Den alten Schiftern nach ist er so gewesen.«

    »Ja, er ist wohl so gewesen«, sagte Karl.

    »Schließlich hatten sie das früher so.«

    »Ja, früher hatten sie das so.«

    »Man muß auch überlegen«, sagte Paul, »wie der Turm von unten her aussieht.«

    »Ja, man sieht den Turm meistens von unten«, sagte Karl.

    Ich hörte ihnen zu. »Habt ihr schon einmal einen Turm gebaut?« fragte ich. Aber das war nun eine sonderbare Frage, und sie stießen sich gegenseitig mit den Ellenbogen an, und Paul, während er lachte, duckte sich in seinen großen Körper und machte einen spitzen Mund. Aber es klang bei alldem doch etwas verlegen, da sie noch keinen Turm gebaut hatten, nein, sie hätten Kuhställe gebaut und Dachstühle für Wohnhäuser, und Fußböden hätten sie gelegt, und einmal hätten sie eine Brükke über einen Fluß gebaut. »Ich hab auch noch keinen Turm gebaut«, sagte ich.

    »Wo bist du früher eigentlich gewesen«, fragte Paul, »ich meine, ehe du zu uns gekommen bist?«

    Ich hätte Wohnhäuser gebaut, sagte ich, Wohnhäuser en gros.

    »Auch Bauleiter?«

    Ich nickte, obgleich es nicht die ganze Wahrheit war.

    »Aber du verstehst hiervon etwas?«

    »So gut wie nichts«, sagte ich, für mich wäre das alles noch sehr neu, und ich müßte mich von Grund auf erst damit beschäftigen.

    Wir konnten die ganze Stadt übersehen, die Dächer, und drüben war der Dom. Unser Schloß stand in der Taille der Stadt, die sich von Norden nach Süden streckte; hinter dem Gefängnis war sumpfiges Land, während zur anderen Seite greifbar nahe die Wiesen lagen, in den Wiesen zog der Fluß.

    »Jeder hat einmal seinen ersten Turm gebaut«, sagte Paul, wir stimmten ihm zu, und Karl sagte: »Ja, jeder hat einmal seinen ersten Turm gebaut, wenn er Türme baut.«

    »Kannst du heute auch noch anders?«

    »Mal sehen, vielleicht kann ich heute auch noch anders.«

    Ich sagte, daß wir diesen Turm so bauen müßten, wie er war.

    »Ja, anders können wir ihn nämlich gar nicht bauen«, sagte Karl.

    Und die Gebrüder Heidelberg mauerten einen französischen Kamin. Die Rüstung stand wie ein Storchennest im Dach, und die Heidelbergs waren immer in frisch gewaschenen weißen Anzügen, und mitten in der Rüstung wuchs der französische Kamin, vierkantig und aus blaurotem Backstein, aber jeder Stein wurde etwas nach rechts versetzt, so daß die Kanten ständig wanderten, und nach sieben Schichten hatte sich der Kamin um neunzig Grad gedreht, und der fertige Kamin würde aussehen, als habe er sich um zweihundertundsiebzig Grad gedreht. Aber ich sah, die Gebrüder Heidelberg hatten zwei Schichten wieder abgenommen, sie kratzten den Mörtel ab und wuschen sorgfältig die Steine.

    »Dieser Schornstein hat es in sich«, sagte ich.

    Die beiden waren wortkarg, wie man das nie erlebt; zu Anfang hatte mich das oft verstimmt, aber wir wußten inzwischen, daß sie die besten Maurer der Brigade waren, so respektierten wir ihr Schweigen. Ich breitete die Skizze aus, wir starrten eine Zeit darauf, ehe sie sich abwandten und wieder an die Arbeit gingen.

    Ihr Schweigen war so überlegen.

    »Wie werdet ihr das drüben mit dem Schornstein machen?« fragte ich; aber sie sahen nicht auf, obwohl sie, dessen war ich mir so sicher, jeden der Schornsteine schon viele Male stumm betrachtet hatten. Ein Wald von eigenwilligen Kaminen, und jeder Schornstein war ein Werk für sich.

    Und auf dem Hof stand Wilhelm mit der Schaufel, und es entging ihm nichts; dann ließ er wieder die Mischtrommel an, und er machte den Mörtel für den Außenputz. Er kippte die Trommel, so daß der Mörtel in die eiserne Karre rann, die er dann zum Aufzug schob, und der Aufzug beförderte die Karre hinauf zum dritten Stock, wo vier Maurer die Fassade putzten. Danach stand Wilhelm wieder mit der Schaufel. Er hatte eine große Verantwortung auf unserer Baustelle, denn von seinem Mörtel hing es ab, ob das Schloß den einheitlichen Farbton kriegen würde.

    »Aber du hast sie doch einmal geliebt?« fragte mich Matthias.

    »Ja, ich habe sie geliebt.«

    »Und du hast mit ihr gelebt.«

    »Achtzehn Jahre«, sagte ich.

    Er schwieg, beugte sich nun über seine Arbeit. »Du willst mich nicht verstehen«, sagte ich, »für einen Dritten ist das so sehr einfach.«

    Mir gefiel es nicht, daß er sich immer mehr in meine Angelegenheiten fragte, obgleich ich eingestehen muß, wie recht mir dies zu Anfang war, denn ich hatte keinen Freund, mit dem ich mich darüber hätte unterhalten können, meine Freunde hatten mich verlassen – oder: ich hatte sie verlassen.

    Wir saßen uns gegenüber, jeder bei seiner Arbeit. Ich sah auf seine ernste, blasse Nase, auf die Furunkelnarben, die er auf der linken Wange hatte. »Matthias«, sagte ich, »wir wollen nicht mehr davon sprechen, denn das ist doch wohl meine Angelegenheit.« Ich sah, wie er erschrak, seine nervösen Hände kraulten nun im dünnen Haar, als wäre er vertieft in seine Arbeit.

    Später sagte ich: »Versteh mich recht, Matthias, ich hing auch viel zu sehr an meinen Kindern, aber meine Frau, sie hatte sich das angewöhnt und hielt so ihre Hände.« Ich stand auf und zeigte, wie sie ihre Hände gehalten hätte. »Ich habe ihr das hundertmal gesagt, aber sie hielt so ihre Hände.« Während ich noch rede, wird es mir bewußt, ich habe das einmal an meiner Frau geliebt, tatsächlich ja. Es liegt nur ewig weit zurück. Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich es sehr mochte, wenn sie so stand und ihre Hände hielt. Ich setzte mich nun wieder hin. »Das mit den Händen ist so nebensächlich«, sagte ich. Ich ging hinaus.

    Die Zimmerleute hatten das Andreaskreuz gezimmert, sie fingen an, die Gratsparren zu stellen, und danach würden sie die Schifter gegen die Sparren setzen.

    Um vier Uhr trafen wir uns wieder auf dem Hof. Wilhelm reinigte die Mischtrommel, und die Maurer kamen nun von den Gerüsten. Die Zimmerleute trugen ihre Rucksäcke; und der Stukkateur kam und der Klempner und der Lehrjunge des Klempners, der die Karre für die Kupferbleche schob. Wir traten zurück und sahen nach dem französischen Kamin der Gebrüder Heidelberg, der aus der Rüstung ragte. Wir gaben uns die Hand. Matthias war durch die kleine eiserne Tür gegangen, während die Zimmerleute, die Maurer und der Stukkateur und der Klempner und der Lehrjunge des Klempners durch das Haupttor gingen. (Leo war schon um zwölf gegangen, denn, das sagte ich, er arbeitete nur vier Stunden.) Und bloß der alte Jarchow ist noch da, aber er nimmt nun seine Mütze ab, und wir beginnen mit unseren Verbeugungen. »Was ich noch sagen wollt, Herr Jarchow …«, sagte ich, und Jarchow setzte noch einmal seine Mütze auf, da wir ein paar Dinge eingehend bereden mußten. »Die Stadt stellt uns ab nächste Woche schon den zweiten Pförtner. Genaugenommen brauchten wir vier Pförtner, aber ist das nicht sehr gut, daß wir jetzt den zweiten Pförtner kriegen.« Ich ziehe das Gespräch hinaus, soweit das möglich ist. »Ja, stellen Sie sich vor«, erkläre ich. Und dann greift Jarchow wieder nach der Mütze. Also nehme auch ich nun meine Mütze ab und verbeuge mich, wir gehen die drei letzten Schritte aufeinander zu und geben uns die Hand. »Auf Wiedersehen, Herr Jarchow!« Danach höre ich Jarchows großen Schlüssel, der sich zweimal dreht, und das Schloß ist leer. Ich stehe auf dem Hof und wende mich, dort sind die Säulen, die ionische und korinthische Kapitelle haben. Das Schloß ist schön und – ist aus Stein.

    Aber ich eile die breite Treppe hinauf, haste über den Boden des Südflügels, benutze Stiegen und Leitern und erreiche das Turmgerüst über dem Eingangsrisalit, völlig außer Atem, als käme es auf jede Sekunde an. »Hart ist das Leben an der Küste«, ich wische mir den Schweiß, »gut, daß ihr noch nicht gegangen seid, der Schwung, ich habe mir das überlegt, der Schwung ist vielleicht doch zu lasch.« Ich setze mich auf das Andreaskreuz, rücke etwas, eine Aufforderung, daß auch Paul und Karl sich setzen möchten. Ja, vielleicht ist er doch zu lasch, sagt Karl, wir reden lang und breit und wechseln unsere Meinung, schweigen, da jeder seine Ansicht hat, erregen uns und reden. Und ich halte plötzlich ein: Es könnte sein, geht es mir durch den Kopf, daß jemand in der Stadt mich hier hoch oben sitzen sieht, verfolgt, wie ich die Arme schwenke, meinen Körper beuge, ihn nach hinten lehne, um meine Rede zu bekräftigen – obgleich ich doch alleine auf der Rüstung bin. Ich stehe auf und gehe meinen Weg zurück, benutze Stiegen, Leitern und die große Treppe und trete wieder auf die Erde.

    Es ist nicht so, daß ich nichts anzufangen wüßte. Und ich bin ganz ruhig.

    Ich könnte meine Mandoline stimmen und ein Kampfliedsingen, Auf, Sozialisten, schließt die Reihen …, daß es mich den Rücken kitzelt, und dazu die Mandoline spielen. Ich könnte auch die zwanzig Tuben holen, mich auf die Stufe zu den Säulen setzen und ein wenig malen. Denn ich kann tun und lassen, was ich will.

    Aber es fallen mir die Schritte ein, die ich einmal hörte. Ich gehe durch den Hof, der gepflastert ist, und fange an, die Schritte nachzuahmen, ich kehre um und gehe wieder, gehe wieder, die Schritte haben einen Rhythmus: ich merke plötzlich, daß ich hinke. Mein Gott, denke ich, es sind hinkende Schritte! Ich probiere es noch einmal, gehe zum Italienischen Turm und gehe zurück, gehe bis zum großen Torbogen; es bleibt dabei, die Schritte hinken. Nicht, daß ich viel empfand für jenen Menschen, doch ich fühlte mich in einer Weise ihm verbunden. Ich wollte unbedingt die Schritte wiederfinden, ich rannte hinauf in meine Stube und holte meine schwarze Tasche.

    Nun überquere ich den Markt, gehe auf dem Boulevard, an den Läden und der Post vorbei, wohin ich sehe, bunte Kleider, aber ich lasse mich nicht ablenken und achte auf die Schritte. Nun gehe ich die Straße am Kanal, unter den Platanen. Die Kleider, die im Halbschatten der Bäume kommen, haben lebhafte, aus dem Grau des Schattens aufleuchtende Sprenkel, die aufwärts auf den Kleidern wandern. Ich unterdrücke das Gefühl in mir, die Passanten wären aufmerksam auf mich, da ich mit meiner schwarzen Tasche gehe, nichts tue, als nur auf die Schritte achte; und ich wünsche mir, ich hätte David an der Hand. Ach, ginge ich jetzt hier mit David! Wir würden dann zu jener Bank hinuntergehen, würden übermütig sein und schwätzen und die beiden Schwäne füttern. Doch es geht nicht David neben mir, und alleine kann ich mich wohl dort nicht niedersetzen. Ich merke auch die Unbeholfenheit in meinem Gang, so trete ich nun fest mit meinen Füßen auf, als hätte ich ein Ziel – doch ich fürchte, daß man auf mich achtet. Ich überlege, daß ich etwas machen müßte. Denn gerade dadurch, sage ich zu mir, daß du unauffällig unter den Platanen gehst, wird ein jeder aufmerksam auf dich. Und ich fange an, ein Lied zu pfeifen. Und höre wieder auf. Ein flacher Stein kommt mir gelegen, ich bücke mich, wiege den grauen Stein in meiner Hand, dann hole ich weit aus und werfe ihn in den Kanal. Es ist nur zu natürlich, sage ich zu mir, wie du hier stehst und zusiehst, wie ein Stein ins Wasser schlägt. »Komm, David, wir gehen auf die Brücke«, ich wechsele die Tasche in die andere Hand. (Übrigens, hier dachte ich zum ersten Mal: Magdinikum. Magdinikum, sagte ich zu mir, Magdinikum; ein Wort, das keinen Ursprung hat und das mich eine Zeit umschlich, ich komme noch darauf zurück.)

    Es hatte zu regnen angefangen, vereinzelte sehr große Tropfen, die man als Erfrischung dankbar hinnahm; aber auch, als bald der Regen immer heftiger wurde, ja schließlich auf uns herabstürzte, stellte sich niemand deswegen – als wäre dies eine Übereinkunft aller Passanten – in den Eingang eines Hauses oder beschleunigte seinen Schritt etwa. Das Trommeln von den Dächern, wir waren wie taub. Als hätten wir den allein richtigen Moment, die Straße zu verlassen, nun verpaßt, beharrte jeder auf seinem Weg.

    In diesem Augenblick sah ich Morisco wieder. Über den Pferdekörpern stand eine Handbreit weißer Dampf; ebenso ignorierten die Reiter in ihren durchnäßten schwarzen Jacken den Regen völlig, strafften die Zügel, so daß die Pferde ihre blanken Hälse krümmten. Nur Morisco, der hinter der Pferdegruppe ging, hielt den Kopf hinausgereckt und rüsselte mit seiner Oberlippe in den Regen.

    Ich war den Reitern durch die Stadt gefolgt. Die Jungen, als ich den Stall betrat, waren mit Zaumzeug und Sätteln beschäftigt. Sie kamen auf den Gang und hoben die Sättel auf die hölzernen Haken an den Pfosten; es roch nach Schweiß und dem Urin der Pferde, dann klapperten die Wassereimer, und es verdunkelte sich jedesmal der Stall, wenn einer der Jungen, beladen mit einer Forke grünen Futters, durch die offene Tür kam. Ich ging an die Box, in der Morisco stand.

    Der Mann in Arbeitskleidung hielt mich von Anfang an für einen Pferdekenner; er rieb mit Stroh das Fell des jungen Pferdes trocken, danach frottierte er das Pferd mit einem Tuch, während Morisco ungeduldig stampfte, den Hafer malmte. Manchmal blickte der Mann für einen Augenblick zu mir, denn er wollte sich des Eindrucks vergewissern, den Morisco auf mich machte. »Diese klugen Augen«, sagte ich. »Nicht wahr!« sagte dann der Mann. »Der Nasenrücken ist ein wenig eingebogen«, sagte ich. Ich merkte, daß der Mann das gerne hörte, und nannte weitere Einzelheiten, die mir an dem Pferd gefielen. »Nicht wahr!« erwiderte er jedesmal. Moriscos Fell war lichtgrau mit hellen Kreisen, aber der kleine trockene Kopf war fast weiß, und die Augen waren schwarz umrandet. Auch die Mähne war beinahe schwarz, in der Mitte schimmerte sie schwarz und silbern. Ich hätte solch ein edles Pferd noch nie gesehen, sagte ich. Daraufhin richtete der Mann sich auf und trat zu mir an die Bretterwand der Box. »Was glaubst du, wer sein Vater ist?«

    Ich hatte keine Ahnung.

    »Abu Afas«, sagte er.

    »Tatsächlich?« Ich tat, als wäre mir der Name ein Begriff. »Er stammt also von Abu Afas?«

    »Und sein Großvater?« er zwinkerte mir zu, er trat wieder an den Hengst, um ihn erneut zu reiben. Dann unterbrach er seine Arbeit, kam dicht zu mir heran und sagte: »Adonah.«

    »Nein«, sagte ich, »das kann ich wohl nicht glauben!«

    Aber nun wollte er mich völlig überraschen, und er nannte mir die Namen Fetysz und Fasila und Koheilan Adjuz, und der Vater dieses Koheilan Adjuz kam aus Arabien, aus einem Beduinenzelt. Er nannte Ali, Champion Rasim und Siglavi, er nannte zwanzig Pferdenamen, die wohl alles sagten. Morisco malmte in der Krippe, aber die Ohren drehten sich zu uns herum, als horchten sie auf jedes Wort. Ein Junge kam und sagte, daß die Pferde trocken wären. »Sie sind trocken, Mustafa«, und der Mann ging mit dem Jungen zu den Pferden.

    Ich blieb alleine bei der Box zurück. Zögerte noch, öffnete dann aber doch die Brettertür und ging hinein (ich hatte noch nie ein Pferd berührt), klopfte vorsichtig das warme Fell des Halses, streichelte die Mähne – ohne daß der junge Hengst auch nur in irgendeiner Weise darauf reagierte. Erst nach dem letzten Haferkorn in seiner Krippe wendete er sich zu mir und rüsselte nach meinem nassen Jackenärmel. Betastet nun eingehend meine Hände. Ja oder Abneigung. Mein Geruch ist ihm noch fremd. Er betastet mein Gesicht, seine Nüstern sind beständig in Bewegung. Danach aber ist die Anspannung für ihn vorüber, und er kaut an meinem Jackenzipfel.

    Als der Mann zurückkam, sagte er zu mir: »Ich heiße Rudolf, aber die Jungen rufen mich hier Mustafa.« – »Ich heiße Lenk«, sagte ich. Er war breitschultrig, fast klein, ein wenig untersetzt, er sah nicht wie ein Reiter aus. Als ich hinausging, begleitete er mich bis ans Tor.

    Ich summte eine Melodie, die mich den ganzen Tag verfolgt hatte. Ich ging in einen Laden, kaufte mir ein Brot, ein wenig Wurst und ein Stück Butter; die Kassiererinnen kannten mich nun schon, da ich immer Brot und Wurst und ein Stück Butter kaufte. Wo ich auch stand, immer summte ich die Melodie. Später wurde mir bewußt, es war der »Valse de fleurs«. Mein Gott, der Valse de fleurs, dachte ich.

    ZWEITES KAPITEL

    5 Ein Saal mit tausend Kerzen war es nicht, es war Mai und warm, es war nach dem Abendfilm, über den schwarzen Linden stand ein Mond, es war im Pavillon des Parks von L. Wir gingen zu dritt und wähnten uns allein im Park, dann hörten wir sehr leise die Musik: jemand saß dort im dunklen Pavillon und spielte Grammophon.

    Ich wollte nicht, daß wir noch länger über den Film redeten, aber Carla sagte: »Die Zwiesprache des Optischen, ich meine, der rein visuelle Widerspruch …« – »Ja«, sagte ich, »und als der Mann den Sohn nach Hause trug, sah man ihm nicht an, daß er eigentlich sehr traurig war, aber man mußte daran denken, wie er seinen Sohn genauso dort getragen hatte, als der noch sechs Jahre war, und man dachte ja daran, daß sie damals denselben Weg gegangen waren, und man wußte, daß auch der alte Mann jetzt daran dachte. Wollen wir nicht über etwas anderes reden, Carla?« – »Frappant war diese Musikalität, die Musikalität in den naiven Bildern.« – »Ja«, sagte ich, »und als die alte Frau sich ihre Füße wusch, sah man noch die Anmut ihrer Hände, nur waren ihre Füße ganz unförmig geworden und hatten jetzt die dicken Adern. Carla, wenn ich dich ganz herzlich bitte, wollen wir nicht über etwas anderes sprechen?«

    Das Mädchen, das neben Carla auf der anderen Seite ging, beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Ich hatte sein Gesicht nur einen Augenblick gesehen, als wir aus dem Kino traten, und wußte, daß es, was mir ganz unverständlich war, einen demütigen Ausdruck hatte. Das braune krause Haar war straffgezogen, die großen Augen hatten mich kaum angesehen und hatten einen trüben Schleier von Befangenheit.

    Wie gesagt, ich war selbst viel zu gesprächig, und obwohl ich mir im stillen nicht gefiel, trieb es mich, nur immer mehr zu sprechen. Ich konnte nichts dagegen tun. Später wechselten wir das Thema. Ich hatte Carla schon ein Jahr nicht mehr gesehen, hatte schließlich auf ihre Briefe hin einfach nicht mehr geantwortet. Carla war apart und ausnehmend schön, mit einer griechischen Nase: eine sterbende Niobide (Hier bin ich, Vater, wie ein Zweig zu Deinen Füßen …). Sie war das erste Mädchen, in das ich wirklich verliebt gewesen war; wir hatten lange Radtouren unternommen, Zeltsack und Kochtopf auf den Gepäckträgern. In Wahrheit hatte dieser Reiz auf mich niemals aufgehört (ich spürte das auch jetzt), aber ich hatte eines Tages ihre Sätze nicht mehr ertragen können, wenn wir über ein Buch oder einen Film oder über eine Landschaft gesprochen hatten. Nicht, daß wir uns gestritten hätten, das war es nicht.

    Wir setzten uns auf eine Bank, unweit des Pavillons. Es fiel uns auf, der Mann dort spielte immer nur die eine Platte; dann hörten wir, wie er das Grammophon aufzog.

    Vielleicht dachte Carla, daß nun zwischen uns alles wie früher wäre. Tatsächlich hatten wir wieder den alten ausgelassenen Ton, wie wir ihn noch vor einem Jahr oft gehabt hatten; und Carla, während wir schwatzten, laut auflachten, griff mehrmals nach meinem Arm. Später sollte ich gar eine Frau beschreiben, die »meinem Ideal« entspräche. Nur so und für die Unterhaltung, sagte sie; aber es kam mir in den Sinn, und ich beschrieb die alte Frau aus jenem Film, die Art, wie sie sich bückte, ihr dünnes Haar zurückgestrichen hatte, als sie sich ihre alten Füße wusch. »Du bist geschmacklos«, sagte Carla, »außerdem, du bist erschreckend sentimental.« Ich fuhr innerlich zusammen, denn sie hatte recht. Ich spürte das selbst. Ich begann noch einmal, beschrieb einen sehr dünnen Hals und zwei verlassene, zu große Augen. »So, hab ich dunkle Augen?« fragte Carla. Als wir schwiegen, hörten wir das Grammophon.

    Das stumme Mädchen sagte in die Stille: »Der Valse de fleurs.«

    Wir horchten auf die Melodie, die nur leise zu uns kam. »Ich werd ihn fragen, ob wir dazu tanzen dürfen«, sagte ich; ich stand auf und ging die Treppe hinauf.

    Der Mann, als ich ihn fragte, antwortete mir nicht. Sooft er an der Zigarette zog, wurde sein Gesicht beleuchtet, ich schätzte es auf fünfunddreißig Jahre. »Wir würden gerne diesen Walzer tanzen«, wiederholte ich, »wenn Sie einverstanden wären.« Aber er gab mir keine Antwort. Doch später, indem er sich sehr über die Brüstung lehnte, rief er hinter mir: »Nein, kommen Sie, so kommen Sie! Im Gegenteil, ich lade Sie ja ein.«

    Oder war es etwa nicht ein Zufall, daß Käfer sirrten, daß ein Mond am Himmel stand? Und daß ein Mann dort saß, der fünfunddreißig war und seine Schallplatte abspielte? War das nicht ein sehr großer Zufall? Wir waren Schemen, sahen nur die Umrisse, sonst sahen wir uns nicht. Gingen unter einer Maske, die uns jetzt selbst bis in das Innerste veränderte. Wir gingen hinauf in den Pavillon; der Mann, als er uns sah, stellte das Grammophon ab und zog es ordentlich auf: und dann begann der Walzer, der Valse de fleurs.

    Diese nun folgenden Minuten habe ich deutlich vor mir: ich tanzte nur mit Carla und dachte dabei doch nur an das fremde Mädchen – das den Kopf etwas geneigt hielt und an der Brüstung stand. Ich hätte es zu einem Tanz auffordern können, aber ich tat es nicht. Ich hatte das noch nie erlebt: mich lockte dort die Kompliziertheit einer Seele, die mir ganz fremd und wiederum in einer Weise auch verständlich schien; hier aber war es Carla, die mich reizte. Es war aufregend, wie Carla jeder Bewegung, jeder Andeutung meiner Schritte folgte, und genauso hatten wir ja früher viele Male getanzt, als wir uns noch sehr geliebt hatten.

    Als die Musik verstummte, trennten wir uns nicht. Der Mann hatte mitten im Spielen den Tonarm abgehoben, er schwieg zwei, drei Sekunden, dann stand er auf und ging hinunter. »Ist etwas?« fragte ich, ich ging ihm nach bis an die Treppe, aber der Mann drehte sich nicht mehr um und ging dem Ausgang des Parkes zu. »Hallo, Ihr Grammophon«, rief ich, »was wird nun mit dem Grammophon?«

    Während der Woche ereignete sich nichts. Dann kamen der Sonnabend, der Sonntag, die Tage, die ich unruhig erwartet hatte, ich ging durch die Straßen und blickte nach den Fenstern: ich spürte auch, wie die Erinnerung verblaßte, ein Dutzend Wörter, zwei große und zu ernste Augen, die einen trüben Schleier hatten. Dann stand ich wieder auf dem Bahnsteig und wartete auf meinen Zug.

    Ich hörte die Vorlesungen, notierte aber kaum ein Wort. Statt dessen schrieb ich rhythmische Sätze, Strophen, die ich aber jedesmal sogleich zerriß. Lediglich in Statik hatte ich Schwierigkeiten, diese während meines ganzen Studiums. Zwar hatte ich meinen Freund, den kleinen Marinello, der sich an mich hängte und der ein Meister der Statik war; aber es bedrückte mich doch sehr, daß ich in diesem, für meinen künftigen Beruf so wichtigen Gebiet ganz offenbar versagte. Marinello hingegen war tief beglückt, wenn wir beide in den Nächten saßen und er mir die mathematischen Formeln auseinanderlegte. Niemals traf ich später einen Menschen, der mehr Geduld mit mir aufbrachte als der kränkliche, der kleine Marinello. Und es hatte seine Art, wie er die Formeln öffnete: er breitete in sorgfältiger Reihenfolge die Gesetze, die die Formeln trugen, vor mir aus, bis sie mir endgültig überschaubar waren, und ich erinnere mich, nicht der Erfolg an sich war es, der mich ein jedes Mal zufrieden stimmte, viel mehr war ich beeindruckt von der Formvollendung der Gedanken, die sich präzise und ganz folgerichtig in ein Schema fügten. »Was werde ich nur machen, Marinello, wenn wir uns nach dem Studium trennen müssen?« Aber seine immer entzündeten Augen blinzelten verklärt. »Bis dahin weißt du alles.« Und in der Tat, nie verlor ich einen der Gedanken oder den Zusammenhang verschiedener Gedanken, den Marinello einmal vor mir sichtbar gemacht hatte, ich benutze einen Lehrsatz, irgendeine Formel und höre Marinellos Stimme, wie sie alles auf das Einfache zurückzuführen weiß, höre seine etwas zu hohe, immer ein wenig fieberhafte Stimme …

    Ich erinnere mich eines plötzlichen Augenblickes. Wieder ein Sonnabend, ich überquere eine Straße, da ich vom Bahnhof komme und zur Wohnung meiner alten Mutter gehe, und sehe plötzlich dicht vor mir das Mädchen – gar nichts ahnend, ohne jede Absicht. Es ist nicht Zeit, mir einen Satz zurechtzulegen, ich spüre nur, wie sich der Schreck in mir ausbreitet und mich völlig lähmt. Ich grüßte und ging schnell vorüber.

    Ich saß untätig in der Stube und war nicht gut zu meiner Mutter. Schließlich trieb es mich hinaus, ich ging geradeswegs zum Park und sah das Mädchen auf der Bank am Pavillon. Der Park war jetzt belebt. Das Mädchen hatte mich kommen sehen, ich ging immer den Wegen nach, die sich um Büsche und Rasenflächen wanden. Dann stand ich vor der Bank, ich setzte mich. »Warum der Mann nur immer diese eine Platte spielte«, sagte ich, »können Sie denn das begreifen?«

    Ich war sehr aufgeregt. Später sah ich, wie der Hals des Mädchens rot anlief, wenn es meinen Satz erwiderte, und ich wurde ruhiger. Es fiel mir auf, die Augen hatten nicht mehr einen trüben Schleier, sondern es waren ungewöhnliche, beinahe schwarze Augen, die mich, wenn sie mit meinem Blick nicht rechneten, nun neugierig musterten.

    6 Ich will ohne Umschweife erzählen, was vor sich ging. Wir sprachen, sprachen …, auf den Inhalt der Worte kommt es nicht an.

    Anfangs sagte Anna nur weniges, nur, wenn ich sie ausdrücklich etwas fragte. Es wäre der beste Film in ihrem Leben gewesen, antwortete sie. Es gäbe noch einen guten Film, erzählte ich, den hätte ich vor einem Jahr gesehen, ein Film, der keine Dialoge habe, dennoch erführe man in ihm sehr viel. Doch man erführe auch in unserem Film sehr viel, erklärte ich.

    Aber, indem ich pausenlos erzählte, empfand ich, wie sich nach und nach ein gänzlich anderes Gefühl in mir einstellte, das mich einerseits nun zwar bedrückte, jedoch, so seltsam das erscheinen mag, zugleich erleichterte: Enttäuschung. Ich hörte, wie meine Sätze immer lebhafter wurden, daß ich meine Befangenheiten völlig verloren hatte. Denn ja auch ich hatte das Mädchen ständig betrachtet: allein das dunkelbraune Haar, das sich nach allen Seiten sperrte und kringelte, verlieh dem Mädchen etwas so Aufgeschrecktes, Groteskes, daß ich oftmals nur mit ganzer Mühe ein plötzliches Auflachen unterdrücken konnte. Noch stärker aber war dies: der Mund, die ganze untere Partie des Kopfes stand dem Gesicht so übermäßig und so mager vor, daß alle ihre Züge davon übertrieben ernsthaft wirkten, ja etwas Äffisches besaßen. Mein Gott, sie ist ja doch von Grund auf häßlich, dachte ich für mich. Sie drehte sich zu mir herum und lachte, doch zog ihr Mund eine Grimasse, daß es mich erbarmte.

    Wie ging das zu? Und hatte ich das alles denn an jenem Abend nicht gesehen?

    Das Mädchen war mir nun gleichgültig. Doch nicht, daß ich deswegen stumm geworden wäre, nein umgekehrt, ich war gut aufgelegt, hatte alle meine Steifheiten verloren und charmierte jetzt um sie herum, war aufmerksam, machte ohne jede Hemmung meine Komplimente – wodurch sie wiederum verlegen wurde. Jedoch das nur für eine Zeit.

    Später, weil sich jemand zu uns setzte, standen wir auf und gingen durch die Stadt. Blieben dann auf der Brücke stehen und sahen in die Kähne, die vor der Schleuse warteten.

    Und dann das Sonderbare: ich hörte zu und schwieg, während das Mädchen nun vollkommen verändert war und wie eine Quelle redete. Ich sah sie immerzu an. (Ich finde für den Vorgang keine Worte, denn er läßt sich nicht beschreiben – nicht von mir.) Ihr Mund erschien mir überhaupt nicht mehr zu groß, zu mager. Im Gegenteil, gerade diese Auffälligkeit, daß ihr Gesicht von seinem Oberkiefer an so unnatürlich vorstand, war es, die mir gefiel und mich in ihren Bann einzog. Mich mit jeder Minute immer stärker an sie fesselte. Ich wußte das, hier war Betrug im Spiel. Nichts anderes als meine Unaufrichtigkeiten, meine verlogenen Sätze hatten sie verwandelt. Ich wartete auf den Augenblick, in dem alles in sich wieder zusammenbrechen würde. Denn es mußte zusammenbrechen, es bestand nicht der geringste Zweifel. Es mußte wieder werden, was es war.

    Kurz, meine nicht ehrlichen, verstellten Reden hatten sie verzaubert. Ich konnte, was hier vor sich ging, noch nicht begreifen. Ihr Hals, wie er sich von den Schultern hob, war wirklich viel zu dünn, doch anders, dachte ich für mich, ja anders durfte er nicht sein.

    »Was ich nur hiermit sagen will, Matthias, es fing also mit einer Lüge an, und Anna, sie war so leichtgläubig und ist darauf hereingefallen.«

    Ich höre auf. Ich habe nicht die geringste Lust mehr, über Vergangenes zu sprechen. Außerdem sehe ich Matthias an, was er über mich denkt. Er schweigt. Erst nach einer halben Stunde fragt er mich: »Hat sie das niemals erfahren?« – »Doch, wir haben später darüber gesprochen«, antwortete ich, »ich habe es ihr alles gesagt.«

    Ich erinnere mich an folgendes:

    Ganz aus dem Nichts heraus fragte mich das Mädchen, ob wir zum Tatarenberg gehen wollten. Zum Tatarenberg? Ja gewiß, sagte ich, vielleicht sollten wir morgen gleich in aller Frühe … Nein, jetzt, unterbrach sie mich. Es war nur, daß mich das so völlig überraschte, denn wir brauchten wohl fünf Stunden, wollten wir wandernd den Tatarenberg erreichen.

    Wir gingen so, wie wir waren. Hinter der Stadt schnitt ich zwei Erlenstöcke ab; zwar gab es Wege, die wir hätten wählen können, wir aber überquerten eine Wiese, gelangten dann an einen Wald. Ich wußte ungefähr die Richtung, wußte, daß uns ein See den Weg versperren würde; ich war noch nie auf jenem Berg gewesen.

    Ehe wir den Wald wieder verließen, zogen wir uns die Schuhe aus, ich band sie alle vier an meinen Stock. Später gingen wir über die Gleise einer Eisenbahn. Danach kamen wir ans Ufer des sich ewig langhinziehenden Sees; meist war Anna ein paar Schritte hinter mir. Sie redete nun wenig. »Aber wir werden den Tatarenberg erst in der Nacht erreichen«, sagte ich.

    Nein, wir müßten ihn unbedingt, ehe die Sonne unterging, erreichen, sagte sie.

    »Wir werden das nicht schaffen, denn in drei Stunden geht sie unter. Warst du schon mal auf dem Tatarenberg?«

    »Wir haben früher dort gewohnt.«

    »Auf dem Tatarenberg?«

    »Nein, in einem Dorf«

    Wir schwiegen eine Zeit.

    »Warum heißt er eigentlich Tatarenberg?«

    »Früher haben die Zigeuner dort gelagert.«

    »Die Zigeuner?«

    »Ja, aber die Leute nannten sie Tataren. Sie sind jedes Jahr zu ihrem Berg gekommen.«

    »Hast du gesehen, wie sie dort gelagert haben?«

    »Nein, aber die alten Leute haben es erzählt.«

    Wir gingen am Ufer des

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1