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Miasmo: Fallakte des Bundesministerium zur Geheimhaltung abnormer Lebensformen
Miasmo: Fallakte des Bundesministerium zur Geheimhaltung abnormer Lebensformen
Miasmo: Fallakte des Bundesministerium zur Geheimhaltung abnormer Lebensformen
eBook296 Seiten4 Stunden

Miasmo: Fallakte des Bundesministerium zur Geheimhaltung abnormer Lebensformen

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Über dieses E-Book

„Es ist gefährlich. Ihr werdet mit den Vampiren verhandeln müssen und mit den Steinriesen und Trollen einen Pakt aushandeln. Ihr könnt euch einen Dämon einfangen, euch verletzen, zerhackt oder zerstückelt werden.“
Sechs Kinderagenten des Bundesministeriums zur Geheimhaltung abnormer Lebensformen und ein unmöglicher Auftrag: die Fabelwesen zur Schlacht rufen!
In einer Stadt, in einer U-Bahn Station mit orange braunen Kacheln in seltsamen Mustern, auf halben Weg nach draußen, zwischen der ersten und der zweiten Rolltreppe, hinter dem vierundzwanzigste Stein, verbergen sich die wildesten Abenteuer, fast ein bisschen zu wild.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum27. Mai 2016
ISBN9783740708214
Miasmo: Fallakte des Bundesministerium zur Geheimhaltung abnormer Lebensformen

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    Buchvorschau

    Miasmo - Sarah Spieß

    Impressum

    Kapitel 1

    Tatsachenbericht des zuständigen Generalvertreters

    Diese Unterlagen wurden zusammengetragen vom zuständigen Generalvertreter nach besten Wissen und Gewissen. Für Richtigkeit und Vollständigkeit der Unterlagen wird keine Haftung übernommen. Die Augenzeugenberichte sind umkommentiert und subjektiv. Sie wurden im Nachhinein eingeholt und weisen somit Gedächtnislücken und Ungereimtheiten auf. Meine eigenen Kommentare sind zeitgleich erstellt worden, dennoch aus recht eingeschränkter Sicht. Eine Auswertung der Unterlagen muss gesondert erarbeitet werden.

    Missionsbericht zuständiger Generalvertreter

    Nebelfetzen treiben über die Wiesen und Felder wie abgerissene Gardinen im Luftzug eines offenen Fensters. Die Stille des Morgengrauens gepaart mit dem Zwielicht des hinter den dicken Wolken versteckten ersten Sonnenlichts, lässt diesen Morgen so verhängnisvoll aussehen, wie er tatsächlich ist. 

    Ich fliege über das Landschaftsschutzgebiet und hänge noch einen Moment meinen Gedanken nach, bevor ich den Auftrag endgültig antrete. Die Häuser, die hier direkt am Flussufer stehen, liegen dunkel und verschlafen da, als hätten ihre Bewohner sie verlassen. Niemand scheint hier wach zu sein. Obwohl diese Stadt gar nicht klein ist und schon als Großstadt durchgeht, ist sie ein verschlafenes Nest. Ich folge dem Fluss bis zur Innenstadt.

    Ein seltsamer Auftrag, der mich hierher führt. 

    Meine Aufträge sind normalerweise einfacherer Natur und vor allem, hängt normalerweise nicht so viel von ihrem Gelingen ab. Ich gebe hier und da jemandem einen Schubs, damit er den Job annimmt oder halte jemanden fest, damit er sich nicht auf die Bahngleise schmeißt. Ich lasse zwei Menschen ineinander laufen, damit sie sich kennen lernen. Wichtig für die einzelnen, aber bisher nicht wirklich wichtig für die Menschheit.

    An einer alten Brücke biege ich Richtung Innenstadt ab. Auch hier ist am frühen Morgen kaum jemand unterwegs. Die Straßenbahn, die sich über die Brücke Richtung Schloss nach oben kämpft, ist verlassen und leer. 

    Nur langsam füllen sich die Straßen mit den ersten Berufspendlern. Durch den Nebel werden alle Geräusche gedämpft und so bewegen sich die Autos fast geräuschlos durch die engen Straßen. In einem Hinterhof reckt ein Bäcker nach getaner Arbeit die Arme Richtung Himmel und schaut auf. Er sieht mich nicht.

    Ich drehe nach links ab und fliege auf den Hauptbahnhof zu. Viele Gleise laufen hier zusammen, genauso viele Menschen kommen herbei, um dann wieder wegzufahren. Ein Knoten, in dem sich Menschen, die sich nicht kennen, begegnen und wieder auseinander strömen. Manche dieser Begegnungen hätten fruchtbar sein können, wären sie nicht so schnell getrennt worden.

    Diesmal komme ich mit einem Schubs an der richtigen Stelle wohl nicht klar. Ich frage mich, warum ich einen so wichtigen Auftrag bekomme, obwohl es doch sicher andere gäbe, die es besser könnten als ich. 

    Ich folge den Gleisen der U-Bahn, vorbei an ehemaligen Industriebrachen, die nun zu neumodischen und sündhaft teuren Wohnungen umgebaut waren. An der offenen Terrassentür eines dieser Gebäude steht eine Frau und unterhält sich mit einen Zwerg, der in ihrem Garten steht. Sie schaut mir verwundert hinterher, dabei redet sie mit einem Zwerg. Endlich habe ich die U-Bahn eingeholt. Theoretisch zu spät, denn schon erreicht sie den Tunnel und entschwindet aus meiner Sicht. Ich fliege weiter Richtung Autobahn.

    Ich darf diesen Auftrag nicht vermasseln. 

    Mitschnitt des Gespräches zwischen dem scheidenden und dem zukünftigen Sicherheitschef des Ministeriums 

    „Alscho, dasch war so, glaub ich. N´ Junge schwölf Jahre alt kommt hier her, alscho hier her. Un der alscho, der stürzt die Welt innes Chaos, alscho glaub isch."

    „Konzentrieren sich sich, bitte. Es ist doch wichtig."

    „Jaa, isch weiß, is dir wischtisch. Abar ich hab wohl schu viel getrunken. Ich erinnere misch nischt."

    „Wann sind sie mal nicht betrunken? Das ist doch wohl der Grund, warum ich ihren Job hier übernehmen muss."

    „Schtimmt. Diescher Junge, er ischt blond. Inner Agententruppe vonne Kinners sind sieben Kinner, alscho mit ihm. Ah, ja, er verrät die un damit macht er allesch kaputt, ne. Elosa wird sterben…Naaaarschschü, Naaaaarschüüüü."

    „Nicht einschlafen jetzt. Das ist wirklich wichtig."

    „Ah, jaaaa. Der Teufel tötet alle Kinners, und weil du, alscho du, das nicht erträgscht, dasse tot sind, arbeiteschte mit ihm zusammen."

    „Wer? Ich? Das ist doch ausgemachter Humbug!"

    „Isch ne Proffezeihung, die schtimmt immar. Musse alscho hinnehmen. Wenne den Jungen siehscht muss n wegschicken, so siehts ausch. Schonst bisse dran."

    „Das sind alle Informationen zu dieser Prophezeiung? Mehr nicht? Und sie sind sicher, dass sie sie nicht aufgeschrieben haben?"

    „Schicher. Äh, die Proffezeiung hiesch Miasmo. Der Junge wird dasch Ende der Welt einleiten, Gott wird stcherben und die gansche Menschheit auch. So isset." 

    Augenzeugenbericht Niklas Möllenbeck, Kinderagent

    Ich schlug das Buch zu, starrte auf den schmuddeligen Einband und wartete bis mein Puls sich ein wenig beruhig hatte. Dann sah ich auf. Ich fühlte mich fiebrig und fürchtete jemandem könne mein hochroter Kopf auffallen. Doch niemand beachtete mich.

    Die Bahn ruckelte gleichmäßig in der Mitte der Autobahn voran und die Menschen, die hier saßen, waren nur mit sich selbst beschäftigt. Es roch nach Schweiß und zu heiß gewordener Heizung. Ich strich unsicher mit der Hand über den Buchrücken. Meine Finger ertasteten den Titel des Buches, der in goldenen Lettern auf den Rücken geprägt war. 

    Was für ein seltsames Buch.

    Ich fühlte mich erschöpft und müde, als wäre ich die Hauptperson dieses Buches und hätte all diese unglaublichen Dinge erlebt.

    Der letzte Satz des Romans hallte durch meinen Kopf.

    Komm doch vorbei, wenn du dich traust!

    Ich hatte die ganze Zeit gewusst, wo es ist. 

    In dieser Stadt, in einer U-Bahn Station mit orangebraunen Kacheln, in seltsamen Mustern angeordnet. Auf halben Weg nach draußen, zwischen der ersten und der zweiten Rolltreppe, es ist der vierundzwanzigste Stein.

    Die Bahn fuhr in einen Tunnel. Das Licht ging flackernd an. Ich sah mein Spiegelbild in der Scheibe neben mir. Es war blass, meine Augen waren vor Aufregung weit aufgerissen. Ich sah richtig schlecht aus. Die weißblonden Haare fielen mir ins Gesicht. Diese blöde Frisur. Den Friseur können wir uns nicht leisten, sagte meine Mutter immer. Alle anderen Jungen in meiner Klasse hatten normal kurze Haare, nur ich nicht. Meine Mutter bestand auf diese Frisur. Sie schnitt sie mir selbst. Ich würde ja so süß aussehen damit. Ich wollte gar nicht süß aussehen. Ich wollte wild aussehen. Die Frisur sollte zu mir passen, oder besser, sie sollte zu dem passen, was ich werden wollte: wild. Sonst hatte ich vor allem Angst. Angst zu verlieren, Angst zu gewinnen Angst davor Angst zu haben.

    Ab heute sollte es sich ändern. Ich würde allen beweisen, wie wild und mutig ich war.

    Allen aus meiner Klasse, meinen Lehrern und meiner Mutter, meinen Brüder und der kleinen Schwester. Ich bin mutig. Jawohl. 

    Ich habe drei ältere Brüder und eine kleine Schwester. Ich bin irgendwo dazwischen. Niemand achtete auf mich. Das Nichts der Familie. Egal, wie ich mich benahm, niemand schenkte mir Aufmerksamkeit. Ich konnte noch so schlimme Dinge anstellen, immer hatte mich einer meiner Brüder in Boshaftigkeit und Größenwahn getoppt. Irgendwann war ich einfach abgetaucht. Unsichtbar, ängstlich, nicht wild.

    Zwei Haltestellen nachdem die Bahn in den Tunnel gefahren war, stieg ich aus. 

    Ich befand mich in einer U-Bahnstation mit orangebraunen Kacheln, die in seltsamen Quadraten angeordnet waren. Ich wandte mich nach rechts und fuhr mit der Rolltreppe einen Absatz nach oben. Hier gabelte sich der Gang und führte links und rechts zu weiteren Treppen. Fahles Tageslicht schimmerte von dort. Ich wandte mich weder nach links noch nach rechts, sondern lief direkt auf die Wand vor mir zu. Ich wartete bis niemand mehr da war, dann zählte ich bis zur vierundzwanzigsten Fliese von links. Es war kalt hier, doch meine Hände zitterten vor Aufregung. Wenn sich die Fliese nicht drücken ließ, hatte ich mich geirrt und das hieß, ich hatte die letzten Stunden Schule umsonst geschwänzt. Ich legte die flache Hand vorsichtig auf die Fliese. Sie war seltsam warm. Ich spürte, wie mein Herz wieder anfing heftig zu schlagen. Fast hätte ich mich nicht getraut zu drücken. Aber ich war kein Feigling. Ich konnte mutig sein.

    Ich drückte. Die Fliese wich tatsächlich fast einen Zentimeter in die Wand zurück. Ich stolperte erschrocken rückwärts. Es stimmte also, es gab es wirklich, das Bundesministerium zur Geheimhaltung abnormer Lebensformen. 

    Winzige Haarrisse bildeten sich in den Fugen der Fliesen und ein unsymmetrischer Fleck des Mauerwerks öffnete sich, einer Tür gleich, in den Gang. Dahinter erschien ein unscheinbarer kleiner Raum. Er war eingerichtet wie eine Besenkammer, aber es war keine. 

    Ich war bis zur Rolltreppe zurückgewichen, aber ich sah genau den kleinen Computerbildschirm, der am hinteren Ende der Kammer in die Wand eingelassen war. Genau so deutlich sah ich die zahlreichen Videokameras in den Ecken des Raumes. 

    Vorsichtig, auf jeden Schritt bedacht, trat ich näher.

    Ich weiß heute nicht mehr, wie lange ich dort gestanden hatte, bevor ich über die Schwelle trat und die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Aber spätestens das holte mich in die Wirklichkeit zurück.

    Blitzschnell, aber natürlich zu langsam, um die Tür zu stoppen, drehte ich mich um. 

    Hinter mir war keine Tür mehr. Ich legte die Hände an die Backsteinmauer. Absolut massiv. Ich war gefangen. Aber das war eigentlich auch egal. Ich hatte ja keine Angst. Ich wollte ja nicht zurück. Ich war ja wild.

    Wenn hier Kameras installiert waren, dann hieß das auch, dass irgendwer mich sehen konnte. Vielleicht schrillten schon längst sämtliche Alarmsirenen. 

    Ich hatte gar keine andere Wahl, als auf den Monitor in der Wand zu zutreten. 

    Im unteren Teil des Bildschirms war eine Tastatur eingeblendet. Darüber war eine Art Fragebogen, in den man Namen, Adresse und Telefonnummer eingeben musste.

    „Bitte geben sie ihre Personalien ein", stand in der rechten, oberen Bildschirmecke.

    Ich drückte vorsichtig auf den Bildschirm. Im Fenster Name erschien ein N. Auf diese Weise füllte ich den Fragebogen aus. Die Wahrheit, warum lügen?

    Ich zögerte wenige Sekunden, dann drückte ich die Enter-Taste.

    Ein ohrenbetäubender Knall peitschte durch den kleinen Raum, klingelte in den Ohren, hallte durch den Kopf. Ich schrie, stolperte rückwärts, fiel über einen Besen und schlug mit dem Kopf gegen ein Regal. Flammenroter Schmerz explodierte in meinem Kopf. Benommen stürzte ich zu Boden, gefolgt von allerlei Gerümpel. Rote und grüne Punkte tanzten vor meinen Augen. Ich blieb benommen sitzen. Der Lärm verklang und als es wieder völlig still geworden war, öffnete ich vorsichtig die Augen. Die Kammer sah aus wie ein Schlachtfeld, aber offensichtlich war ich, Niklas, der einzige Auslöser des Chaos gewesen. Alles, was auf dem Boden lag, umgestoßen, gekippt oder kaputt, hatte ich selbst in meiner Angst umgestoßen. Vorne an der Wand mit dem Monitor, war alles in Ordnung. Eine versteckte, niedrige Tür war aufgesprungen, aber ansonsten hatte sich nichts geändert.

    Ich ärgerte mich. Ich reagierte immer zu heftig. Zu ängstlich, zu traurig, zu fröhlich, zu albern. Das war der Grund, warum ich in der Schule auffiel. 

    Meinen Lehrern, meiner Mutter nicht.

    Aber jetzt, jetzt kam der Zeitpunkt, an dem ich mich deutlich mehr hätte fürchten müssen. An diesem Punkt, hätte ich besser auf meine Angst gehört. Aber ich tat es nicht.

    Augenzeugenbericht Jonathan Hiller, Verwaltungschef

    Er war einer dieser sympathischen Männer Mitte fünfzig und mir fiel es immer schwerer in ihm den gefährlichsten Menschen der Welt zu sehen. Noch eben hatte ich mich gefragt, warum ich Marie unbedingt hatte begleiten wollen und warum zum Teufel (Ha!) ich mich dieser Gefahr aussetzte. Jetzt fühlte ich mich geradezu wohl. 

    Marie stand neben mir. Sie hatte die Arme verschränkt und machte ein strenges Gesicht. Ich wünschte, sie würde netter sein. Sie legte den Kopf schief.

    „Warum sind wir hier?", fragte sie barsch. 

    „Oh, Marie Luise, du bist immer so charmant", lächelte der Herr. Er trug einen kleidsamen und teuren, weißen Anzug.

    „Du magst Hiller hier bezaubern können, Andrej, aber bei mir zieht die Masche nicht. Los jetzt, warum sollten wir so dringend kommen?"

    „Ich will mehr Platz… Oh, komm schon, Marie Luise, der Schuppen ist zu klein, siehst du das nicht?"

    Ich wandte den Blick von diesem Mann ab und ließ ihn schweifen. Ich stand an einem weißen Sandstrand unter Palmen. Eine hoch aufragende weiße Villa türmte sich zu meiner linken auf, zu meiner rechten erstreckte sich das schier endlose türkisblaue Meer. Es schien mir wirklich ein bisschen eng hier.

    Marie sah den Mann immer noch durchdringend an.

    „Oh, na gut. Ich sehe schon, dir kann ich nichts vormachen", lachte der Herr und zeigte seine schneeweißen Zähne, die in dem dunkel gebräunten Gesicht blitzten wie Diamanten. Er drehte sich um und wanderte voran. Marie folgte ihm ungeduldig.

    „Ich habe nicht ewig Zeit, Andrej, was willst du mir sagen?"

    „Du weißt es doch längst, sagte der Herr. „Er ist unterwegs. Er ist unterwegs und deine Zeit ist vorüber. Dein Gott wird sterben und mit ihm die ganze erbärmlich Menschheit, an der er so hängt.

    Augenzeugenbericht Niklas Möllenbeck, Kinderagent

    Die niedrige Tür führte in einen weiteren kleinen Raum. Er war nur schwach erleuchtet und roch ein wenig muffig. Ich trat ein und sprang sofort wieder hinaus. Mein Herz pochte wieder bis zum Hals. Da drinnen stand jemand. Ich hatte ihn nur einen winzigen Moment lang gesehen, aber das reichte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken zu jagen. Ich atmete tief ein und betrat noch einmal den kleinen Raum. Er besaß keine weitere Tür. Er war eine Sackgasse und direkt vor mir war die Gestalt zu sehen. Es war mein Spiegelbild. Der kleine Raum war fast komplett verspiegelt. In Hüfthöhe verlief eine Stange entlang der Wände. Ich trat völlig in den Raum. Die Tür schloss sich automatisch hinter mir, doch diesmal erschrak ich nicht. Ich war darauf vorbereitet gewesen. Mein Blick ruhte auf einem kleinen Schaltpult. Dieser kleine Raum war nichts weiter als ein ganz normaler Aufzug. Na ja, nicht ganz normal vielleicht. Das Schaltpult besaß nur drei Knöpfe. Sie waren beschriftet. Auf dem ersten stand „Tief, auf dem zweiten „Noch Tiefer und auf dem dritten „Verboten Tief. Neben dem letzten Knopf war ein Zahlenfeld zu sehen. Wahrscheinlich war dieser Bereich Passwort geschützt. Ich überlegte kurz und drückte dann auf den Knopf „Tief.  Der Aufzug setzte sich tatsächlich ruckelnd in Bewegung. Es dauerte lange bis der Aufzug stoppte und sich die Tür wieder öffnete. Sehr lange. Ich hatte mich in eine Ecke gestellt und aufgeregt gewartet.

    Dann war ich nervös die Dinge durchgegangen, die ich in meiner Schultasche hatte: das Buch, eine Taschenlampe, ein Tau aus der Garage, einen Fotoapparat und mein Pausenbrot. Ich war denkbar schlecht vorbereitet. Ich hatte doch immer noch in Betracht gezogen, dass ich mich irrte.

    Augenzeugenbericht Jonathan Hiller, Verwaltungschef

    „Wer ist unterwegs?" fragte Marie genervt und beeilte sich den Mann einzuholen.

    „Warum fragst du, wenn du die Antwort kennst?" erwiderte der Mann.

    „Weil ich es aus deinem Mund hören will."

    Ich wusste nicht, wovon sie redeten. Mir war wie im Traum und ich konnte mich nicht entscheiden, ob es ein guter oder ein böser Traum war. 

    Ich bin ja kein Dummkopf. Ich sah unter die Oberfläche. Ich roch den Verwesungsgeruch, der von diesem Mann ausging. Ich wollte ihn nur nicht riechen. Ich wollte nicht sehen, was hier wirklich vorging.

    Wir schlenderten an einem Tisch vorbei auf dem alle möglichen Speisen lagen. Die Meisten sahen köstlich aus. Ich griff nach einer Erdbeere, doch Marie schlug sie mir aus der Hand.

    „Fass hier nichts an!" raunzte sie mich an. Der feine Herr lachte.

    „Sie haben sich wohl einen Babysitter mitgebracht, Herr Hiller. Ich dachte erst, sie wollten Marie Luise unterstützen, doch jetzt sehe ich, wer hier wen beschützt." Ich hob die Erdbeere wieder auf.

    „Marie beschützt mich nicht, sagte ich und es fiel mir schwer die Wut zu unterdrücken, die der Herr in mir geweckt hatte. „Und ich beschütze sie auch nicht. Ich kontrolliere sie.

    „Ah, das Mädchen kann man nicht kontrollieren, sagte der Herr lächelnd. „Spinn nicht rum, Andrej, sagte Marie. „und Jon, leg endlich die Schnecke weg. Da ist schon dick Schimmel drauf. Du verbringst einen halben Tag auf dem Klo, wenn du das isst."

    Augenzeugenbericht Niklas Möllenbeck, Kinderagent

    Endlich ertönte ein fröhlicher Glockenton und kündigte an, dass das Ziel der Reise erreicht war. Ich trat durch die Tür in einen hell erleuchteten Gang, der sich rechts und links von mir erstreckte. Es war als fiele von irgendwo Sonnenlicht herein, doch das musste eine Täuschung sein, denn die Sonne konnte so tief unter der Erde nicht scheinen. Links schien der Gang fast endlos weiter zu gehen, rechts endete er nach etwa zehn Metern vor einer Wand. Türen waren rechts und links zusehen. Manche standen offen, manche waren geschlossen. Aus den offenen Türen fiel Sonnenlicht auf den grauen Marmorboden. Stimmen waren aus den offenen Türen zu hören, Lachen und Streiten. Eine junge Frau, den Arm voller Papiere, kam aus einer dieser Türen heraus, lächelte mich an und lief an mir vorbei, bevor ich mich überhaupt erschrecken konnte. Ich war sprachlos. Sie hatte mich mit Sicherheit gesehen, sonst hätte sie mich nicht angelächelt, aber sie hatte nichts getan. Gar nichts. Ich hätte vermutet, dass sie irgendeinen Sicherheitsdienst rufen würde, aber sie tat es nicht. Ich schöpfte daraus neuen Mut und wandte mich nach rechts, wo am Ende ein große zweiflügelige Tür zu erkennen war. Es kamen mir tatsächlich mehrere Leute entgegen. Ich hielt jedes Mal die Luft an, aber die Leute beachten mich kaum oder grüßten freundlich. Niemand schien zu wissen, dass ich mich verbotener Weise hier aufhielt. 

    Ich stand nun vor der zweiflügligen Glastür. Schon der Anblick durch die Tür war gewaltig. Ich stemmte mich gegen sie und trat vorsichtig ein. 

    Es war eine geradezu gigantische Halle. Geschäftige Menschen hasteten von einem Ende zum anderen. Ich legte den Kopf in den Nacken, doch so sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte die Decke der Halle nicht erspähen. Links von mir war eine lange Holztheke, hinter der ein dutzend junger Frauen und Männer in Uniformen standen und den unzähligen Menschen davor halfen. Über den einzelnen Schaltern befanden sich kleine Schilder, auf denen „Information" stand. Die Schilder schwebten einfach in der Luft. Über den Informationsschaltern befanden sich Galerien über Galerien, von denen weitere Türen abgingen. Direkt vor mir brachten fünf gläserne Aufzüge Menschen auf die einzelnen Etagen. Überall auf den Gängen, den Galerien und auf dem schwarzweiß gefliesten Fußboden der Halle waren Menschen aller Nationen und Hautfarben unterwegs. Die ganze Halle summte wie ein emsiger Bienenstock. Aber all dies war nichts gegen das, was auf meiner Rechten zu sehen war. Die ganze rechte Seite der Halle war ein gewaltiges bleiverglastes Fenster. Riesige Glasscheiben waren zu einem gewaltigen Muster zusammengefügt. Helles Sonnenlicht fiel durch sie in die Halle. Doch das war immer noch nicht das, was mich innehalten ließ und mich schließlich dazu bewegte auf das Fenster zuzugehen und staunend stehen zu bleiben. 

    Der Ausblick war sagenhaft. Eigentlich war er gar nicht in Worte zu fassen. Etwa zehn Meter unter mir lag ein Dorf. Ich sah die mit Reed gedeckten Dächer kleiner Fachwerkhäuser, sah die kleinen Schornsteine und die engen Gassen. Kleine liebevoll gemalte Schilder hingen an den Hauswänden: Bäcker, Schuhmacher, Schmied. Ab und zu sah ich auch mal einen Menschen, aber sie bildeten die Ausnahme in der bunten Schar, die sich auf den Straßen und Plätzen, um Brunnen und Cafes tummelte. Die meisten waren etwas kleiner von Gestalt und deutlich pummeliger. Sie hatten dicke Nasen, Locken und ein durchweg fröhliches Gesicht. Aber es gab auch andere Wesen dort. Große schlanke Gestalten schwebten ab und zu vorbei. Sie schienen von innen zu leuchten und man konnte das Straßenpflaster durch sie hindurch sehen. Ein geradezu lächerlich tiefer Palisadenwall zog sich um das Dorf. Das Tor stand weit offen. Kleine Karren von Eseln oder Ochsen gezogen rumpelte hinein und heraus. Ab und zu konnte man auch einen Reiter sehen, der auf einem hoch gewachsenen Pferd den Weg entlang ritt. Der Weg wand sich in weiten Schlieren die grünen Hügel entlang bis er sich in der Ferne verlor. Rechts sah man so gerade eben noch, wie ein Weg in einen Wald führte und links… links konnte man mit etwas Mühe das Schönste erkennen, das ich je gesehen hatte. Eine Stadt aus in allen Regenbogenfarben leuchtendem, weiß schimmerndem Material. Riesige Türme, gläserne Kuppeln, schimmernde Mauern und glitzernde Zinnen. Auch heute beeindruckt mich dieser Anblick noch. Ich presste die Nase ans Glas, um ganz nah dran zu sein. Die Sonne glitzerte am blauen Himmel.

    „Wenn du noch näher rangehst, fällst du rein!" 

    Ich drehte mich erschrocken um. Vor mir stand eine Frau. Sie lehnte lässig an einer Verstrebung des Fensters. Ein amüsiertes Lächeln umspielte ihre Züge. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug, darunter eine weiße Bluse und um ihren Hals baumelte ein Ausweis.

    Marie Luise Zelot - Chefin der Sicherheit stand darauf. 

    „So, dann bist du wahrscheinlich der Junge, der im Haus sämtliche Alarmanlagen ausgelöst hat." 

    Ich riss die Augen auf. Ich hatte keinen Alarm gehört, niemand hatte mich aufgehalten, ich war vor, ich sah auf die Uhr, fast einer halben Stunde aus der Bahn ausgestiegen, wenn ich wirklich so viele Alarme ausgelöst hatte, warum hatten sie mich nicht schon längst gestellt. Die Frau schien meine Gedanken erraten zu haben, vielleicht hatte sie nur meinen Blick auf die Uhr bemerkt. Sie nickte.

    „Ja, ich bin nur vor Trotteln umgeben. Wenn ich hier nicht alles selbst machen würde, wäre der Laden hier schon längst Geschichte." Sie drehte die Augen zum Himmel und machte eine eindrucksvolle Grimasse. Ich lachte. Sie schien nicht böse zu sein und das

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