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Die Eimannfrau: Roman
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eBook318 Seiten4 Stunden

Die Eimannfrau: Roman

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Über dieses E-Book

Ein ganzes halbes Jahr in der Schweiz.So lange darf ein österreichischer Krimi-Autor in der Villa einer verstorbenen Kunstmäzenin leben und arbeiten.Noch während er zungeringend versucht, sich mit der Sprache und den Bräuchen seines Gastlandes zu arrangieren, stellt sich heraus, dass die legendäre Mäzenin nicht wirklich verstorben ist. Der erträumte
Erholungsurlaub verwandelt sich in die Odyssee seines Lebens.
SpracheDeutsch
HerausgeberMünster Verlag
Erscheinungsdatum1. Apr. 2020
ISBN9783907146835
Die Eimannfrau: Roman

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    Buchvorschau

    Die Eimannfrau - Erich Wimmer

    Wetterchor

    PROLOG

    Gefühlte Paprika

    «Grüezi», sage ich zu dem Taxifahrer, der seinen semmelgelben Mercedes am Straßenrand vor dem Langenthaler Bahnhof geparkt hat. Er lugt durch das halbgeöffnete Fenster und sieht mich skeptisch an. Wie die meisten seiner Berufskollegen ist auch er ein erfahrener Psychologe und wittert, dass er mit mir kein Geschäft machen wird. Ich fühle mich wie ein Aktienkurs im freien Fall.

    «Können Sie mir bitte sagen», frage ich ihn durch den Fensterspalt, «wohin ich gehen muss, um zur Villa von Frau Lydia Eymann zu kommen?»

    Statt zu antworten nimmt er mich verschärft ins Visier. Mir imponiert das. Es gibt nicht mehr viele Menschen im gehetzten Mitteleuropa, die sich wortlose Nachdenkpausen gönnen. Ein berühmter Anthropologe hat sogar die Besonderheit unserer Spezies damit begründet, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier fähig ist, zwischen Reiz und Reaktion innezuhalten. Er nannte diesen Moment Hiatus. Mit seinem Hiatus erinnert mich der Taxifahrer daran, zu welcher tollen Gattung von Lebewesen wir beide gehören.

    «Nein», sagt er plötzlich.

    «Was? Wieso können Sie mir das nicht sagen?»

    «Weil ich es nicht weiß.»

    «Aha.»

    Die Worte der Stiftungs-Sekretärin kommen mir in den Sinn: Fragen Sie einen Taxifahrer. Der wird Ihnen sagen, wo Sie hinmüssen.

    «Aarwangenstraße 55», versuche ich es mit der Adresse. «Dort steht die besagte Villa. Können Sie damit etwas anfangen?»

    Der Fahrer sieht mich leidgeprüft an und holt so vorwurfsvoll Luft, als hätte er heute gar nicht mehr vorgehabt zu atmen.

    «Stadtauswärts», ringt er sich zu einer geographischen Einschätzung durch, die er sogar mit einer kleinen Geste unterstützt: Mit seinem linken Daumen zeigt er über seine linke Schulter. Würde man der von ihm angedeuteten Geraden mit einer Trägerrakete folgen, flöge man bald durch die Umlaufbahn der Venus.

    «Also diese Richtung», fasse ich seine Äußerungen zusammen und deute ebenfalls ins erweiterte Universum.

    «Ja», bestätigt er, «einfach die nächste große Straße links und dann immer geradeaus, Richtung Aarwangen.»

    «Ich bedanke mich», sage ich und mache eine kleine Verbeugung. Je ausgeprägter der fremde Unmut, desto größer meine Demut. Eine der Formeln, die mein Leben bestimmen, seit es vor knapp fünfzig Jahren begonnen hat.

    «Neun Uhr und dreizehn Minuten», lese ich leise auf der Bahnhofsuhr. Seit ich in der Schweiz bin, hat sich die Frequenz meiner Selbstgespräche deutlich erhöht. Mein Vorsprech-Termin in der Villa beginnt um Punkt elf. Genug Zeit, um vorher noch das Bahnhofsrestaurant zu besuchen.

    «Toast Hawaii … 18 Franken», buchstabiere ich. Beim Eingang hat jemand die Speisen mit weißer Kreide auf eine schwarze Tafel geschrieben. Das sind über zweihundert alte österreichische Schillinge für zwei dünn gefüllte Toastscheiben und einen matschigen Ananaskringel.

    Der Reserveschamane in mir beschwört gerne verloren gegangene Referenzrahmen. In meinem fernen Heimatland zaubert der Klang des Wortes Schilling gleichaltrigen oder älteren Menschen ein mitfühlendes Lächeln ins Gesicht. Jüngere dagegen erschrecken oft und fragen sich zumeist vergeblich, in welchem Abschnitt der Steinzeit sie diesen Begriff verorten sollen.

    «Gefüllte Paprika», lese ich in der zweiten Zeile unter dem Toast. Als ich mir sicher bin, dass mich niemand beobachtet, auch nicht die umtriebige Kellnerin, fahre ich meine Fingerspitze aus, tippe auf den Kreidestaub und mache aus dem ersten der beiden l ein h. Hoffentlich wird das einer der nächsten Gäste wahrnehmen und die Kellnerin danach fragen, wie man sich das vorstellen soll, Gefühlte Paprika.

    «Uf Wiedrluegä», sage ich halblaut zu niemand Bestimmtem. Uf Wiedrluegä und Grüezi auszusprechen, fühlt sich einfach authentisch an. Essen werde ich doch nichts. Ich bin viel zu nervös. Vor lauter Zittern würden mir neun von zehn Reiskörnern von der Gabel fallen. Mein Hinterkopf denkt ununterbrochen an die Bedeutung der bevorstehenden Befragung.

    «Dann such die Villa», sage ich mir, «statt hier weiter herumzustehen und Taxifahrern und Kellnerinnen auf die Nerven zu gehen.»

    Am Ende des Bahnsteigs führt eine steile Betontreppe durch einen schmalen Schacht in eine Unterführung. Schon bevor ich den tiefsten Punkt erreiche, beunruhigt mich das Aufheulen der Autos. Vorsicht, sage ich mir, als ich auf den Fußgängerstreifen hinaustrete, der erstaunlich schmal ist. Würde man die Hand ausstrecken, könnte man die vorbeirauschenden Fahrzeuge tätscheln, vorausgesetzt, man hätte ihnen vorher zugewunken und sie dazu bewogen, ihre Geschwindigkeit zu drosseln. Manchmal tätschle ich parkende Autos, die mit laufendem Motor herumstehen, um sie zu beruhigen. Dabei stehe ich vor dem Dilemma, dass sich die als Besänftigung gemeinte Geste dem Fahrzeugbetreiber nicht immer als solche mitteilt.

    Die Steinwände der Unterführung sind nackt. Was mich wundert. In Österreich stünde ich garantiert vor einem fünf Meter großen, berühmten Skifahrer, der grausam grinsen und versuchen würde, mich mit einem schrill verpackten Müsliriegel zu füttern. Wäre ich von der Lautstärke der Fahrzeuge nicht so irritiert, könnte ich hier sogar die Poesie der Leere genießen, auf die mich vor Jahren eine Wiener Verlegerin bei einer Buchmesse hingewiesen hat. Zuvor hatte ich sie gefragt, warum in ihren Gedichtbänden nur ein oder zwei Sätze pro Seite stünden und sonst nichts.

    «Haben Sie noch nie etwas von der Poesie der Leere gehört?», fragte sie zurück.

    «Ja», sagte ich, «aber die kann sich doch nur entfalten, wenn sie nichts kostet. Wer Leere verkauft, macht sie zur Ware. Und Ware hat eher eine Funktion als einen Zauber. Bezahlte Liebe ist ja auch kein poetisches Großereignis.»

    Die traurig schönen Steinwände haben dieses Fragment meiner Vergangenheit wahrscheinlich nicht umsonst an die Oberfläche meiner Wahrnehmung gespült. Womöglich möchte mir mein Unterbewusstsein vor Augen führen, welche Gesprächsfiguren ich beim bevorstehenden Auswahlverfahren eher vermeiden sollte.

    Von der Talsohle der Unterführung führt der schräg ansteigende Fußgängerstreifen zu einem Kreisverkehr, an dessen Rand ich stehen bleibe und versuche, die gröbsten Eindrücke zu sortieren.

    «Ein Backenzahn in Menschengröße», beschreibe ich mir die Skulptur, die auf der schräg gegenüberliegenden Seite des Betonrings aus einem schmalen Grünstreifen ragt. Der Zahn ist aus Plastik, weiß und grün bemalt und gibt mir zu verstehen, womit die Menschen beschäftigt sind, die in dem modernen, länglichen Gebäude dahinter arbeiten.

    Direkt gegenüber befindet sich ein umzäunter Garten und darin ein großes, altes Haus. Nachdem ich die Straße überquert habe, bleibe ich vor dem Eingangsbereich stehen und suche vergeblich nach einer Hausnummer.

    «Macht nichts», murmle ich. Dieses Haus, denke ich weiter, kann nicht die Villa von Frau Eymann sein. Sein Aussehen steht in einem krassen Widerspruch zu meiner Vorstellung von seinem Aussehen. Nach einem letzten Blick über den Gartenzaun sage ich mir noch: Das Haus, das du suchst, hat kein Dach das so tief in seine Fassade hängt wie eine Winterhaube bei minus zwanzig Grad. Wo sollen hier ein Kindergarten, eine Stipendiatenwohnung, eine legendäre Bibliothek und ein ganzes Geschoß für eine vierköpfige Haushälterfamilie Platz haben?

    Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass Kindergärten in der Schweiz einen familiären Charakter haben, oft in Privathäusern untergebracht sind und selten von mehr als zehn bis fünfzehn Kindern besucht werden. Außerdem bin ich jetzt noch nervöser geworden und wie immer in solchen Momenten Opfer meines Selbstwertmangels, der einen seiner ganz großen Auftritte hat und mich gnadenlos weiterscheucht zu einem imaginären anderen Haus, das auf jeden Fall heller, leuchtender, einladender und vor allem moderner sein muss.

    Nach einer kleinen Wanderung entlang der Hauptstraße erreiche ich einen Coiffeur-Salon. Der einzige im Moment aktive Coiffeur, ein junger, schwarzhaariger Bursche, hört sofort auf sich um seinen Kunden zu kümmern und starrt mich durch das Schaufenster an. Das Wort Coiffeur, besonders wenn es in leuchtenden Großbuchstaben über einem Geschäftseingang prangt, erinnert mich immer an Worte, die mit Koi- anfangen. Koi-Karpfen zum Beispiel, oder Koinzidenz. Der Coiffeur, sein Kunde und ein paar andere junge Männer, die alle noch auf ihre frisürliche Behandlung warten, fixieren mich durch das Glasquadrat des Studios, als hätten mich soeben ein paar Klingonen mit ihrem Ufo direkt vor ihren Augen abgesetzt. Notgedrungen starre ich zurück. Dabei fällt mir auf, dass alle mit der gleichen Frisur gesegnet sind. Kleinfingerlange, steil in den Himmel ragende Haare, grauschwarzglänzend wie verkohlte Fichtenstämme nach einem Waldbrand, dessen Einzugsgebiet teilweise von kahlen Schneisen durchzogen ist. In einer Vision sehe ich auf diesen Schneisen Lastautos fahren, die das gefällte Holz der Haarwaldbesitzer ebenso abtransportierten wie die verschmorten Bruchstücke ihrer bereits geschleuderten Gedankenblitze.

    «Grüezi!», rufe ich auch hier frisch und zuversichtlich direkt in die durch die Glasspiegelungen etwas verschleierten Gesichter und versuche, die wechselseitige Schrecksekunde mit einem netten Zunicken zu entschärfen. Auf ihre Weise sind das bestimmt freundliche Burschen. Aber meine Erscheinung im Allgemeinen und meine Haare im Besonderen bringen sie bis ganz an den Rand ihres Fassungsvermögens. Deshalb trete ich von meinem Plan zurück, auch sie nach der Villa zu fragen. Das stumme Entsetzen der Männer hat mein volles Verständnis. Im krassen Gegensatz zu ihren Haaren sehen meine aus wie zwei flachsbraune Gästepantoffeln, von denen der kleine, verkümmerte seitlich und der größere zentral auf meinem Kopf kleben, als hätte man sie dort mit besonders zäher Lamaspucke fixiert. So ein Anblick will erst einmal verarbeitet sein. Außerdem offenbart mein Seitenscheitel wortlos die Wertigkeit, die Haarmode für mich hat und die ungefähr auf einer Ebene mit einer Darmspiegelung angesiedelt ist. Die Idee, Haare als fulminanten Auftakt zu einer persönlichen Symphonie zu inszenieren, ist aus meinen beiden Bälgen mit einer Intensität verschwunden, welche die Jungs mit einer bis auf die Straße heraus spürbaren Beklemmung erfüllt.

    Der nächste Mensch, dem ich ein paar dutzend Meter weiter begegne, ist eine Frau, die in einem Wohnwagen lebt, an dessen Dachvorsprung sie altes Papier zum Trocknen aufgehängt hat. Jedenfalls kommt es mir aus der Entfernung so vor. Erst als ich näher herantrete, erkenne ich, dass es sich bei dem Papier um Zeitungen handelt, die gar nicht alt sind und auch nicht getrocknet, sondern gekauft werden können. Vor mir befindet sich ein fahrbarer Zeitungs- und Tabakkiosk. Laut grüßend wende ich mich an die kraterartige Verkaufsnische, in der die Händlerin verschwunden ist wie eine Robbe in einem Eisloch beim Auftauchen eines Eisbären.

    «Entschuldigung. Könnten Sie mir bitte sagen, wo sich die Villa von Frau Lydia Eymann befindet? Laut meinem Plan müsste sie hier irgendwo in der Gegend sein.»

    Zuerst passiert gar nichts. Dann erhebt sich eine Stimme aus dem diffusen Halbdunkel zwischen den Zeitschriften und Zigarettenpackungen.

    «Da sind Sie schon vorbeigegangen. Sie müssen wieder zurückgehen. Das Haus, das Sie suchen, liegt direkt am Kreisverkehr.»

    «Meinen Sie etwa das alte Haus mit dem himmelhohen Dach?»

    «Ja, genau, das ist es.»

    «Sind Sie sicher?»

    Das Gesicht der Frau taucht zum ersten Mal so aus der Nische, dass ich es erkennen kann. Sie lächelt buddhamild wie der blinde Meister Po, wenn seinem Schüler Kwai Chang Caine, den er nicht umsonst Grünschnabel nennt, eine besonders infantile Frage gelungen war.

    «Ich bin absolut sicher. Schließlich bin ich hier aufgewachsen und kenne meine Nachbarschaft.»

    «Das bezweifle ich nicht», sage ich, «aber wissen Sie, ich habe mir das Haus total anders vorgestellt.»

    «Was wollen Sie denn dort?»

    Ja, das frage ich mich auch. Mittlerweile bin ich so gesättigt mit Hoffnungslosigkeit, dass ich den Sinn meiner Bemühungen nicht mehr erkennen kann.

    «Ich habe einen Vorsprechtermin», weihe ich die Kiosk-Frau in die näheren Umstände meiner Nahzukunft ein.

    «Ah, ich verstehe. Dann sind Sie also einer von den Kandidaten.»

    «Genau.»

    «Da wünsch ich Ihnen aber viel Glück.»

    «Herzlichen Dank. Das kann ich brauchen.»

    Schatztaucher

    «Mich besitzt noch kein Handy», verkünde ich vor dem Gremium und bereue es sofort. Um den Preis einer halblustigen Bemerkung habe ich sieben ehrwürdigen Schweizern indirekt erklärt, dass sie im Gegensatz zu mir alle am Gängelband ihrer Mobiltelefone hängen.

    «Wäre das ein Problem?», füge ich verlegen an.

    Niemand antwortet. Alle blicken hinüber zum Präsidenten der Stiftung. Er sitzt am Ende des langen Tisches, rückt seinen Oberkörper zurecht und atmet tief ein. Warum hört er gar nicht mehr auf, Luft zu holen? War meine Frage wirklich so betrüblich, dass er jetzt besonders viel Sauerstoff braucht? Oder ist er in seiner Freizeit Apnoe-Taucher, der hier für einen Abstieg in den Zürcher See trainiert, um sagenhafte Schätze zu bergen?

    «Nicht unbedingt», versichert er uns.

    Immerhin schmunzeln zwei der vier anwesenden Frauen über meinen Handyspruch. Besonders die Sekretärin scheint ehrlich amüsiert. Ihre Lächler perlen wie Sektbläschen durch die angespannte Sphäre des Hearings. Vor zwei Wochen hat sie mich in Österreich angerufen und über den Ablauf des Auswahlverfahrens informiert. Und heute, gleich nach meiner Ankunft in der Villa, überreichte sie mir wortlos den Fahrtkostenzuschuss. Das neutrale Kuvert steckt jetzt in der Innentasche meines Sakkos und fühlt sich an wie ein Trostpflaster für diejenigen Kandidaten, die sich mit ihrem vorlauten Mundwerk um die Chance ihres Lebens reden.

    «Kehren wir doch die Befragung einmal um», schlägt der Kassier vor. Um Punkt Elf, zu Beginn der Sitzung vor etwa einer halben Stunde, wurden mir alle Stiftungsräte vorgestellt. Ihre Namen konnte ich mir nicht merken. Nur ihre Funktionen habe ich halbwegs im Gedächtnis behalten. Es gibt einen Präsidenten, eine Sekretärin, einen Kassier und die einfachen Mitglieder des Rates: die Direktorin eines Gymnasiums, einen vergleichsweise jungen Stiftungsrat, eine ernste ältere Dame sowie eine sehr ernste ältere Dame. Ihr Blick ist gerade noch nicht grimmig, aber auf eine unheimliche Weise objektiv. Wenn sie mich ansieht, wird mir sofort klar: Hier und jetzt zählt Leistung – mit einer spontanen Gegenübertragung brauche ich nicht zu rechnen.

    Der Kassier verschränkt seine Finger und schiebt sie wie einen kleinen Pflug Richtung Tischmitte. Das edle Holz fungiert als geheime Energieladestation. Durch die Reibung strömt den Reibern neue Kraft in die Venen. Auch die anderen Ratsmitglieder berühren die fein geschliffene Platte mit ihren Fingern und Unterarmen. Nur ich hocke im Respektabstand neben der Kante und starre auf die Mahagonihochebene wie eine Möwe, die übers offene Meer fliegt und überlegt, was mit ihr passiert, sollte sie vorübergehend auf dem großen Frachtschiff landen.

    «Was würden Sie gerne von uns wissen? Haben Sie Fragen zur Wohnung? Oder zum Umfeld der Lydia-Eymann-Stiftung?»

    Vor lauter Ehrfurcht vertrocknet mir der Gaumenzapfen. Ich bin schon froh, dass ich es überhaupt bis hierher geschafft habe. Aber die Aussicht eines der am höchsten dotierten Literatur-Stipendien im deutschen Sprachraum tatsächlich zu bekommen, übersteigt den Horizont meiner Hoffnung.

    Außerdem bin ich immer befangen, wenn ein Bär theoretisch zerlegt wird. Natürlich kann ich ihn praktisch schon riechen. Aber das können die anderen Jäger auch. Ich bin nur einer von vier Schreiberlingen, die man persönlich in die Schweiz eingeladen hat. Zuvor haben die Stiftungsräte jeweils zwanzig bis dreißig Textseiten von ungefähr fünfzig Bewerbern gelesen. Aber nur einer von uns wird hier einziehen. Dass ich dieser Auserwählte sein könnte, erscheint mir aussichtslos.

    «Darf der Stipendiat», frage ich, «ab und zu Freunde in die Wohnung einladen?»

    «Wie viele Freunde?», fragt die Direktorin.

    «Sieben», höre ich mich sagen.

    Der Kassier stutzt.

    «Wieso wissen Sie das so genau?»

    Ja, das frage ich mich auch. Wie komme ich auf diese Zahl? Sieben ist eine archaische, eine magische Zahl, hoch aufgeladen mit Todsünden, glorreichen Helden und unbedingt zu begehenden Brücken. Sieben ist aber auch ein panischer Reflex der Hirnregionen, der, wie so vieles an mir, entwicklungspsychologisch noch im Pleistozän hängt. Vermutlich hätte ich gerne eine verlässliche Horde aus sieben Freunden. Manchmal trenne ich in Gedanken die Spreu vom Weizen, also die Bekannten von den Freunden, und komme dann auf Zahlen, die schwanken, je nach den Kriterien, die ich anlege, die aber immer von meiner Stimmung abhängen. In gütigen Momenten nehme ich auch die neuen Lebensgefährten meiner Freunde als Freunde dazu. Aber wenn ich mir ganz ehrlich bin, und diese Momente gibt es, je älter ich werde, umso öfter, dann bleibt nicht viel übrig. Die Menschen, die mir wirklich nahe sind, bringen immer wieder einmal Menschen in meinen Lebenskreis, die mir wenig bis gar nicht nahe sind. Das zu erkennen, dauert nicht lange. Um es mir einzugestehen, brauche ich länger. Bis ich es endlich ausspreche, vergehen mitunter viele, zermürbende Jahre.

    «Haben Ihre sieben Freunde auch keine Handys?», durchbricht der jüngste Stiftungsrat mein hilfloses Schweigen. Betonungsmäßig hat er sich auf das Wörtchen sieben geworfen wie ein Rockstar in die ausgestreckten Arme eines frenetischen Publikums.

    «Nein», gestehe ich, «sie haben alle Smartphones. Und spätestens wenn die letzte österreichische Telefonzelle eingestampft sein wird, werde ich mir ein Smartphone kaufen müssen. Es ist leider nur eine Frage der Zeit, bis auch ich dem größten Gott huldigen werde, den diese Menschheit je angebetet hat. Aber ich fürchte diesen Moment. Ich fürchte mich davor, keine Wahl mehr zu haben und hineingestoßen zu werden in die gnadenlose Dichte seines allumfassenden ‹Liebesnetzes›.»

    Niemand reagiert, aber alle scheinen zu überlegen, was die Anführungszeichen bedeuten, die ich mit meinen Zeige- und Mittelfingern rund um das Wort «Liebesnetz» in die Luft gezeichnet habe. Genau vor solchen Momenten wollte mich mein Unterbewusstsein schon in der Unterführung warnen. Auf Menschen, die mich nicht kennen, können meine bombastischen Metaphern zweifellos zynisch wirken. Dabei ist mein Zynismus nur eine Patina auf einer Verzweiflung, die sich meiner Hilflosigkeit gegenüber den großen Umwälzungen verdankt, die unser Leben täglich schwieriger machen, obwohl sie genau das Gegenteil behaupten und vorgeben uns zu dienen.

    Die Juroren bemühen sich, mich nicht ständig anzusehen. Andererseits müssen sie mich ansehen. Sie brauchen ein Bild von mir. Sie müssen mich mit den anderen Kandidaten vergleichen.

    «In der Wohnung», nimmt der Präsident das Wort wieder an sich, «gibt es ein altes Festnetztelefon und einen Internetanschluss.»

    «Festnetztelefone finde ich wunderbar», lobe ich die alten Bakelitklumpen. In Wahrheit gilt das Lob dem Präsidenten. Indem er die Atmosphäre versachlicht, hilft er mir, die Wogen meiner immer wiederkehrenden Nervosität zu glätten. Hinter mir liegen acht Stunden Zugsfahrt, während der ich mich auf diese Gesprächsrunde vorbereitet habe. Ich las Biographien berühmter Schweizer Schriftsteller und weiß jetzt, dass Friedrich Dürrenmatt gerne Würste gegessen hat. Außerdem hätte er seine großartigen Krimis niemals freiwillig geschrieben. Ihre Entstehung verdankt sich dem nachdrücklichen Befehl seiner Frau. Setz dich hin und schreib endlich einmal etwas, das Geld bringt!

    Bis jetzt konnte ich dieses Spezialwissen nur teilweise verwerten. Mit ihren würdevoll hochgezogenen Schultern erinnern mich die Stiftungsräte an lebensgroße Pokerkarten. Schweizer Asse und Könige, die geduldig auf den besten Zeitpunkt warten, um sich auszuspielen. Sie tragen überwiegend dunkle, unaufdringliche, aber elegant und teuer wirkende Kleidungsstücke. Hier kostet eine einzelne Socke mehr als mein gesamtes Outfit. Der jüngste Stiftungsrat dürfte um die Vierzig sein. Die sechs anderen befinden sich altersmäßig schon in der der zweiten Halbzeit.

    «Warum finden Sie Festnetztelefone wunderbar?», bohrt die strenge Rätin nach.

    «Weil Festnetztelefone ihre Benützer nicht ständig verfolgen.»

    «Und Sie meinen», bleibt sie am Ball, «wenn ich Sie richtig verstehe, dass Handys die Menschen verfolgen?»

    «Ja.»

    «Aber bei einem Verkehrsunfall rettet der schnelle Handy-Anruf mitunter Menschenleben», erklärt der jüngste Stiftungsrat.

    «Das ist zweifellos ein immenser Vorteil», gestehe ich. «Das Mobiltelefon kann äußerst hilfreich sein. Andererseits beunruhigt mich das Ausmaß der Entzauberung, die von ihm ausgeht. Rilke sagt: ‹Ich will immer warnen und wehren, bleibt fern, die Dinge singen hör ich so gern.› In meiner Wahrnehmung zerstört das Handy genau diese befreiende Distanz zu den Dingen. Es verflechtet seine Benutzer mit einer flirrenden Oberfläche, in der die unterschiedlichsten Bedeutungen gleichgeschaltet werden und die Achtsamkeit für das Besondere verloren geht. Ich aber brauche nichts so dringend wie meine Achtsamkeit. Sie ist mein Seismograph, mit dem ich Freunde und besondere Momente erkennen kann. Außerdem hilft sie mir Fettnäpfe zu entdecken, sodass ich wenigstens nur in jeden zweiten steige.»

    «Warum steigen Sie überhaupt hinein, wenn Sie den Fettnapf doch schon entdeckt haben?», will die sehr strenge Rätin wissen.

    «Weil ich ein typischer Nachkriegs-Österreicher bin. Und dieser Typus kauft Abfangjäger, von denen er intuitiv weiß, dass sie schrottreif sind. Das ist aber nur der erste Teil des Selbstbetrugs. Der typische Österreicher meiner Generation spürt nämlich auch, dass die großartigen Gegengeschäfte, die man ihm vor dem Kauf verspricht, sich nach dem Kauf als Luftschlösser entpuppen werden. Dennoch kauft er. Er würde sogar dann noch kaufen, wenn er sich die Teile selbst zusammenbauen müsste, obwohl er keine Ahnung hat vom Flugzeugbau.»

    «Warum tut er das?», erweitert die sehr strenge Rätin ihre Frage.

    «Weil ihm erfolgreich suggeriert wurde und wird, dass er die Kriegsschuld seiner Mütter und Väter noch immer zu tilgen hat. Dafür muss er bis in eine unabsehbare Zukunft hinein bezahlen. Mit schlechtem Gewissen, Demut, Duckmäuserei und viel, viel Geld. Auch und gerade dann, wenn er ganz offensichtlich übervorteilt wird.»

    «Wer suggeriert den Österreichern ihre Schuld?», kreist die Sekretärin weiter um dieses Thema.

    «Der Zeitgeist», antworte ich.

    «Und dieser Zeitgeist», nimmt die Direktorin das Hegelwort auf, «hat auch Ihnen persönlich suggeriert, dass Sie in jeden zweiten Fettnapf zu steigen haben?»

    «Ja», gebe ich zu, «für einen Österreicher ist das gar keine schlechte Quote. Dass ich überhaupt schreibe ist ja schon der Inbegriff von Feigheit. Eigentlich wollte ich Maler werden. Aber mein Vater, der ein Kriegs-Österreicher war und selbst gemalt hat, hat mich aus diesem Terrain verdrängt. Und gehorsam wie ich war, habe ich mich auch verdrängen lassen.»

    «Wie hat er Sie denn verdrängt?», fordert der Kassier eine Präzisierung.

    «Er hat mir alle Bilder und

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