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Autolyse Wien: Erzählungen vom Ende
Autolyse Wien: Erzählungen vom Ende
Autolyse Wien: Erzählungen vom Ende
eBook178 Seiten2 Stunden

Autolyse Wien: Erzählungen vom Ende

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Über dieses E-Book

Wien? Verloren. Wodurch und warum, ist einerlei. Nicht die Katastrophe an sich ist von Interesse, nicht die Ursachen, die dazu führten, dass Wien zur Ruine geworden ist, zur in sich verschobenen, versetzten Stadt. Der Fokus dieser kurzen bis längeren Erzählungen liegt auf dem, was sich zwischen den Trümmern noch regt. Direkt nach jener Nacht, aber auch Tage, Wochen und Monate später.
Wie geht es denen, die nicht umgekommen sind, wie überleben sie? Die Stimmungen und Momentaufnahmen erzählen von Misstrauen, Angst und Fatalität, aber auch von Hoffnung, Erinnerung, von einer Neuausrichtung. Die vieles bedeuten kann, eben auch die Hinwendung zum Sterben. Was macht die Umkehrung aus uns, wenn das Kaputte die Norm wird und das Ganze zur Ausnahme? Wenn die Bilder, die man aus alten Wochenschaufilmen oder aktueller Kriegsberichterstattung kennt, zur eigenen Heimat werden?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum16. Okt. 2017
ISBN9783701362530
Autolyse Wien: Erzählungen vom Ende

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    Buchvorschau

    Autolyse Wien - Karin Peschka

    Karin Peschka

    Autolyse Wien

    Erzählungen vom Ende

    Für Taha. Für mich.

    Die Arbeit an diesem Buch wurde unterstützt durch das

    Adalbert Stifter Stipendium des Landes Oberösterreich.

    www.omvs.at

    ISBN 978-3-7013-1253-5

    eISBN 978-3-7013-6253-0

    © 2017 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

    Alle Rechte vorbehalten

    Satz: Media Design: Rizner.at

    Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o.,

    69123-Pohořelice, Tschechien

    Grafische Gestaltung: Taha Alkadhi,

    basierend auf Originalen von Oskar Stocker

    INHALT

    Einer, ohne

    Malik, Alisia

    Erich

    Olja

    Rose

    Kathy, Björn

    Ferenc, sein Vater, seine Mutter

    Imre, Tyson, Goliath

    Sugar

    Vier Brüder

    Gerrit

    Ivelina

    Margot

    Kapitän

    Die Gläubigen

    Karl

    Elfi, Kurt

    Kito, Ober, Madame

    Dora

    Hildegard von

    Jojo, Britt

    Anna

    Gregor, Erol

    Familie

    Mannschaft

    Körper

    Sebastian

    Rosario

    Frau Widehopf

    Zwei Mütter, ein Kind

    Gertrude

    ICH

    ICH I

    ICH II

    ICH III

    ICH IV

    ICH V

    ICH VI

    ICH VII

    WIENER KINDL

    WIENER KINDL I

    WIENER KINDL II

    WIENER KINDL III

    EINER, OHNE

    Wien? Ohne Wien. Ein Mann, die zerstörte Straße entlanggehend, dabei die Namen jener Nobelmarken memorierend, deren Flagshipstores sich hier zwei Wochen zuvor noch mit exklusiv leeren Auslagen gebrüstet hatten. Dieser Mann trug nicht einmal einen Namen. Er war nichts. Kein Niemand, kein Jemand, keine Zuschreibung passte.

    Er war ins Goldene Quartier gezogen, Ecke Graben und Kohlmarkt, fand Unterschlupf in einem der Luxusläden, die Gläser Splitterkathedrahlen, die messingfarbenen, weitmaschigen Sicherheitsgitter verbogen. Ein Stecken genügte, um sich Zutritt zu verschaffen. Drinnen: Sitzgarnituren aus Leder, im hinteren, nur für das Personal zugänglichen Raum gab es Trinkbares, Mineralwasser aus Frankreich, Champagner und Crémant rosé. Der Mann räumte auf. Ware war aus den Regalen gefallen, den weißen, schlichten Schaufensterpuppen – ohne Gesicht, nur Angedeutetes gab es hier – war der Pelz von den Schultern auf den Boden geglitten, zwei hatten sich im Sturz die Arme gebrochen, eine den Kopf verloren. Der Mann packte die Gefallenen in die linke der beiden mit je einer Chaiselongue ausgestatteten Umkleidekabinen. Die rechte diente ihm als Schlafraum, ein Nerz als Decke, ein Zobel als Polster.

    Das Haus mit dem noblen Geschäft im Erdgeschoss, darüber Kanzleien, Privatordinationen und eine alte Frau, die hier ihre Wohnung tatsächlich noch bewohnte, dieses Haus bot ihm Zuflucht in der postkatastrophalen Zeit. Es hatte seinen Stuck abgeworfen und das Dach zum Großteil verloren. In den oberen Stockwerken waren viele Fenster ohne Rahmen und nur mehr grobe Löcher im Mauerwerk, dieses schwarz verrußt.

    Der Mann überlegte, ob es klug wäre, hier zu bleiben. Überlegte und saß dabei im Schatten verborgen, so dass er wohl hinaussah, aber kaum jemand ihn von außen entdecken würde. Saß in einen siebenfach dichten Kaschmirschal gewickelt, trug Männerhosen, deren unteres Bein sich schafteng an die Unterschenkel schmiegte. Der Oberschenkelstoff hingegen war ein wenig gerafft, der Zwickel mittig zwanzig Zentimeter über dem Knie.

    Saß, umwickelt, die Beine in modischen Hosen, die Füße in bunten Schuhen, die passende Größe hatte der Mann, wie alles andere, im Lager gefunden, dort auch einen Pullover aus hellgrünem Mohair, eine Art Military-Jacke, nur dass es keine war, sondern aus hauchdünnem Ballonstoff gefertigt, mit dauniger Wattierung und stilisiertem Camouflage-Muster. Auf dem Kopf eine Kappe im Burberry-Stil, weich gewebter, karierter Stoff, doppelt gesteppte Nähte, und eine Brille mit Fensterglasscheiben, aber Horn und breite Bügel. Das dunkle Material ließ die Haut keineswegs bleicher wirken, sondern betonte die Form des Gesichts, und darüber hinaus das Einzigartige, das noch nie so Präsente des Mannes, ohne.

    Ohne Namen, ohne Arbeit, ohne Wohnung war er gewesen. Keine Freundschaften, Familie, Wünsche oder Verpflichtungen, kein Pass, keine Steuernummer. Ohne aufzufallen, ohne anzuecken hatte er gelebt. Sich beim Caritas-Bus seine Mahlzeiten geholt, meistens am Praterstern, um abseits der anderen zu essen, war nie aufgefallen, nie gefragt worden, ob er nicht doch mitmöchte ins Asyl, hatte sogar in den letzten, wirklich kalten Wintern sich lieber in ein Möbelhaus geschlichen, um dort heimlich zu übernachten und am Morgen spurlos zu verschwinden. Hatte sein Leben selbst gezeichnet jahrelang, in freiwilliger Abwendung von dem, was er „das System der Gesellschaft" nannte, wenn er sprach, was selten genug gewesen war, kaum vier Sätze pro Woche. So hätte es weitergehen können, mit dem höchsten Ziel, in Ruhe gelassen zu werden und als Preis dafür den Grad der Unauffälligkeit zu perfektionieren.

    Nach dem Unglück war der Mann in die Innenstadt gewandert, unbemerkt von den wenigen Überlebenden, die an ihm vorbei in die Außenbezirke drängten. Musste nur zur Seite gehen, sich an einen Pfeiler lehnen, war schon Teil der Umgebung, die durch Einsturz und großflächige Zerstörung nichts Individuelles mehr aufwies, oder besser: deren individuelle Merkmale erst erkannt werden mussten. Es gab zwar keinen Stephansdom mehr zur Orientierung, kein Haas-Haus, keine Michaelerkirche, und die Pestsäule auf dem Graben war ebenfalls verschwunden, weil der Graben sich als solcher im eigentlichen Sinn seines Namens definiert hatte. Aber natürlich bot sich einiges an, hob quasi die Hand, schrie: Hier, nimm mich an Stelle der Kirche, der Säule! Die auf eine besonders absurde Art aus einem Bodenspalt ragende und einer alten Gaslampe nachempfundene Straßenlaterne. Mannshoch nur mehr und ein guter Haltegriff beim Schritt über den Spalt. Das lilafarbene Schild eines Modeschmuck und anderen Kitsch verkaufenden Geschäftes, schräg verbogen und auf den Kopf gestellt. Dort musste der Mann links abbiegen, ein Stück weiter hatte die Erdbewegung ein hochpreisiges Elektrofahrrad aus einer Auslage gedrückt und zusammengequetscht. Traurig sah es aus, aber wies den Weg zum Goldenen Quartier, das zum Notquartier des Mannes geworden war. Dann achtete er auf verfaulende Leichenteile unter den vielen Bruchstücken und Scherben eines ehemals mit Hauben ausgezeichneten Restaurants. Er sah genauer hin, weil ihn der Fortschritt der Verwesung interessierte. Den Weg kannte er auch so.

    Der Mann ohne Namen lebte in der Stadt ohne Zukunft, in einem Geschäft ohne Kunden. Manchmal hörte er die dünne Stimme der alten Frau. „Hallo, rief sie, „ist da jemand? Er brauchte nur mit seinem Stecken auf etwas zu klopfen, etwa den metallenen Regenschirmständer, um das Rufen auszulösen. Entweder Friedenszins oder reich, dachte der Mann, der nichts hatte außer sein Nichts, auch keine Eigenarten, keinen bestimmten Charakter. Hinter der Auslage im dunklen Eck sitzend. Sollte er gut sein oder schlecht? Er klopfte, sie rief. Dann war es wieder still von beiden Seiten.

    MALIK, ALISIA

    Wien? Leergeräumt. Ein Tosen oben, ein Dröhnen unten, dazwischen Stille. Zehn Tage und einen halben waren sie unterwegs. „Siehst du den Himmel?" Alisias schöne Hände hinaufzeigend in das graue Dach. Noch immer hat sie schöne Hände, dachte Malik, bald ist nur noch ihr Name schön.

    Sie stiegen über Betonbrocken mit rostiger Bewehrung, herausdrohend aus Bruchstellen, über gestürzte Bäume und krautige Sträucher. Sie kletterten über Wälle aus Schrott, erkannten Automarken, riefen sich zu: „Ein Mercedes! „Ein Kia! „Ein Ford! Wie sehr hatte sich Alisia einen Ford Mustang gewünscht. Weil man sich etwas wünschen soll, das gut klingt, erklärte sie Malik, denn oft genug wiederholt, wird ein Wunsch Teil der Person. Diese Verknüpfung reiche über das Sterben hinaus in den Tod, im besten Fall fragte jemand noch nach Jahrzehnten sein Gegenüber, ob es sich an jene Alisia erinnern könne, die so gerne einen Mustang gehabt hätte. Sie sei vor langer Zeit gestorben. Alisia verstummte. Würde es einen „Jemand noch geben, oder ein „Gegenüber"? Sie und Malik zweifelten daran. Jeder für sich und vorerst im Stillen. So etwas auszusprechen und sich an die Seele zu heften, war etwas ganz anderes und nicht Nichts.

    Auf der Suche nach trittfestem Untergrund stiegen sie in die leeren Trommeln ausrangierter Waschmaschinen. Tasteten sich die Hügel hinunter aus verbogenen Alustühlen und Gastgartentischen, dazwischen ein Grün oder Gelb oder Blau aus einer anderen Welt. „Schneid dich nicht", sagte Malik bei jedem scharfkantigen Ding, das ihren Weg kreuzte, Kreuzschnitte sah er an ihren Händen vorauseilend einer Wirklichkeit, die stattfinden könnte jeden Moment, Schnitte mit Blut, und tropfen würde es und rinnen oder sprudeln, und nichts würden sie haben, um es stoppen zu können.

    In der Nacht hatte Alisia sich gewunden, Regelschmerzen, keine Tampons, keine Binden. Um etwas zu finden, schickte sie Malik fort. „Ich dachte, bei Stress oder Katastrophen bleibt das aus", sagte er und machte sich auf die Suche, die Zusammengekrümmte zurücklassend im Winkel einer sich neigenden Mauer. Das Versteck war gut, man durfte es nicht verraten. In Ecken, Kurven und Umwegen ging Malik, keine Seele war ihnen bislang begegnet, weder Mensch noch Tier, aber man brauchte nichts zu riskieren, man wisse ja nie. Zurückgekommen war er mit einer Tasche voll rosafarbener, dünner Servietten, Kaffeehaus-Servietten, solche, die man in einem Eissalon zum Eis bekam, unzureichend, ein Witz, aber viele hatte er davon gefunden und vier Packungen zu je drei Eiswaffeln und dreiundzwanzig Stück Kaffeeobers in winzigen Portionen.

    Alisia stopfte sich Servietten in die Unterhose, dann saßen sie, ließen die neue Nacht kommen, tropften Obers auf Waffeln und aßen diese sehr langsam, ohne das Mindesthaltbarkeitsdatum zu beachten. Ein Datum machte nur Sinn, wenn es etwas gab, worauf man sich in der Zeit hinbewegen konnte. Wie der achtzehnte Geburtstag oder Weihnachten.

    ERICH

    Wien? Wo? Gab viele Wände, die man anbrüllen konnte, viele, und alle gehörten Erich, der sich halbnackt in dem herumtrieb, was früher eine Heimat gewesen war, zur Zerstörung freigegeben, wiewohl schon halb, fast oder ganz zerstört. Die Reste, das Widerborstige niederzubrüllen war der Auftrag, weswegen sonst hatte sich die Geschlossene geöffnet. Vor wann, vor wie langer Zeit? Aus einem Spalt war Erich gestiegen im blauen Pyjama, hatte dem Wärter, dem Aufseher, nein, wie hieß das? Dem Pfleger, hatte dem Pfleger den Schädel nicht eindrücken müssen, der lag ohnehin zerquetscht unter Balken und Steinen, und ein anderer schrie hinter dem Netzbett eingeklemmt, hatte sich bös’ verletzt, schrie: „Erich, hilf mir, Erich, komm, hilf!" Erich hörte es bis in die von seinen Händen verschlossenen Ohren hinein. Wippte. Vor. Zurück. Wippte. Vor. Zurück. Suchte sich etwas zusammen im Hirn und ging dann, stieg dann doch noch einmal hinein durch den Spalt, half dem anderen, bis er nicht mehr schrie.

    Nur Erich durfte wild und laut durch das ziehen, was früher ein Ort gewesen war, den er kannte. Der ihn gekannt hatte. Der sich in Hauseingänge zurückzog, trat Erich auf. Der die Fenster schloss, die Türen absperrte, der den Vierteltelefonanschluss der Eltern anwählte oder dann doch gleich die Polizeistation oder dann doch gleich die Rettung, je größer und stärker er wurde, im Körper, im Kopf, im Denken, in der Kraft. Die sich nur bändigen ließ mit Einheiten von diesem Mittel und Einheiten von jenem, „wehren Sie sich nicht, Herr Erich, gebändigt von Pflegern, niedergehalten von ledernen Gurten, „zu Ihrem Besten, Herr Erich, die Spritze in die Armbeuge gesetzt oder grob hineingestoßen, wo immer es ging, war er zu schnell, zu unfassbar gewesen.

    Aus dem Dämmerzustand hatte ihn das Unglück geborsten, das Wiegen (vor, zurück, vor, zurück) ließ nach an der freien Luft, den Mund konnte er wieder schließen, den Speichel schlucken, er stand im Regen, der rostig war und lau, aber Regen war es und frei war er auch. So sein Denken, so sein Wesen.

    Brüllend zog er durch das, was früher hätte ein Heim sein können. Schlug und trat gegen alles, was sich schlagen und treten ließ. Fand und aß, fand und trank, einmal eine Kiste Rotwein in einem Kellerloch, wäre fast sein Tod gewesen, hatte sich fast ins Koma gesoffen und lag danach vier Tage bewegungslos, bevor er weiterzog, etwas leiser, hungrig, nach wie vor voller Wut.

    Einmal nur. Einmal nur. Stand er zögernd geschlagene zwei Stunden still. Wütete es in ihm, das Für, das Wider, das innere Abwägen, ob er das Ding in der Hand hinein schleudern

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