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Bonn Underground
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eBook277 Seiten3 Stunden

Bonn Underground

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Über dieses E-Book

Eine mysteriöse Postkarte in den Wohnungen zweier getöteter Frauen bringt die beiden Kommissare Margot Lukas und Fabian Faust auf die Spur eines kaltblütigen Mörders. Dieser scheint es auf alleinstehende Frauen abgesehen zu haben.
Während Margot Lukas durch einen Undercover-Einsatz versucht, den Täter einzukreisen, versetzt ein anderes Ereignis Bonn in Angst: Der Braunbär eines durchreisenden Zirkus ist aus seinem Käfig entflohen und in den Ennertwald geflüchtet. Polizei und Feuerwehr versuchen ihn einzufangen, ehe unvorsichtige YouTuber mit dem Raubtier Bekanntschaft machen.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Lempertz
Erscheinungsdatum22. Dez. 2021
ISBN9783960584346
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    Buchvorschau

    Bonn Underground - Ditmar Doerner

    Prolog

    Das Geplapper des Tagesthemen-Moderators ist laut, aber trotzdem hört sie das Aufgleiten der Türen des Fahrstuhls im Etagenflur, ohne es allerdings bewusst wahrzunehmen. Der Aufzug wandert so gut wie jeden Tag bis spät in der Nacht zwischen dem ersten und ihrem Stock, dem sechsten, auf und ab. Zwei ihrer Wohnungsnachbarn besitzen die nervende Angewohnheit, fast jeden Abend sehr spät heimzukommen. Oder sehr früh, wie man’s nimmt. Zurück von Freunden, von einer Kneipentour, vielleicht von der Schichtarbeit. Annie Welder weiß es nicht genau, ihr Kontakt mit den Wohnungsnachbarn beschränkt sich auf ein hastig gelächeltes „Hallo" im dunklen Flur oder einer verlegenen Begegnung im Aufzug.

    Nun aber schreckt sie doch hoch. An ihrer Tür hat es geklingelt. O Gott!, ist ihr erster Gedanke, während ihre Augen weiter den Bewegungen des smarten Schlacks im Fernsehen folgen. Prüfend schaut sie an sich herunter, als ob sie sichergehen wolle, dass sie nicht gerade zufällig nackt ist. Dabei trägt sie immer noch ihre besten Sachen: Den knielangen braunen Rock, die helle Bluse, und sogar die neuen Schuhe hat sie noch nicht abgestreift. Und das, obwohl sie sonst immer sehr pingelig ist und jeden ihrer (seltenen) Besucher bittet, sie an der Eingangstür neben der Welcome-Strohmatte auszuziehen. Heute hat sie tatsächlich ein wenig über die Stränge geschlagen und selbst die Schuhe anbehalten. Vielleicht, weil sie immer noch so voller Glück ist, so ungläubig, dass auch ihr etwas so Wunderbares und Schönes passieren kann.

    In der Ferne sind die Fenster im Steigenberger auf dem Petersberg hell erleuchtet. Erst vergangene Woche war sie dort gewesen, ein wenig spazieren, nachdenken, Ruhe finden. Hinaufgefahren ist sie allerdings mit dem Auto, der zwei Kilometer lange Anstieg zu Fuß ist ihr dann doch zu mühselig erschienen.

    Vielleicht macht sie demnächst wieder mehr für ihre Fitness. Vielleicht ein Abo in der Sportfabrik? Alles ist möglich. Jetzt zumindest.

    Erneut klingelt es, diesmal länger, fordernder, ungeduldiger. Wahrscheinlich möchte ihr jemand gratulieren. Allerdings wüsste sie jetzt nicht auf Anhieb, wer das sein könnte. Besuch? So spät? Sie fährt sich mit der Hand durch die Haare, steht weiter unschlüssig mitten im Wohnzimmer, den Blick immer noch Richtung Siebengebirge.

    Besuch? Aber … warum nicht? Zu zweit trinken macht sicherlich mehr Spaß. Sie betrachtet das Sektglas auf dem niedrigen, quadratischen Wohnzimmertischchen. Sorgsam auf der Fernsehzeitschrift abgestellt, damit das Glas keine Ränder auf der kleinen, runden Holzplatte hinterlässt. Nur noch vereinzelte Sektperlen trudeln an die Oberfläche. Kein Wunder, den Crémant hat sie seit einer halben Stunde nicht mehr angerührt, kaum daran genippt, obwohl sie es sich fest vorgenommen hatte. Alkohol war nie ihres gewesen, schon zu Jugendzeiten nicht. Auf Klassenfeten, Geburtstagen, später bei Firmenfeiern, immer war sie die Nüchterne, diejenige, die die Kollegen und Kolleginnen nach Hause gefahren hat. Zuerst auf dem Fahrrad, später mit dem Auto. Die liebe Annie, die harmlose Annie, die nüchterne Annie. Hinter ihrem Rücken auch die verlachte Annie. Auch heute, mit 53, fühlt sie sich häufig noch so.

    In der Dunkelheit zieht ein Flugzeug über den Himmel, ist jetzt genau über dem Petersberg. Eine Frachtmaschine? Eine dieser FedEx-Riesen, die jeden Tag in Köln/Bonn starten und landen? Oder ein Touristenbomber? Voll gepresst mit gestressten, bleichhäutigen Büromenschen, die nach einer Woche Sonne gieren, nach blauem Meer und endlosen Buffets. Wo es wohl hingeht für die dort oben? Bali? Thailand? Oder – deutlich näher – Fuerteventura? Urlaub! Kein schlechter Gedanke. Wie gesagt: Alles ist möglich. Alles ist möglich jetzt!

    Ein Blick auf den Fernseher verrät ihr, dass irgendwo auf der Welt wieder einmal die Erde gebebt hat. Asien? Südamerika? Irgendwo, wo die Menschen braun sind, schwarz fast, auch wenn man das heute nicht mehr sagen darf. Sie findet das übertrieben. Was soll das? Sie ist eine Weiße, na und? Das ist nun einmal so. Dadurch ist sie nicht besser und nicht schlechter als jemand mit brauner Hautfarbe. Oder schwarzer. Entscheidend ist, was im Kopf ist, hat ihre Mutter immer gesagt. Und das stimmt.

    Bevor sie die Wohnungstür öffnet, stellt sie in der engen, schlauchartigen Küche den Schalter am Herd auf eine kleinere Stufe. Das Öl in der Pfanne soll langsam heiß werden und nicht anbrennen. Sonst bekommt sie es nicht herunter, unmöglich. Dann könnte sie auch glühende Lava schlucken. Jeden Abend trinkt sie ein Schnapsgläschen der hellgrünen Flüssigkeit. Als Medizin. Sie schwört darauf, seit sie gelesen hat, Olivenöl senke den Cholesterinspiegel. Eigentlich ein Männerleiden, aber vor einem halben Jahr ist ihrer Hausärztin bei einer routinemäßigen Blutuntersuchung ihr hoher Wert aufgefallen. Nicht weltbewegend hoch, 140 :100, aber Dr. Skorapka hat ihr dennoch zu Tabletten geraten. Was Annie verweigerte.

    Keine Medikamente! Wenn möglich, sollte man so lange wie irgend möglich auf Chemikalien im Körper verzichten, hatte sie ihrer Ärztin mitgeteilt. Die ließ das ausgestellte Rezept, begleitend von einem ein wenig unecht wirkenden Nicken in ihrem Papierkorb unter dem Mahagonischreibtisch verschwinden.

    Der Flur ist dunkel. Sie muss achtgeben auf den großen, dunkelblauen Läufer, den sie über den grauen Teppich gelegt hat. Er wellt sich an einer Ecke, und vor zwei Monaten, als Annie einmal in besonderer Eile war, um ein seit langem erwartetes Paket entgegenzunehmen (ein selbst zusammengestelltes Fotoalbum ihres ein halbes Jahr zuvor verstorbenen Katers Michel), ist sie darüber gestolpert. Gerade noch hatte sie sich an der Wand abfangen können, sonst wäre sie möglicherweise mit dem Kopf gegen die Kante des Schuhschranks gefallen. Wer weiß, was sie sich hätte brechen können! Und die Eile hatte sich noch nicht einmal gelohnt, weil vor ihrer Wohnungstür nur der Hausmeister wartete, um ihr wieder einmal zu sagen, dass sie ihr Fahrrad nicht an der Laterne direkt gegenüber der Haustür festmachen dürfe.

    Sie schließt ein Auge und blinzelt durch das runde Fischauge in der Wohnungstür. Annie erkennt einen dunklen Mantel, dann ein bekanntes Gesicht, das ihr keck entgegenlächelt. Wie nett!, denkt sie freudig, gleichzeitig dreht sie den Schlüssel im Schloss und drückt die Türklinke hinunter. Mit dir hätte ich jetzt wirklich nicht gerechnet.

    Die Gestalt lächelt sie an, gekünstelt, was Annie im schummrigen Flurlicht aber nicht wahrnimmt. Das Lächeln ist wie ein Zähnefletschen, breit und verbissen. Die Person im Flur flüstert ein paar falsche Worte, das Wispern hallt durch den leeren, langen Flur. Getuschel fast, das an Kinderstimmen erinnert, die an Heiligabend aufgeregt auf das Christkind warten.

    Annie tritt etwas beiseite, bittet die Gestalt herein und knipst gleichzeitig das Licht im Flur an.

    Wie schön, so spät noch Besuch!, denkt sie wieder. Krönender Abschluss eines wunderschönen Tages! Annie wendet sich Richtung Wohnzimmer: Aufgeräumt ist ja! Aus der Küche wird sie noch ein Sektglas holen, zur Feier des Tages.

    Sie hört das Klacken des zugehenden Schlosses der Wohnungstür, Schritte hinter ihr. Langsam geht sie vorwärts. Vielleicht sollte sie noch ein paar Kanapees herrichten? Irgendwo müssen noch Cracker sein, dazu etwas Frischkäse. Weintrauben liegen im Kühlschrank.

    Aber zuerst einmal den Besuch ins Wohnzimmer bitten.

    Mit einem Mal bleibt sie stehen. Etwas stimmt nicht. Etwas macht ihr … Angst? Ungläubig schaut sie auf ihren rechten Arm: Die kleinen Härchen haben sich aufgestellt, aufgeplustert wie bei einem Vogel im Winter. Oder liegt es an der Kälte, die vom offenen Hausflur in die Wohnung geströmt ist?

    „Was …?", beginnt sie den letzten Satz ihres Lebens, da spürt sie unterhalb ihres linken Schulterblattes plötzlich ein unerträglich starkes Brennen, heiß und scharf. Sie atmet stöhnend aus, verkrampft sich, röchelt, versucht sich umzudrehen, als sie einen dunklen, kupferartigen Geschmack im Mund bemerkt. Sie verschluckt sich, hustet, Blutblasen platzen auf ihren Lippen. Ungläubig starrt sie auf Dutzende winzige dunkle Tropfen an der Wand. Wie dunkelrote Sterne in einem weißen Universum.

    Hat sie die … da … gerade …? Nein!, denkt sie, das kann nicht sein!

    Schwindel überkommt sie. Noch nicht wegen des Blutverlustes – es ist die Panik, die sie ergreift. Ihre Hand sucht den Türrahmen zum Wohnzimmer, aber sie rutscht ab und hinterlässt eine blutige Spur auf dem weißen Kunststoff. Einen klaren Gedanken kann sie nun nicht mehr fassen. Alle ihre Instinkte sind darauf ausgerichtet, am Leben zu bleiben. Sie schaut an sich herunter. Ungläubig betrachtet sie in Brusthöhe eine merkwürdige Erhebung unter ihrer Bluse. Die Stofffarbe verändert sich, denkt sie ungläubig, wird dunkler. Gleichzeitig spürt sie eine Flüssigkeit (Blut?) ihre Bauchdecke herablaufen. Dann verschwindet die Erhebung plötzlich, gleichzeitig wieder dieser brennende Schmerz. Die Bluse wird nun viel schneller viel dunkler.

    Sie presst ihre Hand auf die Wunde, aber zwischen ihren Fingern pulsiert das Blut weiter aus ihrem Körper. Sie fühlt sich schwach. Allmählich werden ihre Bewegungen ruhiger und sie beginnt, zusammenzusacken.

    Die Gestalt hinter ihr tritt bedächtig zurück, würdevoll fast, als sei es dem Geschehen angemessen, drei, vier Schritte. Sie beobachtet Annie, deren Hand sich nun von ihrem Bauch löst. Annie sinkt auf den Teppich und gleitet dabei so anmutig auf ihre linke Seite, wie sie das lebendig nie erreicht hätte: Das rechte Bein perfekt angewinkelt, die Arme ausgestreckt, den Kopf seitlich gelegt. Sie stirbt.

    Die Gestalt an der Wohnungstür nähert sich ihr nun erneut, beugt sich herab zu ihr, betrachtet sie zehn, fünfzehn Sekunden. Lächelt erneut, nur diesmal nicht zähnefletschend, sondern erfreut. Hastet dann zurück zur Wohnungstür und blinzelt durch den kleinen Spion, genau wie Annie vor nicht einmal zwei Minuten. Der Hausflur liegt bereits wieder im Dunkeln, das Deckenlicht ist aus, der Aufzug nicht zu hören. Alles in Ordnung.

    Ohne noch einmal auf die tote Annie zu schauen, betritt die Gestalt das kleine Badezimmer. Nur wenige Cremes und Tuben liegen auf dem Bord unter dem mittlerweile schon etwas matten Spiegel über dem Waschbecken. Dazu Zahnseide, Deo, ein Parfüm. Gründlich wäscht sich die Gestalt Hände und Gesicht. Wasser und Blut vermischen sich in den unterschiedlichsten Farben im Becken und verschwinden im Abfluss.

    Durch den weißen Schein der Badezimmerlampe wirkt die Gestalt im Spiegel müde und blass, aber das täuscht. Sie ist hellwach. Und erstaunt, wie einfach alles gewesen ist. So einfach! Mit den nassen Händen streicht sie sich eine Strähne aus der Stirn. Und lächelt. So einfach.

    Mit Toilettenpapier säubert sie das Waschbecken, schrubbt es gründlich, mehrere Minuten lang. Danach spült sie das Papier die Toilette hinunter, mit einem weiteren Stückchen Papier drückt sie den Abzug. Das Papierchen steckt sie in eine ihrer Taschen.

    Ein letztes Mal betrachtet sich die Gestalt im Spiegel. Nichts hat sich verändert. Es ist alles dasselbe, natürlich. Keine große Sache, wirklich nicht.

    Dann macht sich die Gestalt auf die Suche. Nach zehn Minuten ist sie fündig geworden. Sie verlässt die Wohnung.

    In der kleinen Küche von Annie Welder beginnt das Öl in der Pfanne zu brennen.

    Kapitel 1

    Der Weg durch die Kälte, vom Parkhaus bis zum Terminal 1, macht mich endgültig wach. Es riecht nach Schnee, denke ich und lächle, weil ich mir einen Augenblick wie Fräulein Smilla vorkomme. Die Nachtluft zieht kalt in meine Lunge, der kondensierte Atem zeigt mir, dass die Temperatur in den vergangenen 24 Stunden tatsächlich um mehr als zehn Grad gesunken ist, wie es die Meteorologen vorhergesagt haben. Verwunderlich.

    Meine Schritte hallen auf dem dunklen, fleckigen Betonboden wider und werden von den hunderten Autos, an denen ich entlanghaste, zurückgeworfen. Unzählige Deckenleuchten lassen die meist dunklen Limousinen teuer und neu erscheinen. Mitten in diesem riesigen stählernen Kubus frage ich mich: Wo ist der verdammte Ausgang? Und seit wann besitzen Parkhäuser diese unverwechselbare Ähnlichkeit mit riesigen Legebatterien?

    Dort! Ich haste auf den gläsernen Aufzug zu, versuche die Kälte daran zu hindern, unter meine Jacke zu kriechen, und ziehe mein peinliches Rollwägelchen hinter mir her. Eine schwarz glänzende Kunststoffbox auf winzigen Rollen, die bei der kleinsten Unebenheit des Betonbodens blockieren. Ungeduldig ziehe ich an dem Mistding, als müsste ich einen unwilligen Esel den Drachenfels hinaufschleifen.

    Um nicht mit einer dieser Businessfrauen verwechselt zu werden, trage ich meine älteste Jeans, ein verwaschenes Sweatshirt, das irgendwann in den 2000ern einmal rot gewesen sein muss, und ein paar Converse-Turnschuhe. Und natürlich meine Winterjacke. Die habe ich mir gestern noch schnell in der Bonner Innenstadt gekauft. Leider, ohne sie vorher anzuprobieren. Gegenüber der jungen blonden Verkäuferin, die mich misstrauisch beäugte und gleichzeitig versuchte, ihren Kaugummi zu vergewaltigen, habe ich so getan, als würde ich mindestens einmal im Monat Jacken kaufen. Jetzt frage ich mich, seit wann es diese Dinger ohne jegliches Wärmepolster gibt? Schon jetzt spüre ich, wie mein Rücken langsam zu Eis wird. Und meine Nieren. Meine Oma ermahnte mich früher immer, auf meine Nieren aufzupassen. „Pass auf, dass du dir nicht die Nieren verkühlst!", rief sie mir auch hinterher, wenn ich im Sommer auf dem Weg ins Freibad war. Bei 30 Grad Celsius.

    Der Aufzug gleitet fast lautlos nach unten. In den Ecken vergammeln Zigarettenstummel. Es riecht nach Urin und kaltem Rauch. Plattgetretene Kaugummis haben den Boden in ein stümperhaftes Mosaik verwandelt. Der Blick in die Glasscheibe zeigt eine große, dunkelhaarige Frau in den Vierzigern, die dringend Urlaub braucht. Mich.

    Vor der riesigen Parkhaus-Legebatterie legt der kalte schneidende Wind noch einmal zu. Ich drücke meinen Kopf stärker in den kaum vorhandenen Kragen meiner Jacke. Ein echter Fehlkauf! Drei Meter entfernt schimpft ein älterer Mann mit Strohhut (!) auf seine Frau ein, weil sie das Parkticket, das sie während des Urlaubs aufbewahren sollte, nicht sofort findet.

    Ich bin versucht, ihm zu raten, sich zu entspannen, lasse es dann aber doch. Ich habe mir vorgenommen, meinen Urlaub in dem Augenblick beginnen zu lassen, in dem ich die Wohnungstür hinter mir zugezogen habe. Das ist jetzt eine gute halbe Stunde her, also befinde ich mich definitiv im Entspannungsmodus.

    Der Blick der Frau trifft meinen, und ein millisekundenlanges Verstehen lässt uns beide kurz zu Verbündeten werden. Dann hält sie, gelassen lächelnd, ihrem immer noch keifenden Ehegatten das Ticket entgegen.

    Ich atme tief durch, sauge die kalte Luft ein, als machte ich mich bereit für einen Tauchgang ohne Sauerstoffmaske.

    Erst einmal weg hier, denke ich, und ziehe fröstelnd mein lächerliches Köfferchen Richtung Abflughalle.

    *

    Auch jetzt noch friere ich, während ich in der Flughafenbar auf meinen Espresso warte. Bestellt habe ich ihn bei dem wortkargen Mann im weißen Hemd hinter dem Tresen. Wegen seiner schmalen Schultern und dem ziegenähnlichen Gesicht erinnert er mich an einen der beiden Killer aus Fargo. An denjenigen, der am Ende im Häcksler endet.

    In der Spiegelwand hinter ihm erkenne ich mein müdes Gesicht und versuche, milde mit mir zu sein. Wie soll eine Frau mittleren Alters, ungeschminkt und unausgeschlafen, um diese Zeit schon aussehen? Wie Grace Kelly? Jacqueline Bisset?

    Ich versuche, meine Frisur zu bändigen, zupfe hier die dunklen Strähnen zurecht, streiche sie dort zur Seite und versuche vergeblich, die müden Augen mit den dunklen Rändern darunter zu ignorieren. Schön war ich nie, vielleicht hübsch, aber … ist das wichtig … jetzt?

    Daniel findet, ich sehe blendend aus. Zumindest hat er mir das gestern zum Abschied gesagt. Aber er hat dabei gelacht – ein Lachen, das ich nicht deuten konnte. Meine Augen sind hübsch, denke ich, dunkel und tief. Und jeder, der etwas anderes denkt oder sagt, ist im Unrecht.

    Ich warte darauf, endlich durch die Passkontrolle zu kommen. Der Flug geht in zwei Stunden, das dauert noch. Ungefähr ein Dutzend anderer Verbindungen steht vor meinem Abflug auf der riesigen Anzeigetafel, die mitten im Terminal irgendwie fehl am Platz wirkt. Eine rechteckige Monstrosität auf zwei Stelzen.

    Trotzdem, ich mag unseren Flughafen. Er ist nicht so groß, dass man sich langfristig verlaufen könnte, aber auch nicht so provinziell, dass man an jeder Ecke einem Bekannten begegnet.

    Natürlich bin ich zu früh, aber das ist mir lieber, als nach Ende der Check-in-Frist mit der Bundespolizei endlose Diskussionen führen zu müssen, um meinen Flieger überhaupt noch zu erreichen. Das ist mir einmal auf dem Weg nach Kreta passiert. Am Ende des Disputs mit den beiden Zollbeamten hätte ich wahrscheinlich meine Dienstwaffe gezückt und in die Luft geschossen, wenn ich sie dabeigehabt hätte.

    Damit an dieser Stelle keine Fragen aufkommen: Mein Name ist Margot Lukas, Kriminalhauptkommissarin im Polizeipräsidium Bonn, in den Vierzigern, wie bereits gesagt, und wieder einmal, nach einem anstrengenden Jahr mit viel Arbeit und wenig Schlaf, todmüde und ausgelaugt. Und endlich auf dem Weg in den Urlaub!

    „Spa total" auf Fuerteventura, was immer das heißen mag. Wahrscheinlich werde ich die einzige Giraffe unter Antilopen sein, womit ich sagen möchte, dass ich mir bis vor Kurzem nicht hätte vorstellen können, einen Pauschalurlaub zu buchen. Aber nun bin ich müde und möchte einfach nur verwöhnt werden.

    Fabian Faust, mein Kollege und Partner im PP Bonn, hatte die Idee für meine Auszeit. Nur relaxen, essen, trinken, schlafen. Vielleicht noch ein wenig lesen, wer weiß. Fabians Idee war deswegen so wunderbar, weil ich in Erwartung der anstehenden Karnevalstage wohl besonders niedergeschlagen gewirkt habe. Mir liegt diese fünfte Jahreszeit, wie sie heißt, einfach nicht, sie widerspricht meinem Naturell. Ich gehe lieber auf Abstand, vor allem an Tagen, an denen es jedem angetrunkenen 80-Jährigen erlaubt ist, mir seine Zunge ins Ohr oder sonst wohin zu stecken.

    Mein Blick fällt auf die Headline des „Express" auf dem Hocker neben mir. Irgendjemand hat die Zeitung liegen gelassen. Vielleicht ein Geschäftsreisender auf dem Weg nach Berlin oder ein Familienvater, der seiner dreijährigen Tochter hinterher eilen musste, bevor sie am Ende mit vielen Unbekannten nach Bangkok eincheckte.

    Belustigt lese ich die Schlagzeile: „Papst entlässt Vertrauten!" Wer das wohl gewesen sein mag, dieser Vertraute?, frage ich mich. Jesus?

    Ich greife mir die Zeitung. Ein langjähriger und enger Vertrauter des Papstes soll Geld unterschlagen haben (Das ist eine Schlagzeile wert?, frage ich mich verwundert). Vom Geld, das Hungernden in Afrika zugutekommen sollte, hat der Papstvertraute im Namen des Vatikans für mehrere hundert Millionen Euro eine Luxusimmobilie in London gekauft.

    Etwas angewidert werfe ich die Zeitung zurück auf den Hocker. Vielleicht sollten wir endlich den Vatikan stürmen, denke ich, Gott würde es uns danken.

    Wobei man dem Vatikan ja immerhin eine gewisse Daseinsberechtigung zubilligen muss. Im Gegensatz zur „Gorch Fock" oder der Bonner BaFin.

    Die Lounge-Bar mitten im Terminal fügt sich mit ihren diversen Grautönen nahtlos in das nächtliche Dunkel der gesamten Abflughalle. Sogar der Lederimitat-Bezug des Hockers, auf dem ich sitze, wirkt traurig grau. Von draußen versucht noch mehr Schwärze zu uns zu dringen, die Morgendämmerung ist noch Stunden entfernt.

    Der Killer aus Fargo schubst mir ein winziges weißes Tässchen, halb gefüllt mit einer kakaoähnlichen Flüssigkeit, über den Tresen. Ich schaue ratlos in die braune Brühe und hoffe, dass sie sich noch verfärbt – und sei es nur aus lauter Scham, ein so schlecht aussehender Espresso zu sein. Aber schwärzer wird sie nicht. Oder öliger. Oder sogar beides. Nichts passiert. Betont ausdruckslos betrachte ich den Kellner.

    Die Margot der vergangenen Tage hätte augenblicklich losgepoltert, hätte den Mann sarkastisch darüber informiert, dass sie nicht bereit sei, die Kaffeefilterreste des vergangenen Tages hinunterzuwürgen. Sie hätte den Pächter der Bar,

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