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Jonny Appleseed
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eBook261 Seiten3 Stunden

Jonny Appleseed

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Über dieses E-Book

Two-Spirit, queer und "NDN Glitzerfee" – das ist Jonny Appleseed. Der Angehörige des Volkes der Oji-Cree hat das Reservat verlassen und schlägt sich in Winnipeg als Sexarbeiter durch. Viele seiner weißen Kunden sind vom Indianer-Mythos fasziniert und glauben, er könne wie ein Naturgeist seine Gestalt wechseln. Jonny liebt die Freiheit, die ihm die Großstadt bietet, und bleibt doch ganz und gar verwurzelt in den Traditionen seines Volkes und seiner Familie.
Als er vom Tod seines Stiefvaters erfährt, bleibt ihm eine Woche, bis er zu dessen Beerdigung ins Reservat zurückkehren muss. Während er mit Online-Sex das Geld für die Reise verdient, führen ihn seine Gedanken, Träume und Erinnerungen immer wieder zurück in die Vergangenheit: zu seinem Erwachsenwerden im Reservat, seiner großen Liebe Tias und zu seiner geliebten Mutter und Großmutter, deren Weisheiten ihm stets Halt im Leben geben.
Joshua Whiteheads Debütroman ist ein bahnbrechendes Buch, das in einer mitreißenden Sprache und berührenden Traumbildern vom Leben eines indigenen, queeren Two-Spirit zwischen Akzeptanz und Ablehnung, zwischen Rebellion und Tradition erzählt.
SpracheDeutsch
HerausgeberAlbino Verlag
Erscheinungsdatum1. März 2020
ISBN9783863003036
Jonny Appleseed
Autor

Joshua Whitehead

Joshua Whitehead est un poète et romancier indigiqueer bispirituel autochtone du Canada. Membre oji-cri/nehiyaw de la Première Nation manitobaine de Peguis, il est l’auteur du recueil de poésie Full-Metal Indigiqueer, publié en 2017. En 2016, Whitehead a reçu le Prix d’histoire du Gouverneur général en arts et récits autochtones. Son roman Jonny Appleseed, publié en anglais au printemps 2018 a retenu l’attention de la critique dès sa parution, il a reçu le prix Georges Bugnet et le Lambda Literary Award. Il a également été finaliste au Prix du Gouverneur General, au Amazon Canada First Novel Award, au Carol Shields Winnipeg Book Award, au Winnipeg Book Award, au Alberta Literary Award, sur la longue liste pour le Scotiabank Giller Price et il est considéré comme l’un des 100 meilleurs titres du Globe and Mail.

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    Buchvorschau

    Jonny Appleseed - Joshua Whitehead

    cree-sprache

    1

    Mit acht wurde mir klar, dass ich schwul bin. Ich blieb spätabends auf, wenn alle anderen schon im Bett waren, und sah mir im Fernsehen meiner Kokum Queer as Folk an. Sie hatte eine Satellitenschüssel und alle Sender, die man so empfangen konnte – natürlich ohne zu bezahlen. Damals wohnten meine Mom und ich bei meiner Kokum, weil mein Dad uns sitzengelassen hatte – ich glaube, er nahm einen Songtext von Loretta Lynn etwas zu wörtlich und kam eines Tages von einer Sauftour einfach nicht mehr nach Hause. Queer as Folk lief um Mitternacht; ich schaltete den Ton aus und die Untertitel an, damit keiner was hörte, und dämpfte die Helligkeit, damit das Licht nicht unter ihren Türen hindurchflackerte wie ein gottverdammter Poltergeist. Ich liebte QAF; ich wollte auch einer dieser schwulen Männer sein und ein tolles Leben in Pittsburgh führen. Ich wollte in einem Loft wohnen, in Schwulenbars gehen, mit süßen Typen tanzen und auf Klappen herummachen. Ich wollte in einem Comicladen oder an einer Universität arbeiten und reich und sexy sein. Das wollte ich. Ich holte mir auf Brian Kinneys Schwanz einen runter und stellte bei Justin Taylors blankem weißem Arsch auf Pause, um zu kommen. Damit die braungeblümte Couch meiner Kokum sauber blieb, brachte ich meine Decke mit und wischte mich mit einem Strumpf ab. Ich hielt immer den Atem an und verkrampfte meine Zehen, um beim Kommen nicht zu keuchen. Als ich dann kam, dachte ich, so muss sich Schönheit anfühlen: meine Haut gespannt und brennend, mein Körper feucht wie Schlamm.

    Als ich älter wurde, ich glaube, ich war 15, sah ich Dan Savage und Terry Miller im Internet, die mir sagten, dass es besser wird. Sie behaupteten, sie wüssten, was ich durchmache, sie würden mich kennen. Wie das, fragte ich mich. Ihr kennt mich nicht. Ihr kennt Latte Macchiato und Eigentumswohnungen – ihr habt keinen Schimmer, was es heißt, ein brauner schwuler Junge im Reservat zu sein. Ich hatte damals noch nicht mal eine Starbucks-Filiale gesehen und keine Ahnung, warum man einen kleinen Kaffee dort ‹groß› nennt. Das war ungefähr zur selben Zeit, als ich anfing, Freier anzuziehen wie das Licht die Motten, was wenigstens meine finanzielle Situation verbesserte. Das war natürlich vor der Zeit der Apps, mit denen man Fotos austauschen kann, und der Webcam-Sites, mit denen ich mittlerweile meinem Geschäft nachgehe, aber auch damals war das Internet voller Leute, die mit anderen Leuten Kontakt suchten, und das galt vor allem für Peguis. Wir hielten uns mithilfe von Facebook und Handys auf dem Laufenden. Im Chatroom der Gaming-Seite Pogo schickten wir uns gegenseitig schmutzige Textnachrichten. Ich nannte mich Lucia und gab mich als Mädchen aus, um mit anderen Jungs zu flirten. Oft spielten wir Online-Billard oder Dame und plauderten nebenher. Ich gab mich naiv und lenkte das Gespräch auf schmutzige Themen; dabei vermittelte ich ihnen gern das Gefühl, dass sie am längeren Hebel saßen. In dieser Hinsicht bin ich wohl ein bisschen sadistisch. Ich bin vielleicht die sexuelle Fantasie, aber ich bin auch derjenige, der die Fäden in der Hand hat. Hatten die Jungs erst mal Bilder von nackten, verschwitzten Leibern im Kopf, gab es kein Zurück mehr. Sex stellt verrückte Sachen mit Menschen an – es ist wie ein Blackout oder wie Autopilot. Der Körper weiß, was er will, und er nimmt es sich. Das kann gefährlich werden, wie ich später noch herausfinden sollte, aber wer diesen Trieb manipulieren kann, kann eine Person kontrollieren. Ich fühlte mich wie Professor X – wie ein Telepath.

    Auf diese Weise begann meine Webcam-Karriere: mit Online-Billard und Cybersex. Auf diese Weise lernte ich Tias kennen. Er war mein erster fester Cyber-Freund – ich war die russische Prinzessin Lucia, und er war der indigene Junge, der sich fünf Jahre älter machte, als er war, und davon träumte, seine Unschuld zu verlieren.

    Was waren wir doch für ein Paar!

    Damals war ich noch ungeoutet, aber in der Schule war allen klar, dass ich anders war. Man nannte mich Schwuchtel, Homo, Tunte – die ganzen netten Sachen eben. Aber ich machte mir nichts draus. Manchmal merkte ich, dass sowohl Mädchen als auch Jungs verstohlen meinen Körper betrachteten. Ich war unter hundert verschiedenen Namen bekannt. Außerhalb meiner Familie nannte niemand mich Jonny; alle nannten mich den ‹Schluckspecht›. Wer mich in der Zeit zwischen meinem zwölften Lebensjahr und heute kannte, kennt mich wahrscheinlich unter diesem Namen. Ein Schulfreund verpasste mir den Spitznamen, als ich beim Dosenstechen eine Bierbüchse in unter acht Sekunden leertrank; das ist anscheinend Weltrekord für NDNs*. Später spann ich den Spitznamen weiter und nannte mich nach verschiedenen Spechtarten: Ich war Buntspecht, Hüpfspecht, Zwergspecht, WH (als Kurzform von Wendehals); manchmal, vor allem, wenn meine Mom mir von einem Ausflug in die Stadt ein neues Shirt mitgebracht hatte, nannte ich mich auch Woody Woodpecker – weil ich mir so richtig schick vorkam.

    Meinen wirklichen Namen Jonny habe ich nie gemocht. Ich wurde nach meinem Dad benannt, einem Schulabbrecher, Alkoholiker und Möchtegern-Countrystar. Ich hörte nie wieder von ihm, nachdem er uns sitzengelassen hatte. Irgendwann fanden wir heraus, dass er bei einem Brand in einem anderen Reservat umgekommen war. Mir macht das nichts aus, aber die Leute vergessen sowas nicht. Wildfremde Menschen fragen mich: «Ach, du bist doch der Sohn von Soundso, dem Säufer?» Am peinlichsten war jedoch eine Szene in einem christlichen Zeltlager, Camp Arnes. Ein Erzieher namens Stephen ließ uns vorm Essen immer ein Lied singen. Es hieß ‹Johnny Appleseed› und ging so:

    Oh, der Herr ist gut zu mir,

    deshalb danke ich dem Herrn,

    was ich brauche, gibt er mir,

    Vater, Mutter, Sonne, Liebe.

    Oh, der Herr ist gut zu mir, Johnny Appleseed, Amen.*

    Klingt toll, was? Nun, in diesem Zeltlager knutschte ich mit meinem ersten Lover Louis – ein Silberfuchs, der wie Stephen als Erzieher im Zeltlager arbeitete –, und als wir gerade in meiner Koje (im Quartier der Rotfüchse) herummachten, erwischte uns einer seiner Kollegen. Es stellte sich heraus, dass Louis eine Freundin im Iglu-Quartier hatte, und als man uns ertappte, regte er sich furchtbar auf und behauptete, ich wäre ihm nachgestiegen. Ein paar Stunden später wusste das ganze Zeltlager von der Sache, und alle fingen an, mich Jonny Rottenseed zu nennen. Siehe da, beim Gebet vorm Essen schloss niemand mehr die Augen oder senkte das Haupt, nein, alle starrten sie mich an und flüsterten miteinander, Ekel und Angst auf den Gesichtern. Offenbar kann ein NDN schon im zarten Alter von zehn Jahren ein schwuler Sexualstraftäter sein. Und was sollte das Ganze überhaupt? Darf ein Junge keine sexuellen Bedürfnisse haben? Ist es wirklich ein Verbrechen, wenn ich meinen Körper selbst berühren und von anderen berühren lassen will? Es ist ja schließlich mein Körper, klaro?

    Zurück im Reservat stellte ich in unserer schäbigen kleinen Behelfsbibliothek Nachforschungen über meinen Namensvetter an. Dort gab es kein integriertes Bibliothekssystem; die Bücher lagen einfach auf drei großen Haufen: Haufen A (das Weltall), Haufen B (Peguis-Fischereijahrbücher) und Haufen C (alles Mögliche). Das machte es mir nicht gerade einfach. Es stellte sich heraus, dass Johnny Appleseed ein amerikanischer Volksheld war, der dadurch berühmt wurde, dass er in West-Virginia Apfelbäume pflanzte. Ich begriff nicht, wieso wir im Zeltlager ein Lied über ihn sangen – ich hätte lieber was über Louis Riel, Häuptling Peguis oder Buffy St. Marie erfahren, statt einen Weißen zu ehren, der im amerikanischen Grenzland mit Apfelkernen um sich schmiss. Allem Anschein nach war er eine Art moralischer Märtyrer, der Jungfrau geblieben war, weil man ihm zwei Frauen im Himmel versprochen hatte. Ach, und ein Tierfreund war er auch; ich las, wie er ein Pferd rettete, indem er es mit Grashalmen fütterte, ganz im Geist von Walt Whitman. Ich verwette mein linkes Ei darauf, dass er auch ein Sklavenhalter war und seine Apfelbäume auf indianischem Gebiet pflanzte. Eins weiß ich jedenfalls: Im Reservat sind Äpfel sauteuer, und in meinen Augen waren sie nun etwas Negatives.

    Mein Stiefvater Roger nannte mich einen Apfel, als ich ihm mitteilte, dass ich das Reservat verlassen will.

    «Du bist außen rot», sagte er, «und innen weiß.»

    * Das Sternchen verweist auf Erläuterungen im Glossar am Ende des Buches.

    2

    Als ich das Reservat verließ und nach Winnipeg zog, nutzte ich Grindr und Rez Fox, um Freunde zu finden – großzügige Freunde natürlich. Meine Wohnung war strahlend weiß – weiße Lampen, Wände, Decken, selbst die Toilette war weiß. Unsere Kloschüssel im Reservat war so alt, dass sie mokkafarben war, und der Deckel, der in meiner Kindheit zu Bruch gegangen war, wurde erst durch den meines Cousins ersetzt, nachdem er bei einem Unfall mit dem Schneemobil umgekommen war. Meine Mom motzte den Deckel mit einem flauschigen roten Bezug auf, den sie im Wal-Mart gekauft hatte. «Das hab ich mal im Marlborough-Hotel gesehen», sagte sie, «ich finde, das sieht echt edel aus.» Ein NDN-Bad ist ein Farbwirbel aus allen möglichen Quellen: Flohmärkte, Second Hand, Spenden. Als Kind war ich mal bei einem Familiengrillfest, wo ich mich mit den Erdnussbutter-Marshmallows meiner Kokum vollstopfte und meine älteren Cousins mir ein paar Gläser Bacardi 151 gaben, die in der Speiseröhre schrecklich gebrannt haben. Ich war elf Jahre alt und schon am frühen Nachmittag betrunken. Ich rannte aufs Klo meiner Kokum und kotzte ein ganzes Konfetti an Farben in die Schüssel – Rum, Erdnussbutter und zerkaute Marshmallows. Als ich fertig war, drückte ich ab, aber die Spülung funktionierte nicht. Ich geriet in Panik, öffnete den Wasserkasten und schaufelte die Kotze mit den Händen dort hinein. Wenige Tage später erzählte mein Onkel uns bei Tee und Kuchen, weil «irgendein betrunkener Volltrottel in den Wasserkasten gekotzt hat, wächst da jetzt Schimmel». Ich verspürte so etwas wie Stolz darauf, dass ich nun ‹dazugehörte›, wurde aber trotzdem rot.

    Auf Grindr fand ich haufenweise Männer in Winnipeg, und alle trugen sie lustige Namen wie Fotohomo und Nudedude, wie Figuren aus einem Kinderbuch von Dr. Seuss. Überall nackte Oberkörper, und ratzfatz hatte ich eine ganze Sammlung von Schwanzbildern. Ich fand, dass die Jungs sich eine Scheibe von meinen künstlerischen Selfies abschneiden könnten, auf der Welt gibt es schließlich noch mehr als Pfirsich- und Auberginen-Emojis. Auf allen Profilen stand «will mit dir chatten» und «Diskretion Voraussetzung», und ich fragte mich, was Diskretion denn mit Sexdates zu tun hatte.

    Mein erstes Sexdate mit einem Typen fand auf der Party eines Freundes im Reservat statt. Der Typ war ein großer, weißer Junge, der mit einem NDN-Freund gekommen war, der ihn hereingeschleust hatte und als eine Art Vermittler auftrat, damit die Rüpel ihm nicht den Arsch versohlten. Er trug Hemd und Krawatte und erzählte allen, dass er Psychologie studierte. Sein Kumpel fing an, mit einem der Mädels aus dem Reservat zu flirten, und setzte ihn in eine Ecke, wo er belämmert hockte und wie ein Aufpasser wild hin und her blickte. Er hatte lange, knochige Finger, fast wie ein Gerippe, und die Haare waren zurückgekämmt und klebrig vom Gel. Ich wollte ihm schon sagen, dass er das mit Bärenfett besser hinbekäme, aber an seinem dünnen Twink-Körper konnte ich ablesen, dass er nichts anfassen würde, was irgendwie mit Fett zu tun hatte. Er saß still da, den Oberkörper nach vorn gebeugt, die Ellbogen wie an den Flanken festgeklebt, und nippte an seinem Rotwein, während er den Blick durch den Raum wandern ließ. Wie dumm, dachte ich, zu so einer Party Wein mitzubringen – da hätte er sich gleich ein Schild umhängen können: «Ich gehöre hier nicht hin.» Ich beobachtete ihn aus der Ferne, und auch meine Freundin Tasha musterte ihn. «Der ist echt süß, oder?», sagte sie. «Den werd ich mir nachher krallen.» Du bist noch blöder, als du aussiehst, Tasha, der Typ ist stockschwul. Er wackelte nervös mit dem Fuß; es sah aus wie ein zuckender Fischschwanz. Ich hatte Mitleid mit ihm, schnappte mir eine Dose Coors Light und setzte mich ihm gegenüber.

    «Vielleicht lässt du das mit dem Wein mal besser und trinkst das hier», sagte ich und öffnete die Dose. «Und nimm in Dreigottesnamen den blöden Schlips ab.»

    Er sah mich eine Sekunde lang fragend an, die Augen glasig von dem seltsamen Hunger, den wir beide spürten. Er löste seine knochigen Finger und lächelte mich an. Seine Zähne wiesen rosa Weinflecken auf, um die Lippen zeichnete sich schwach ein roter Ring ab. Wie zum Teufel hatte er das nur gemacht? Hatte er das Gesicht auf das Glas gedrückt und den Wein geschleckt wie eine Katze ihr Wasser? Ich nahm das als Zeichen Manitos, dass dieser Mann auf Rimmen stand.

    «Danke», sagte er. «Von diesem Wein kriege ich Bauchweh.»

    «Willst du ’ne Tablette?»

    «Oh nein, danke, ich nehme keine Arzneimittel, wenn es nicht wirklich nötig ist, wegen der Superbazillen, weißt du. Ich will keine Immunität entwickeln.»

    «Klar doch, Kumpel», sagte ich, «und deswegen kippst du den Wein, als wäre es Medizin.»

    Er lachte, und ich verdrehte die Augen – ich würde ihm bestimmt keinen Tee aus Oshawurzel als Alternative anbieten.

    «Wo kommst du her?», fragte ich.

    «Aus Kitchener.»

    «Aha, ist das in der Nähe der Hauptstadt?»

    «Nicht wirklich, das sind ein paar Stunden mit dem Auto.»

    «Nimmst du mich mal mit?», fragte ich spaßeshalber.

    «Nun ja, klar doch, wenn du mal in der Gegend bist, sag Bescheid.»

    Da wusste ich, dass ich ihn an der Angel hatte – ich konnte sehen, dass er schon einen Ständer bekam, wenn er nur von der Hauptstadt redete. Er erzählte mir, dass er an der McMaster studierte, berichtete von seinen Kursen und erklärte mir den Bystander-Effekt.

    «Es gab eine Studie, wo Forscher in einer kontrollierten Umgebung einen Notfall nachstellten und Statisten dafür bezahlten, einfach weiterzugehen und keine Hilfe zu leisten», sagte er.

    «Und warum das?»

    «Um zu untersuchen, wie Menschenmengen auf Notfallsituationen reagieren – die bezahlten Statisten gehen vorbei, und das überträgt sich auf andere, und so entsteht der Bystander-Effekt.»

    Mir erschien diese Hypothese nicht sonderlich bahnbrechend – er war offenbar noch nie im North End von Winnipeg gewesen. Aber mir gefiel, wie dieses Gespräch ihn zu beleben schien, wie sein ganzer Körper sich mir zuwandte wie der Zweig einer Zeder. Mir gefiel, wie sein Mund sich um die Worte herum bewegte, als würde jedes seiner Worte mit einem O beginnen, sein Mund wurde selbst ein großes O, und sein Atem ging keuchend; seine Lippen waren feucht von Spucke, und wenn man seitlich schaute, erinnerten seine Grübchen an Arschbacken. Ich wollte ihn öffnen, seine Haut spreizen und in ihn hineinkriechen, damit ich so tun könnte, als ob ich hochtrabende Begriffe wie Dendrit, Placebo oder Effektgesetz begriffen hätte – ich kannte dieses Gesetz nicht, aber dafür ein paar andere ziemlich gut, die von eins bis elf nummeriert waren*. Als er vom Neocortex sprach, fragte ich mich, ob das der Teil des Gehirns war, mit dem ich ihn wahrnahm. Der einzige Cortex, den ich kannte, war eine Figur aus dem Videospiel Crash Bandicoot – vielleicht redeten wir ja darüber?

    Er laberte weiter, und ich berührte sein Knie mit meinem. Seinen Redefluss störte das nicht, aber ich spürte, wie er die Berührung erwiderte und mit seinem Knie ganz langsam meine Beine spreizte, als würden wir ohne Sattel auf einem Pferd reiten. Als mein Blick von seinem Mund zu seinem Knie wanderte, sah ich den Umriss seines Schwanzes, der unter der engen Jeans auf seinem Schenkel lag – wie ein Steak, das darauf wartete, gebraten zu werden. Er bemerkte meinen Blick; seine Augen waren mittlerweile blutunterlaufen vom Zigarettenrauch. Auf einmal bekam ich Angst. Sein Körper wirkte jetzt gar nicht mehr schüchtern, und die roten Augen erinnerten mich an die Geschichten vom Wendigo, die meine Kokum mir erzählte hatte, wenn ich nicht brav gewesen war.

    Er stand auf und gab mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Wir bahnten uns den Weg durch eine Gruppe Indigener, die sich an der Tür drängten. Man traf überall welche, sie rauchten wie ein Schlot und benahmen sich wie die gottverdammte NDN-Polizei: «Wer bist du?» – «Wo kommst du her?» – «Wen kennst du?» Am besten bringt man immer gleich den Ausweis und die Liste seiner biologischen Attribute mit, wenn man eine Party in einem Reservat besuchen will. Er ging die Treppe hinunter, als würde er sich auskennen, und ich folgte ihm mit ein paar Schritten Abstand. Er schlüpfte in den Wäscheraum in der hintersten Kellerecke, und ich ging ihm nach. Der Zementboden war uneben, fühlte sich unter meinen Fußsohlen aber erfrischend kühl an. Er zündete sich eine Kippe an und stand vor mir, kaum sichtbar im Schein der Zigarette. Der Raum hatte keine Tür und war nur mit einem Laken abgehängt, und es lag eine Menge Schmutzwäsche herum, vieles davon von einem Baby und anderes von einem kleinen Kind. Er schob alles auf einen Haufen und setzte sich darauf, um sein Hemd aufzuknöpfen. Seine Brust war eine Tundra bis auf ein paar vereinzelte dunkle Härchen. Ich kam näher und ging vor ihm in die Knie, berührte seine Nase mit meiner, ehe seine Lippen nach meinen suchten. Er hob mein Shirt an, und mein Bauch war nackt in der Dunkelheit. Seine Finger folgten der Ameisenspur meiner Schamhaare, und sein Zeigefinger versank in einer Kuhle meines Beckens.

    «Und wenn jemand reinkommt?», fragte ich und hielt ihn auf. Mein Körper war schweißnass, und das war mir peinlich – ich wollte beim Sex nicht glitschig wie ein Aal sein.

    «Hier kommt keiner runter», erwiderte er großspurig. Wie zum Teufel willst du das wissen, dachte ich, du bist doch zum ersten Mal hier.

    «Jede Menge Leute kommen her, um rumzumachen, deswegen liegt die ja hier.» Ich wies mit dem Kinn auf die Matratze in der Ecke.

    Er seufzte, stand auf und lehnte die Matratze vor den Eingang.

    «So, wenn jemand kommt, gibt uns das ein paar Minuten Zeit, um uns was überzuziehen», sagte er. Er baute sich über mir auf, seine große Gestalt kaum sichtbar, weil meine Augen sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Boden war kalt, aber seine großen Hände brannten wie Kohle auf mir. Sie kamen mir jetzt noch größer vor, breit genug, um mich ganz zu umfangen. Er öffnete die Hose und befreite ein hartes Stück Fleisch, das steil nach oben wies. Er zog

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