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My Thoughts Exactly: Das Leben, wie ich es sehe
My Thoughts Exactly: Das Leben, wie ich es sehe
My Thoughts Exactly: Das Leben, wie ich es sehe
eBook345 Seiten4 Stunden

My Thoughts Exactly: Das Leben, wie ich es sehe

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Über dieses E-Book

Ich bin eine Frau.
Ich bin eine Mutter.
Ich war eine Ehefrau.
Ich trinke.
Ich habe Drogen genommen.
Ich habe geliebt und wurde enttäuscht.
Ich bin eine Gewinnerin und Versagerin.
Ich bin Songschreiberin.
Ich bin all das und so vieles mehr.

Wenn Frauen beginnen, ihre Geschichte zu erzählen, laut und deutlich und ehrlich, wird das die Welt verändern – zum Besseren. Lily Allens Buch wird zahlreichen Frauen Trost und Inspiration sein.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Juli 2019
ISBN9783960939627
My Thoughts Exactly: Das Leben, wie ich es sehe
Autor

Lily Allen

<p>Lily Allen, mit b&uuml;rgerlichem Namen Lily Rose Cooper, geboren 1985 in London, gelang der Durchbruch als Popstar 2006 mit der Single "Smile". Seitdem ist sie aus der Musikwelt nicht wegzudenken.&nbsp;2018 erschien ihr viertes Album. "My Thoughts Exactly"&nbsp;ist ihr erstes Buch.</p>

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    Buchvorschau

    My Thoughts Exactly - Lily Allen

    9783960939627.jpg

    LILY ALLEN

    My Thoughts Exactly

    Das Leben, wie ich es sehe

    Aus dem Englischen von Andrea Kunstmann

    Logo echt EMF

    Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel My Thoughts Exactly bei Blink Publishing, London.

    Bei der Verwendung im Unterricht ist auf dieses Buch hinzuweisen.

    echtEMF ist eine Marke der Edition Michael Fischer

    1. Auflage

    Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe bei

    © 2019 Edition Michael Fischer GmbH, Donnersbergstr. 7, 86859 Igling

    Copyright der Originalausgabe: © 2018 Lily Allen

    All rights reserved including the rights of reproduction in whole or in part in any form.

    Covergestaltung: Michaela Zander, unter Verwendung einer Vorlage von Emily Rough

    Coverfoto: Cosmo Webber

    Satz: Pia von Miller

    Herstellung: Anne-Katrin Brode

    ISBN 978-3-96093-962-7

    www.emf-verlag.de

    Für George, Ethel und Marnie

    Inhalt

    Ein paar Worte vorweg

    Außenseiterin

    Mütter

    Väter

    Schule

    Eine Lektion

    Musik

    Arbeit, Teil eins

    Stimme

    Ruhm

    Glastonbury

    Promis

    Arbeit, Teil zwei

    Sex, Teil eins

    Geld

    Liebe

    Ehe

    Muttersein

    Arbeit, Teil drei

    Isolation

    Sex, Teil zwei

    Am Boden

    Ein Ende

    Übergriff

    Wahnsinn

    Der Wahnsinn eines Anderen

    Stärker

    Zusammenbruch

    Vorwärts

    Jetzt

    No Shame

    Danksagung

    Ein paar Worte vorweg

    Als Erstes liefere ich hier ein paar Fakten – die sind wichtig, weil das keine normale Autobiografie werden soll, in der alles genau in der Reihenfolge steht, wie es passiert ist. Dafür bin ich zu jung, und ich finde es komplett uninteressant, ein Ereignis nach dem anderen runterzubeten. Sonst würde sich das Buch so lesen:

    Bin aufgestanden. Hab mich geschminkt und angezogen. Dann ins Studio/zum Fotoshooting/zum Auftritt. E-Mails geschrieben. Bin ausgegangen/aufgetreten/hab gearbeitet/gefeiert. Flugzeug/Tourbus/Autofahrt. Das Gleiche noch mal. Und noch mal. Unterbrechung zum Kinderkriegen und Kinderhüten. Dann wieder von vorn.

    Mehr oder weniger so jedenfalls.

    Was mich wirklich interessiert, sind die Übergänge – die Dinge, die in meinem Leben zu einer Veränderung geführt, es auf den Kopf gestellt und meine Pläne über den Haufen geworfen haben. Manchmal handelte es sich um äußere Einwirkungen, auf die ich keinen Einfluss hatte: So kam mein Sohn George drei Monate zu früh und tot zur Welt. Ich wurde sieben Jahre lang gestalkt, mein Leben von einem psychisch schwer kranken Menschen bedroht. Am Ende war ich bei der Gerichtsverhandlung gegen ihn dabei. Da ich auch selbst phasenweise psychische Probleme hatte, tat er mir sogar leid, trotz allem, was er mir angetan hatte – weil so eine Erkrankung verdammt noch mal kein Pappenstiel ist. Als Erwachsene wurde ich von einem Mann in einer Machtposition, dem ich vertraute, sexuell belästigt, und als Teenager sexuell ausgenutzt von Männern, die es besser hätten wissen müssen. Wie man sieht, sind das nur allzu gewöhnliche Erfahrungen (#MeToo).

    Manchmal habe ich auch selbst in meinem Leben schreckliches Unheil angerichtet, wie ich noch zeigen werde (Stichwort selbstzerstörerisches Verhalten).

    Umgekehrt haben mich einige Dinge, die mein Leben verändert haben, glücklicher gemacht, als ich es mir je hätte vorstellen können. Ich habe zwei Töchter, Ethel und Marnie. Ich habe in einer Branche Erfolg, die für ihre Unbarmherzigkeit berüchtigt ist und die funktioniert, obwohl sie die meisten Bewerber ablehnt, kaum Praktika vergibt und auf Ausbildung verzichtet. Doch ich habe meinen Weg darin gefunden. Ich wurde mit Güte und Großzügigkeit überschüttet. Ich wurde verwöhnt. Ich wurde überallhin eingeladen, freundlich empfangen und bekam oft Applaus – manchmal von Zehntausenden von Menschen. Ich bin beim Glastonbury Festival auf der berühmten Pyramid Stage aufgetreten – nicht nur einmal, sondern dreimal (Wahnsinn, oder!?).

    Doch die Musikindustrie, die mir so viel Anerkennung eingebracht hat, hat mich zugleich auch abgestraft. Darüber beklage ich mich nicht (jedenfalls nicht an dieser Stelle), ich stelle es nur fest. Ich werde im Lauf des Buches noch mehr dazu sagen. Ich wurde gemobbt, angeprangert und erniedrigt, öffentlich, von der Presse. Wie nach diversen Skandalen klar ist, sind die Arbeitsmethoden von britischen Boulevardzeitungen schädlich und gefährlich, sie beruhen auf Korruption und Herabwürdigung. Junge Menschen, insbesondere Frauen, sind für ihre Häme ein gefundenes Fressen, vor allem wenn ihnen der noch ungewohnte Ruhm und Erfolg ein bisschen zu Kopf gestiegen ist und sie zugleich noch naiv und verletzlich, schnell zu kränken und leicht zu ködern sind. Manchmal habe ich nach diesen Ködern geschnappt – das waren harte Lektionen, ich habe jede Menge Fehler gemacht. Aber ich wurde auch ausspioniert und verfolgt, meine Worte wurden mir im Mund umgedreht, und all das hat mich gelähmt und isoliert.

    Ich habe durch meine Arbeit Freunde gefunden und verloren. Doch ich habe auch immer noch Vertraute aus frühester Kindheit, und das ist ein Segen. Letztlich wurde ich größtenteils geliebt, auch in Momenten, als ich mich alles andere als liebenswert fühlte. Wir alle müssen mit unseren Schatten leben. Meine wurden irgendwie vergrößert, weil ich in der Öffentlichkeit stehe, aber ich würde nie behaupten, dass sie dunkler sind als die anderer Menschen. Ich kann aber nur über meine eigenen Schatten reden, und die kamen mir eben manchmal rabenschwarz vor – zeitweise malte ich sie schwärzer, als sie es in Wirklichkeit waren, aber es ist schwer, Licht in sein Leben zu lassen, wenn man todunglücklich ist. Und ich war todunglücklich.

    Davon will ich hier erzählen, und wie ich darüber denke. Deshalb wird das keine lineare Erzählung, keine schnurgerade Geschichte. Gibt es die überhaupt?

    Das ist meine Geschichte. Für mich ist es die Wahrheit – aber ich behaupte nicht, dass es die einzige Wahrheit ist. Mein Bruder zum Beispiel hat seine eigene Version der Ereignisse im Kopf, und das obwohl wir mit nur sechzehn Monaten Abstand geboren wurden und miteinander aufgewachsen sind. Und auch meinem Ex-Mann wird es so gehen, obwohl wir sechs Jahre lang verheiratet waren (die meisten davon glücklich), drei Kinder zusammen bekommen haben und eines von ihnen begraben mussten. Noch immer kümmern wir uns gemeinsam um unsere Töchter.

    Das also bin ich: Lily Allen, geboren 1985. Ich bin Songwriterin und Sängerin, Mutter, Tochter, Schwester, Hausfrau. Ich war mal Ehefrau. Ich bin eine soziale und politische Aktivistin. Ich twittere. Ich wähle die Labour Partei. Ich schreibe. Ich hatte Erfolge und Misserfolge. Ich kann keine Ausbildung vorweisen und habe mir fast alles selbst beigebracht. Ich war nicht auf der Uni, ich habe keinen höheren, nicht mal einen mittleren Bildungsabschluss.

    Ich bin in keinem besonders musikalischen Haushalt aufgewachsen, aber irgendeine Form von Performance war immer präsent, die Medienwelt war für mich nichts Besonderes oder Glamouröses, sondern der Normalfall. Meine Mutter Alison Owen ist Filmproduzentin. Mein Vater Keith Allen ist Schauspieler, Comedian und Dokumentarfilmer. Eine Zeitlang war der Comedian Harry Enfield mein Stiefvater. Ich habe eine ältere Halbschwester namens Sarah, einen jüngeren Bruder, Alfie, und eine viel jüngere Halbschwester, die Teddie heißt. (Ich habe noch andere Halbgeschwister, aber die kenne ich nicht und weiß auch nicht, wie viele es sind – wie gesagt, keine schnurgerade Geschichte). Mein erster Freund hieß Lester. Mein bester Freund ist Seb, mit ihm arbeite ich inzwischen auch zusammen. Er ist Musikproduzent. Der Mann, den ich geheiratet habe, heißt Sam Cooper, er hat eine Baufirma. Wir haben uns im Herbst 2015 getrennt.

    Ich bin mehr oder weniger auf dem Glastonbury Festival und im Groucho Club aufgewachsen. Mein Vater gehörte zur Britpop-Szene und betrank sich öffentlich mit seinen Freunden, dem Künstler Damien Hirst, dem Musiker Alex James und anderen. Drogen und Alkohol gehörten in meinem Leben zum Grundrauschen; schon solange ich mich erinnern kann, waren sie immer in Griffweite, und ich habe mich bei beidem bedient – manchmal auch exzessiv. Doch auch wenn ich zu Treffen der Narcotics Anonymous und der Anonymen Alkoholiker gegangen bin und immer wieder abstinente Phasen hatte, bin ich keine genesende Alkoholikerin oder Drogenabhängige. Ich leide allerdings an Depressionen (auch keine schnurgerade Geschichte).

    Ich habe diverse private und öffentliche Schulen besucht, keine jedoch besonders lange, insofern bin ich nicht das Produkt eines bestimmten Systems oder einer speziellen Institution. Ich habe schon als Kind in der Schule mit dem Singen begonnen und die Musik dann früh als Teenager entdeckt. Seitdem ist sie immer an meiner Seite. Ich lese. Ich führe Tagebuch. Ich habe einen Blick für Ästhetik, sammele Textilien, liebe Farben, und ein Haus zu renovieren oder einzurichten schreckt mich kein bisschen. Ich treibe Sport, bin aber nicht die geborene Athletin. Ich schwimme gern. Ich bin stark. Ich kann hart sein. Ich war schon am Boden. Ich bin starrsinnig. Ich bin viel zu nett und kann nicht Nein sagen. Ich bin narzisstisch. Ich bin co-abhängig. Ich bin nicht immer gerne allein, aber manchmal ertrage ich auch keine Gesellschaft. Ich kann scheinheilig sein. Ich bin widersprüchlich. Ich kann kalt sein.

    Aber ich kann auch sehr vernünftig sein. Ich kann Zusammenhänge herstellen. Ich versuche, Gutes zu tun. Ich will Gutes tun. Ich bin engagiert. Ich bin aufmerksam, mir fallen Dinge auf. Ich habe ein fotografisches Gedächtnis. Ich kann mir Namen, Orte, Details merken, und zugleich erinnere ich mich an ganze Abschnitte meines Lebens nur höchst verschwommen – da ist alles stockdunkel. Ich koche, nicht immer, aber oft. Ich bin ausgebildete Floristin. Ich bin eine gute Autofahrerin und habe einen ausgezeichneten Orientierungssinn. Ich bin finanziell unabhängig und verdiene mein eigenes Geld, manchmal sogar eine ganze Menge, aber ich häufe auch Schulden an. Ich bin in meinem Beruf meinen eigenen Weg gegangen. Das muss man. Selbst wenn man Unterstützung bekommt, geht das nicht anders.

    Ich finde viele Dinge lustig und lache viel, manchmal sogar, wenn es nicht lustig ist. Das ist fast schon ein Tic. Lach, Lily, lach doch, das macht die Sache einfacher, leichter, absurder. Stimmt doch, oder? Nicht immer. Meistens gar nicht.

    Wie fast alle Frauen, die ich kenne, muss ich ziemlich viel unter einen Hut bringen: Arbeit, Kinder, Familie, Finanzen, Haushalt und den Laden am Laufen halten. Geschafft habe ich das nicht immer. Ziemlich oft habe ich Scheiße gebaut. Darin bin ich gut, das wird sich noch zeigen.

    Ich sage die Wahrheit. Ich schreibe dies, weil Schreiben zu mir gehört. Es ist für mich Lebensunterhalt und Lebensstil zugleich, durch das Schreiben versuche ich, alles besser zu verstehen und daraus zu lernen. Ich schreibe das hier auch, damit meine Töchter, sollte ich heute tot umfallen, später einmal aus meinen Fehlern lernen können. Und damit sie, sollten sie auf irgendwelche Informationen über mich stoßen (ich stelle mir vor, wie sie mich später als Jugendliche googeln), etwas schwarz auf weiß haben, etwas, das sich nicht durchs Immer-wieder-neu-Erzählen ständig verändert. Fuck, ich schreibe es auch, damit ich selbst aus meinen Fehlern lerne. Ich schreibe es, um meine Geschichte zu erzählen. Geschichten zu erzählen ist wichtig, besonders wenn man eine Frau ist. Wenn Frauen sich mitteilen, laut und deutlich und ehrlich, dann wird das die Dinge verändern – zum Besseren.

    Das ist meine Geschichte.

    Außenseiterin

    In meiner Kindheit und Jugend habe ich mich wie die Außenseiterin in meiner Familie gefühlt. Meine ersten Jahre erscheinen mir vage und verschwommen, als hätte ich überhaupt keine Konturen, keine Eigenschaften gehabt. Es ist unsexy, sich lang und breit über seine Kindheit zu beklagen. Und das Opfer zu spielen – auch wenn man sich tatsächlich so vorkommt – ist bei einer Geschichte wie der meinen nicht angemessen oder hilfreich. Es ist auch nicht notwendigerweise die Wahrheit. Es ist nur eine Wahrheit. Auch wenn die Geschichte deswegen nicht weniger gültig ist, halte ich es für sinnvoll, das klarzustellen. Es gibt zu jeder Geschichte viele Versionen und Wahrheiten, besonders zu denen aus der Kindheit, weil man zu dieser Zeit intensiver im Moment lebt. Meine Wahrheit lautet, dass ich mich als Kind nicht geborgen fühlte, sondern verloren, unsichtbar, häufig unbeachtet. Dieser Mangel an Zuwendung, oder jedenfalls das, was ich als Mangel empfinde, hat sich stark auf mein Verhalten als Jugendliche und Erwachsene ausgewirkt.

    Meine Mutter war achtzehn, als sie mit meiner Schwester Sarah schwanger wurde. Sie war nicht verheiratet. Sie war während der Geburt allein, weil Sarahs Vater in der Nacht, als die Wehen einsetzten, bei einem The Clash-Konzert in Brighton war und ihre Mutter, eine stramme Katholikin, sich weigerte, sie ins Krankenhaus zu begleiten, da sie die Schwangerschaft missbilligte. Meine Mutter hatte in jener Nacht niemanden, der ihre Hand hielt. Ich habe das erst viel später erfahren, aber vor diesem Hintergrund verstehe ich meine Mutter, meine Schwester und ihre außerordentlich enge Bindung viel besser. Sie muss in jener Nacht entstanden sein, als nur sie beide diese Erfahrung durchmachten und zusammen überlebten.

    Ich habe mich außen vor gefühlt. Ich hatte den Eindruck, mich allein durchschlagen zu müssen, da ich auf der Prioritätenliste meiner Eltern ganz unten stand, weit unter ihren Karrieren, und weniger wichtig als Sarah oder mein kleiner Bruder, der sechzehn Monate nach mir zur Welt kam. Auch wenn Alfie und ich viel Zeit miteinander verbrachten – wir hingen immer zusammen und wurden auch gleich behandelt –, war ich doch ein unabhängiges kleines Wesen, viel mehr Einzelgängerin als meine Geschwister.

    Aber auch außerhalb unserer Familie fand ich nicht wirklich meinen Platz. Alfie zum Beispiel war fußballbegeistert, ich dagegen interessierte mich für nichts im Speziellen, nicht für Turnen, Ponys oder Puppen, nicht fürs Auf-Bäume-Klettern oder Schminken, und ich war auch nicht der Typ Mädchen, der lieber mit den Jungs draußen rumtobte.

    Ich weiß, dass ich als Kind geliebt wurde, aber ich habe diese Liebe nicht als besonders intensiv empfunden. Meine Eltern waren selten da, entweder arbeiteten sie (Mum), oder sie hatten Spaß (Dad). Sie waren jung, als wir in ihr Leben platzten, und noch mit ihrer eigenen Entwicklung beschäftigt, während wir heranwuchsen. Sie stammen beide aus Arbeiterfamilien in der Provinz und haben es nach London und in die Medienbranche geschafft. Sie haben sich fern von ihren Familien und Wurzeln neu erfunden, und das ist nicht einfach. Das kostet Anstrengung, Energie und Konzentration.

    Es bedeutete, dass für uns Kinder nicht allzu viel Zeit übrig blieb, und so lautete ihre Devise in etwa: „Die Kinder kriegen das schon hin. Lassen wir sie einfach machen." Sie haben uns viel allein gelassen. Uns zu Hobbys oder Nachmittagsbeschäftigungen zu ermutigen, wäre zu viel Aufwand gewesen und hätte einen geregelten Alltag vorausgesetzt, an dem sie kein Interesse hatten. (Erst als Mum mit Harry zusammen war, machte ich zum ersten Mal die Erfahrung einer außerschulischen Aktivität. Sie meldeten mich zu einem Kinderkochkurs an einer Kochschule an, der immer Samstagvormittag stattfand – ich war begeistert.)

    Also las ich viel und hörte sehr gerne Hörbücher. Ich sah viel fern. Die australischen Serien Nachbarn und Home and away, die täglich im Vorabendprogramm liefen, gehörten zu meiner täglichen Routine. Morgens vor der Schule guckte ich Frühstücksfernsehen. Die Moderatorin Gaby Roslin war eine Art Fernsehmama für mich. Sie sah ein bisschen wie meine echte Mum aus und schien jede erdenkliche Situation unter Kontrolle zu haben. Das mochte ich. Schon damals wusste ich, dass sie keinesfalls bereit war, sich irgendwas bieten zu lassen, jedenfalls nicht als Frau in einer Männerwelt. Am meisten gefiel mir, dass sie immer da war. Ich schaltete den Fernseher ein, und da war sie auch schon, immer erreichbar, niemals beschäftigt oder abgelenkt.

    Wir gehörten nicht zu der Sorte Familie, die zusammen etwas unternahm. Auch meine Eltern schienen kein Paar zu sein, das Dinge gemeinsam machte. Ganz sicher jedenfalls konnte ich keine liebevolle Beziehung zwischen ihnen erkennen. Ich glaube, meine Mutter hat sich Hals über Kopf in meinen Vater verliebt, als sie sich kennenlernten und zusammenkamen, und ich weiß, dass sie sich betrogen und im Stich gelassen fühlte, als er ging. Aber auch als sie noch zusammen waren, erinnere ich mich nicht an gute Phasen. Vielleicht war ich da noch zu jung, vielleicht kamen sie auch nicht allzu oft vor.

    Bis vor Kurzem habe ich über all das nicht besonders intensiv nachgedacht. Als ich noch klein war, hatten alle meine Freunde geschiedene Eltern. So war das eben. Keine große Sache. Oder eben doch, wie mir jetzt bewusst wird.

    Irgendwann kam uns zum ersten Mal der dreijährige Sohn meines Lebensgefährten Dan besuchen. Wir haben das Wochenende zusammen verbracht, ich und Dan, sein Junge und meine Mädchen, wie eine richtige Familie. Danach erzählte mir Dan von einem Gespräch mit seiner Ex. Er habe ihr versichert, „Lily und ich knutschen und knuddeln nicht vor den Kindern. Sie habe erwidert: „Ich habe kein Problem damit, wenn du Lily vor den Kindern Zuneigung zeigst. Es ist sogar wichtig, dass sie lernen, wie Erwachsene sich verhalten, wenn sie sich lieben.

    Als Dan mir von dem Gespräch erzählte, dachte ich sofort, wie clever diese Frau doch ist. Was sie gesagt hatte, ging mir noch die ganze Zeit im Kopf herum. Dann machte es Klick: Oh Gott, dachte ich, als ich klein war, habe ich so etwas nie mitbekommen. Habe nie erlebt, wie Erwachsene sich in einer liebevollen Beziehung verhalten oder wie sie sich ihrer Zuneigung versichern.

    Diese Überlegungen haben viel in mir ausgelöst. Als hätte ich zumindest einen Teil des Rätsels gelöst, warum ich mich so lange wie eine Art Gefäß gefühlt habe, äußerlich intakt, aber innen hohl. Wenn man mich fragt: „Lily, wie war deine Kindheit? Warst du glücklich, hast du dich zufrieden oder geliebt gefühlt, konntest du den Augenblick genießen, ohne dir allzu viele Sorgen zu machen? (denn wenn möglich sollten Kinder genau so aufwachsen, finde ich), dann lautet meine Antwort: „Als Kind (und auch noch oft als Erwachsene) kam es mir vor, als bestünde ich aus einem schlagenden Herzen und einer Hülle aus Haut und sonst nichts – nichts Bedeutsames, Erfülltes oder Ganzes.

    Mütter

    Meine Mutter heißt Alison. Sie wuchs in einer religiösen Familie in Portsmouth auf, beschloss aber bald, statt dem Katholizismus lieber dem Sozialismus und dem Punk zu huldigen. Sie ist klug, lebendig, lustig und schön. Manchmal glauben Leute, sie könnten sie durchschauen, aber da täuschen sie sich. Sie ist blond und sexy mit großer Oberweite, aber das Allerwichtigste ist ihr Kopf – ein Superhirn, das in einer lustigen kleinen Person steckt. Sie wusste von Anfang an, dass sie Karriere machen wollte, und zwar im Filmgeschäft, und zugleich hatte sie, obwohl sie extrem ehrgeizig war, schon mit vierundzwanzig drei Kinder.

    Inzwischen kapiere ich es. Ich kapiere, warum sie so jung Kinder gekriegt hat. Sie wollte eine Familie, und ihre eigene taugte nicht dazu. Sie suchte nach dem, was sie längst in rauen Mengen hätte bekommen sollen, aber nicht bekam: bedingungslose Liebe.

    1984 heiratete sie dann den Comedian und Künstler Keith Allen, einen Mann, der für seinen Narzissmus und Frauenverschleiß berühmt war – lief also gut für sie.

    Mum und Dad lernten sich über eine Radiosendung kennen, die mein Vater damals in den Achtzigern machte, sie hieß Breakfast Pirate Radio. Meine Mutter war ein Fan dieser Sendung und rief an, um sich zu bewerben. Dad sagte ihr, sie kriege einen Job, wenn sie ihm ein Statement von Ken Livingstone (dem späteren Londoner Bürgermeister) besorgen würde, der damals in einer Londoner Verwaltungsbehörde arbeitete. Mein Vater wollte eine Tonaufnahme, und meine Mutter zog los und beschaffte sie. Dad war beeindruckt. Vielleicht sogar noch mehr, als er sie zu Gesicht bekam, diese kluge, zierliche Person mit dem Akzent eines Landeis aus Portsmouth und Riesentitten. Er dachte sich wohl: „Oh ja, jederzeit gerne!"

    Mum war noch sehr jung, als sie nach London kam. Sie hatte Sarah, noch ein Kleinkind, im Schlepptau, studierte an der Universität London, und wohnte in einer Studentenbude im Stadtzentrum. Der Künstler Cerith Wyn Evans lebte mit seinem Freund Angus Cook im gleichen Viertel, genau wie Lucian Freuds Tochter Rose Boyt und die Künstlerin Celia Paul.

    Sie alle freundeten sich an, und insbesondere Mum und Rose wurden dicke Freundinnen. Rose ist eine meiner Taufpatinnen. Sie war damals Herrin über die Gästelisten der angesagtesten Nachtclubs, Läden wie das Zanzibar oder The Wag. Sie war groß, hatte breite Schultern, und man kam praktisch nicht an ihr vorbei, wenn sie einem den Rücken zuwandte. Deshalb war ihr Spitzname „The Back, der Rücken, und Mum war „The Shelf, die Auslage.

    Über Rose lernte meine Mutter Neneh Cherry, Andrea Oliver und deren Bruder Sean kennen, die zu ihrer Clique wurden. Alfie und ich wurden zusammen mit ihren Kindern groß, mit Naima, der Tochter von Neneh, Andis Kind Miquita und Seans Kindern Theo und Phoebe. Phoebes Mutter ist Tessa Pollitt von The Slits. Sie faszinierten mich. Bei ihnen zu Hause gab es immer Musik (Neneh, Andi und Sean spielten zusammen in einer Post-Punk-Band namens Rip Rig + Panic), und es war offensichtlich immer was los: Entweder wurde was gekocht, oder irgendwer bekam die Haare geflochten, dauernd kamen Verwandte zu Besuch, und auch wenn es keine Verwandten waren, schienen sie irgendwie zur Familie zu gehören und wurden „Auntie", Tante, genannt. Ich verbrachte viel Zeit bei Miquita. Mir gefiel es dort, weil es sich wie eine Gemeinschaft anfühlte. Verglichen damit war es bei uns zu Hause einsam und langweilig. Bei uns aß ich Nudeln mit Butter und Käse und sah fern, und das oft allein.

    Wir sind immer noch eng befreundet. Miquita und Phoebe waren bei meiner Hochzeit die Brautjungfern, und Theo leitet unser Plattenlabel Bank Holiday Records.

    Mums und Dads Ehe hielt lange genug, um mich und Alfie zu fabrizieren, aber ich habe nicht den Eindruck, dass sie viel Zeit miteinander verbrachten. Sie waren ständig mit ihren jeweiligen Karrieren und ihrem Sozialleben beschäftigt. Ihre Zeit investierten sie in echte Freundschaften mit anderen Leuten, die ihnen über den Weg liefen, nicht in ihre Beziehung. Deshalb habe ich eine so enge Bindung zu meinen Paten und vielen Freunden meiner Eltern: Wenn wir Zeit mit unseren Eltern verbrachten, dann waren in der Regel deren (jeweils eigene) Freundeskreise mit von der Partie. Ich habe nur eine einzige Erinnerung an Mum und Dad als Paar: Ich befand mich in Mums Schlafzimmer und sah einen Mann – meinen Dad – in ihrem Bett. Das war’s auch schon.

    Dad ging, als ich vier war. Ich hatte keinen besonderen Draht zu ihm, also war es irgendwie auch kein Weltuntergang. Die Geschichte, die später irgendwo auftauchte, ich wäre Daddys kleiner Liebling gewesen, haben die Medien erfunden. Manchmal stoße ich noch auf alte Fotos, auf denen Alfie und ich mit unserem Vater zu sehen sind – diese Bilder waren alle gestellt: Keith Allen zusammen mit seinen Kindern in Gokart-Overalls, wie niedlich! Wir waren mit ihm nie Gokart fahren, das war ein Werbefoto für einen Dokumentarfilm, an dem er mitwirkte. Oder Keith Allen, wie er mit seinen Kleinen spielt und eines davon kopfüber hält – auch das war ein Foto für seine Arbeit, damals war er bei The Comic Strip, einer Gruppe, die in den 1980ern für ihre unkonventionelle Comedy bekannt waren. Dass ich in meiner Kindheit keine Nähe zu meinem Vater empfand, lag nicht daran, dass ich wütend auf ihn war oder ihn bestrafen wollte – ich sah ihn einfach nicht oft genug, als dass sich solche Gefühle hätten entwickeln können. Ich war ihm nicht nahe, weil er nicht da war.

    Kurz nachdem Dad sie verlassen hatte, ging meine Mutter eine Beziehung mit Harry Enfield ein. Die beiden liefen sich auf einer Dinnerparty über den Weg, die mein Pate Danny Kleinman veranstaltete. Danny war Regisseur, meine Mutter hatte ihn kennengelernt, kurz nachdem sie nach London gekommen war. Er gehört noch immer zu ihren ältesten, engsten und wahren Freunden – sie standen sich so nahe, dass Danny mir oft wie der Vater vorkam, den ich

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