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Birobidschan
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eBook288 Seiten3 Stunden

Birobidschan

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Über dieses E-Book

Sibirien, 1908. Ein Knall erschüttert den sibirischen Wald Tunguska. Zwei Jahrzehnte später plant Stalin eine jüdisch-sozialistische Autonomie an der Grenze zu China: Birobidschan. Was als stalinistisches Experiment der 1930er Jahre scheitert, wird in Tomer Dotan-Dreyfus' Debütroman zum Dreh- und Angelpunkt einer funkensprühenden Geschichte: Da sind Alex und Rachel, verliebt seit Kindertagen. Boris Klayn, Fischer und
Ur-Birobidschaner. Gregory und Sascha, enge Freunde, einer hat Depressionen, der andere nimmt ihn mit auf einen Roadtrip gen Tunguska. Dmitrij, der Angst vor Wölfen hat. Das Leben in Birobidschan geht seinen Gang, die kleinen und großen Sorgen der Bewohner drehen sich fern allen Weltgeschehens – bis sich die Ereignisse überschlagen: Zwei fremde Männer und ein stummes Mädchen bringen die idyllische Gemeinschaft zum Bersten.

In Birobidschan erzählt Tomer Dotan-Dreyfus die so unwahrscheinliche wie charmante Geschichte eines jüdisch-sozialistischen Schtetls in Sibirien und knüpft damit an die jiddische Erzähltradition und den magischen Realismus an. Ein gewitzter Debütroman, eigenwillig und voller Fabulierlust.
SpracheDeutsch
HerausgeberVoland & Quist
Erscheinungsdatum20. Feb. 2023
ISBN9783863913823
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    Buchvorschau

    Birobidschan - Tomer Dotan-Dreyfus

    1.

    In Birobidschan war alles anders.

    2.

    Der Fischer Boris Klayn hatte den Köder mit dem Haken durchstochen und die Angel im Eisloch des zugefrorenen Sees ausgeworfen.

    Es war einer dieser ruhigen Tage zu Beginn des Frühlings, an denen nicht mal die Bocher aus der nahe gelegenen Kosnikova-Straße auftauchten, um ihn zu nerven. Meistens liefen sie stundenlang Schlittschuh auf dem See, besonders gern im Bereich der Fischereizone. Sie taten das wegen des Adrenalinkicks, denn sie wussten sehr wohl, wie gefährlich scharfe Schlittschuhe auf dünnem Eis waren.

    Nun war Mai, und eigentlich durfte niemand mehr auf das Eis, selbst die Fischer nicht. Aber der Winter hatte deren Seele so ausgedörrt, dass einige es dennoch riskierten. Doch an diesem Tag war außer Boris niemand da. Auch keine Fische. Es gab manche Fastfische, aber er war augenscheinlich nicht mehr schnell genug für die Tatsächlichfische.

    3.

    Die Geschichte unseres Fischers, der hier den Köder mit dem Haken durchstach und der der älteste Jude in Birobidschan war, fängt 1932 an, also fünfundsiebzig Jahre zuvor. Da war er fünf Jahre alt.

    Den Anfang einer persönlichen Geschichte kann nur die Person selbst bestimmen, und Boris’ erste Erinnerung galt für ihn seit jeher als Anfang seiner Geschichte.

    Sie beginnt im Januar 1932, einem harten Winter, ganz in der Nähe des winzigen Schtetls Ljuboml, hundertfünfzig Kilometer südöstlich der heutigen polnisch-belarussischukrainischen Grenze.

    Der kleine Boris war auf dem Nachhauseweg, nachdem er dem Vater beim Eisfischen zugesehen hatte. Der Schnee wirbelte in dicken Flocken umher, und Boris hatte Schwierigkeiten vorwärtszukommen. Sein schwarzer, viel zu großer Mantel, eine Leihgabe des kürzlich verstorbenen Mannes der Nachbarin, verfing sich zwischen seinen Beinen und klebte alle paar Schritte am gefrorenen Boden fest. Durch die drei Löcher im Mantel, die vermutlich mit dem Tod seines früheren Besitzers zusammenhingen, brannte die Kälte auf Boris’ Haut.

    Noch während er an seinen Vater dachte und sich fragte, wie dieser wohl den Schneesturm überleben würde, beschloss er, dass es seine Schuhe waren, die sein Vorwärtskommen behinderten, und zog sie kurzentschlossen aus. Seine Schuhe in der rechten Hand, die Brotdose seines Vaters in der linken, sah er schon das erste Haus Lubomls, als er plötzlich seinen Körper nicht mehr spürte und auf ein Bett aus Eis und Schnee sank, nicht mehr fähig, die Farben um sich herum zu unterscheiden. Nur grau. Grauselig.

    Was geht durch den Kopf eines fünfjährigen Kindes, wenn es auf seinem Sterbebett liegt?

    Eine Stunde später – oder waren es drei Minuten? – spürte er eine kleine Hand, die seine geschlossenen Augenlider sanft berührte. Eine Welle plötzlicher Wärme überschwemmte ihn. Es war das erste Mal, dass er das Mädchen sah. Sie bewegte sich nicht, schaute ihn nur an, starrte sogar. Auf den ersten Blick war ihre Haut kaum vom Schnee zu unterscheiden, ihre Haare waren schwarz und kitzelten angenehm, als sie sich schließlich zu ihm beugte, ihr kleines Ohr auf seine Brust legte und dem Schlagen seines Herzens lange Minuten zuhörte.

    Sie verströmte einen Geruch, den Boris nie wieder riechen würde. Als ob sie gar nicht aus dieser Gegend käme. Sie roch nicht nach dem Schweiß und Dreck, der die Bauern dieser Region auszeichnete, da es für sie keinen Grund gab, sich mehr als einmal pro Woche zu waschen. Stattdessen stand der süße Geruch von Frühlingsblumen, von Bienen und ihrem Honig in der Luft, Honig wie jenem, den er als Jugendlicher mit seinen Freunden aus den Bienenstöcken des christlichen Imkers klauen würde. Diesen Geruch nach Honig vermisste Boris fünfundzwanzig Jahre später, als er seine künftige Ehefrau auf dem Birobidschaner Bahnhof traf. Paulas Geruch war aus allen ihm bekannten schönen Gerüchen komponiert – außer jenem des Honigs, den er zum ersten Mal im Schnee gerochen hatte. Ein purer, reiner Geruch war es, pur wie das frische Wasser eines gerade geschmolzenen Gletschers.

    Es war, als lauschte das Mädchen einer anderen Stimme. Geflüster?

    Boris, der das Gefühl hatte, es würde da über ihn geflüstert, zwischen seinem erfrorenen Herzen und dem fremden Mädchen, versuchte vergeblich aufzustehen.

    Sie drückte ihn zurück in den Schnee, schaute ihn an und sagte tadelnd: »Du! Wenn du meine Hilfe nicht möchtest, gehe ich! Sag einfach: Soll ich gehen?«

    Boris, verwirrt und überrascht, erwiderte stotternd: »Nein … Nein, geh doch bitte nicht. Aber hört auf, über mich zu reden!«

    »Ich rede doch gar nicht über dich.«

    »Spricht da keiner zu dir?«, fragte Boris und überlegte, ob er etwas Dummes gesagt hatte.

    »Doch«, sagte das Mädchen, »aber ich erwidere nichts. Ich höre ihm zu. Auch du solltest ihm manchmal zuhören, dann würdest du wissen, dass du schon bald stark und vollkommen lebendig sein wirst und dass du keinen Grund hast, Angst zu haben.«

    »Bist du sicher?«, fragte er. Und fühlte sich wieder dumm.

    »Bist du sicher?«, ahmte sie ihn nach. Oder war es eine Gegenfrage?

    Er war zwar nicht sicher, was sie damit meinte, war sich aber sicher, dass alles gut würde. Dass er nicht in diesem Schnee bleiben würde, dass er auf seine Füße kommen musste, aufstehen und einfach weiter nach Hause gehen, die letzte Ewigkeit, die letzten zweihundert Meter laufen würde.

    Bis er alle diese Gedanken zu Ende gedacht hatte und Boris seine Augen wieder öffnete, hatte sich das Mädchen schon ein Stück entfernt. Er sah, wie sie ihm zum Abschied zuwinkte, ihre Gestalt immer kleiner wurde, und schon war sie verschwunden. Sie hatte einen geschmolzenen Pfad im Schnee hinterlassen, als ob sie tatsächlich wärmer wäre als andere Menschen.

    Boris stand auf und schaute sich um. Er würde nicht nur gehen, sondern sogar rennen können. Die drei Löcher seines schwarzen Mantels hatten sich auf rätselhafte Weise geschlossen, und er musste nur noch über die Richtung seines Laufs entscheiden: entweder nach Hause oder dem Pfad der Wärme des mysteriösen Mädchens folgend.

    Nach drei oder vier Schritten auf ihrem Pfad drehte sich Boris um und lief nach Hause.

    Seine Mutter umarmte ihn erst, dann schrie sie ihn an, wollte alles wissen: Wo er gewesen sei. Warum sein Spaziergang so lang gedauert habe. Mit wem sein Vater beim Eisfischen gewesen sei. Was sie geredet hätten. Und wieder: Warum alles so lang gedauert habe.

    »Aber Mama«, sagte er, »da war doch ein Schneesturm. Und der Schnee war so tief, ich konnte gar nicht schneller laufen.« Stolz wollte er seiner Mutter erzählen, wie er dennoch dem Unwetter getrotzt, wie er nicht aufgegeben hatte im Sturm.

    An die Antwort seiner Mutter dachte Boris heute noch manchmal, wenn er allein zu Bett ging oder während kalter Tage, wenn er zwischen den jungen Fischern saß, die um ihn herum plauderten und lästerten, Witze erzählten, die er nicht mehr verstand; genau dann tauchte die Stimme seiner Mutter in seinem Kopf auf: »Schatz, es schneit doch heute gar nicht! Schau mal!«

    Jenseits des Fensters strahlte eine warme, weiße Wintersonne, die alles in ein gnädiges Licht tauchte.

    »Mein Sohn«, sagte sie zu niemand Bestimmtem, »der Arme hat schon Wahnvorstellungen, genau wie sein Vater!«

    Wahnvorstellungen.

    Wenn Boris sich Jahrzehnte später dieses Wort mit Mutters Stimme ins Gedächtnis rief, sagte er sich immer auch auswendig das gleichnamige Gedicht der berühmten jüdischpolnischen Dichterin Judith Gorenstein auf:

    Wenn Du vor mir kriechst

    Von einem Schied unter den nächsten

    Höre ich den Mond

    Die Drei um die Ecke

    Die quad-Rate

    Stell mir den Wahn vor

    Sind ja Wahn vor Stellungen.

    4.

    Das erste Mal, als er Birobidschan sah, war es gemalt. Auf einem großen Plakat, das eines Tages auf dem Platz des jüdischen Schtetls Ljuboml aufgetaucht war, sah Birobidschan aus, wie Boris sich den Garten Eden vorstellte. Berge mit weißen Gipfeln über flaschengrünen Abhängen und akkurat gepflügten Feldern. In der rechten unteren Ecke war ein ernster Bauer gezeichnet, der eine Heugabel hielt. Oben auf dem Bild stand in großer Schrift ein Wort, das Boris mühsam buchstabierte: »B-I-R-O-B-I-D-S-C-H-A-N«, was ihm wie ein Code erschien. Am unteren Bildrand stand in roten hebräischen Buchstaben, obwohl es gar kein Hebräisch war: »Ein jüdisches sozialistisches Paradies.«

    In einem Regime, das proklamierte, das Ende der Geschichte gebracht zu haben, muss die Zeit nicht linear fließen. Also gelangten erst die Plakate in die verschiedenen Schtetl, dann fuhren die Juden dorthin, um sich in der unendlichen Weite Felder zu pflügen und kleine koschere Häuser zu bauen, genau wie es auf dem Plakat abgebildet war. Das musste der beste Ort der Welt sein, dachten sich die ersten zweihundert jüdischen Familien, die dort 1934 als Pioniere ankamen. Die Juden aus Deutschland hatten zu dieser Zeit schon über manche Schwierigkeiten zu berichten, und den russischen Juden war klar, dass jene nun unter dem Faschismus leben mussten. In Birobidschan, wurde ihnen versprochen, wären sie sicher.

    Keiner der ersten Pioniere war heute noch da.

    Boris, der älteste lebende Birobidschaner, kam mit seiner Mutter erst fünf Jahre später. Doch auch im Jahre 1939 war Birobidschan noch kein Paradies, erst durch das, was sie den »zweiten Versuch« nannten, wurde es zu diesem schönen Ort, der damals vielleicht die letzte Zuflucht für sozialistische Juden war. »Vielleicht« die letzte Zuflucht, weil die Birobidschaner ihr Schtetl nicht so oft verließen und weil die »Verlassenden« – wie die vielen, die wieder gegangen waren, hier genannt wurden – nicht zurückkehrten, um zu berichten, ob es nicht vielleicht doch noch eine andere Zuflucht gab.

    5.

    Der Zweite Weltkrieg war für die Birobidschaner damals nur in jenen Geschichten fassbar, die sie darüber in der Moskauer Zeitung lasen. Diese kam einmal in der Woche und berichtete über Ereignisse, die zwei Wochen zuvor geschehen waren.

    Sascha saß auf seinem Schaukelstuhl auf der Veranda seines Hauses direkt gegenüber dem Bahnhof, als der Zeitungsmann aus Moskau kam.

    Er war ein rätselhafter Typ, dieser Zeitungsmann. Seine Gesichtsmuskeln bewegten sich nie. Er trug einen abgenutzten schwarzen Anzug über einem vergilbten Hemd, das früher weiß gewesen sein musste.

    »Guten Morgen, Herr Kaminski«, sagte Sascha.

    Wie üblich kein Gegengruß.

    »Was bringst du uns diese Woche? Lass mich wissen, was vor zwei Wochen hinter diesen Bergen geschehen ist! Was hat Genosse Stalin gesagt? Wie läuft es bei unseren Brüdern, den Arbeitern in Moskau? Sei nicht so schüchtern, Kaminski!«

    An diesem 20. September war der erste Schnee gefallen, und das Kaminski’sche Schweigen klang in Saschas Ohren lauter als gewöhnlich. Nicht nur sein Mund schwieg, sein ganzer Körper beteiligte sich am Schweigen, insbesondere seine Augen. Selbst als fünf Jungs ihm einen großen Schneeball direkt ins Gesicht warfen, verzog er keine Miene. Nicht mal den Kopf drehte er.

    »Sag mal, Kaminski, was ist los? Warum hast du deine verdammten Augen auf den Boden gerichtet? Suchst du dort was? Gold vielleicht? Merkwürdige Angewohnheiten hast du, Kaminski! Wenn es hier in Birobidschan Gold gäbe, hätten wir es sofort nach Moskau geschickt, darauf gebe ich dir mein Wort!«

    Keine Reaktion. Kaminskis Schweigen war hartnäckig, und nachdem er die Zeitung vom 6. September 1939 auf den Tisch neben Saschas Schaukelstuhl gelegt hatte, drehte er sich um und ging genau dahin, wo er herkam. Zur Bahn. Richtung Moskau. Oder nicht? Eigentlich wusste keiner, woher Kaminski kam. Er war einfach drei Jahre zuvor aus dem weißen Nichts erschienen und hatte die Zeitung gebracht.

    »Hallo«, hatte er gesagt, »das ist Ihre Zeitung.«

    Seitdem hatte er nie wieder etwas gesagt. Da es die Moskauer Zeitung war, die er brachte, vermuteten die Leute, er müsse wohl aus Moskau kommen. Aber niemand wusste es. Und niemand wagte, den sonderbaren Herrn zu fragen.

    Sascha bekam Gänsehaut.

    Er nahm die Zeitung, trug sie ins Haus und legte die Nadel des einzigen Grammofons von Birobidschan auf die einzige Schallplatte, die er besaß. Johannes Brahms’ dritte Symphonie, von den Königsberger Philharmonikern eingespielt, erklang, während Sascha Wasser in einem kleinen Topf zum Kochen brachte.

    Die Schlagzeile war groß und rot, und die kyrillischen Buchstaben versuchten drei lange Minuten (während Sascha die Zeitung auf den Tisch legte, Brahms ins Zimmer einlud und Zitronentee zubereitete), in seine Pupillen zu springen, es war fast wie ein Zweikampf, den er zunächst zu gewinnen schien. Erst als er in seinem Sessel Platz genommen hatte, erreichte die blutige Schrift sein Gehirn.

    Sascha Rosenzweig wohnte direkt am Bahnhof. Stalin hatte für ihn die Transsibirische Eisenbahn in diesem Tal zum Stehen gebracht, und Sascha war der Erste gewesen, der staunend auf diese Berge, Bäche und Seen geschaut hatte. Genau dort, wo er zuerst ausgestiegen war, hatte er später sein Haus gebaut.

    Jetzt war Sascha seit zwei Jahren arbeitslos, nach diesem Unfall auf der Bahnstrecke, durch den zwei seiner Freunde ums Leben gekommen waren und die Einwohnerzahl des Dorfes wieder unter fünfzig gesunken war. Über den Unfall selbst wusste man allerdings nur wenig, da Sascha nicht darüber sprach. Es gab zwar Gerüchte, aber Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps.

    Sascha Rosenzweig las ganz langsam und vorsichtig, was zwei Wochen zuvor passiert war.

    Wenn er nichts anderes zu tun hatte, war er Prophet. Er saß dann auf seinem Schaukelstuhl, wach, aber mit geschlossenen Augen und zusammengezogenen Brauen, intensiv grübelnd, sehend. Seine Gedanken wanderten in diesen Momenten über den Amur und entlang der Steinigen Tunguska. Sie flogen hin und her in dem ausgedehnten Land Sibirien, durch Raum und Zeit, bis zu jenem Ereignis am nördlichen Ufer des Flusses Tunguska.

    Dorthin war Sascha 1908 als Naturwissenschaftler geschickt worden, und er hatte erstaunt vor einer gespenstisch riesigen Waldlichtung gestanden. Die Menschen sagten, es sei ein Meteor gewesen, der da tief in den namenlosen Wald neben dem Fluss eingeschlagen war. Fünf Stunden lang hatte Sascha nur reglos in die Senke gestarrt, in der die entwurzelten Baumstämme auf dem Boden einen Kreis bildeten wie gefallene Mikadostäbchen, die Wurzeln in der Mitte und die Baumspitzen am Kraterrand.

    Dort flog er hin, wenn er prophezeite, und dort sah er jetzt, als ob es im Zentrum der Waldlichtung eine Singularität, ein Wurmloch gäbe, all die schrecklichen Begebenheiten, zerschundenen Leichen, gerinnenden Bäche von Blut und Tränen, Unmenschen sah er, die ihre allzu menschlichen Fantasien auslebten.

    Sascha war wieder da, im namenlosen Wald, doch er schaute nicht mehr hin, er konnte nicht. Er fühlte sich krank und musste sich übergeben. Eine Hand griff nach ihm, zog heftig an ihm und setzte ihn wieder in seinem kleinen Wohnzimmer ab. Dies alles hatte er schon in ähnlichen Momenten mit geschlossenen Augen in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda gesehen und jetzt hatte er seine Visionen zum ersten Mal in seinem kleinen Wohnzimmer.

    Sein Antlitz war von Entsetzen gezeichnet, als ihn schließlich der Nachbar fand.

    Erst einige Tage später, als ganz Birobidschan langsam und schweigend vom neu gegründeten Friedhof zurückkam und Repräsentanten des Dorfes in Saschas Haus gingen, um seine Habseligkeiten zu erfassen und gleich und gerecht zu verteilen (das Grammofon und der Brahms befinden sich noch heute im kleinen Rathaus), erst Tage später, wie gesagt, bekam jemand mit, dass Deutschland drei Wochen zuvor in Polen einmarschiert war.

    6.

    Kurze Zeit war Polnisch auf den Birobidschaner Straßen zu hören. Hunderte Neuankömmlinge flossen ins Dorf, das langsam seine Dörfität verlor und zu einem Städtchen oder Schtetl wurde.

    Doch der Zweite Weltkrieg bedeutete schließlich das Ende des »ersten Versuchs«, Birobidschan zu errichten.

    Die Männer mussten an die Front, doch das war nicht das Problem: Die Birobidschanerinnen wussten, wie man sich um sich selbst kümmerte. Genau wie das Städtchen den Plakaten ähneln wollte, noch bevor es dort etwas anderes außer ewigem Schnee gegeben hatte, versuchten auch die Männer, die Frauen und sogar die Kinder, den Plakatsozialisten zu ähneln, und die Frauen Birobidschans arbeiteten genauso hart wie die Männer.

    Die Probleme begannen, als die Männer nicht mehr zurückkehrten. Man konnte nicht gleich sein, ohne irgendwem zu gleichen, und die Frauen waren den Männern nicht gleich ohne ebendiese Männer. Und ohne diese Männer bemühte sich plötzlich ein Teil deutlich mehr als der andere, und das konnte der Sozialismus nicht ertragen.

    Aus demselben Grund versuchte eine Gruppe zeitgenössischer russischer Künstler, die Kosmisten, die Nikolai Fjodorow zitierten, durch ihre Kunst »den Tod zu überwinden« – denn auch beim Sterben waren ja nicht alle gleich, und irgendwie musste das Thema auf sozialistische Weise geregelt werden.

    7.

    Es war an einem Herbsttag im Jahr 1941, als die Transsibirische Bahn mit laut quietschenden Bremsen anhielt und Herr Kaminski wieder einmal ausstieg. Am Anfang sah er etwas überrascht aus, dann aber setzte er wieder seine gewohnte reglose Miene auf. Er schritt geradewegs die dreißig Meter vom Bahnhof zu jenem Haus, das früher Sascha gehört hatte und dann praktischerweise dem zugesprochen worden war, der jetzt der einzige Bahnmitarbeiter Birobidschans war: Schimon Josephow.

    Schimon war in das alte Haus vorsichtig und ängstlich eingezogen. Der Geist Saschas schwebte immer noch über und um den Schaukelstuhl auf der Veranda herum. Schimon hatte es zwei volle Jahre nicht gewagt, sich darauf zu setzen, und hatte den Stuhl nicht mal einen einzigen Zentimeter bewegt.

    »Guten Tag, Herr Kaminski!«, sagte Schimon.

    Kaminski nickte.

    Schimon fürchtete sich vor jedem Mittwoch, an dem dieser Kerl wiederkam. Alle hatten das Gefühl, dass Herr Kaminski den Tod des früheren Besitzers des Hauses verursacht hatte, wussten aber nicht genau wie und betrachteten ihn argwöhnisch, als ob er ein Hexer oder ein Kapitalist wäre.

    Fünf Minuten und dreißig Meter hinter Kaminski standen mindestens zweihundert Menschen, die große Mehrheit von ihnen Kinder.

    »Was ist denn das?«, fragte Schimon Josephow. »Seit Jahren sind Sie der einzige Mensch, der hier aussteigt … Wer sind denn auf einmal diese Leute?«

    Kaminski sagte nichts, sondern senkte nur den Kopf und reichte ihm die Zeitung.

    Die Ausgabe von Ende September erklärte es auf der ersten Seite: Die Juden aus den östlichen Teilen Polens wurden nun nach Sibirien geschickt. Sie hätten Glück gehabt, kommentierte der Journalist – hätten sie einige Kilometer weiter westlich gelebt, wären sie in die falschen Hände geraten.

    Schimon legte die Zeitung auf das Geländer der Veranda und dachte nach. Die Zeitung war zwei Wochen zuvor gedruckt worden, die glücklichen Juden hatten also zwei Wochen gebraucht, um hier anzukommen. Er schaute sie an. Sie sahen nicht sehr glücklich aus. Manche der Kinder waren so schmutzig, dass ihre Eltern sie nicht erkannt

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