Die Schauspielerin
Von Robert Heymann
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Buchvorschau
Die Schauspielerin - Robert Heymann
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Friedrich Limprunn war der letzte Käufer, der Gotthard Löhners Altertumsladen durchstöberte. Es war Abend. Die blinden Butzenscheiben an den kleinen Fenstern funkelten violett. Eine letzte Sonnensträhne senkte sich über den düsteren Raum im Erdgeschoss: über aufgestapelte Schränke und Kasten mit schwerem Schnitzwerk, Brokatstoffe und köstliche Tücher, indische Gewänder und Rokokodosen, englische Miniaturen, rauchdunkle Holländerbildnisse, verstaubtes Zinn und schmiegsame Zierdegen.
Er hatte seine Einkäufe beendet und verabschiedete sich mit einem scheuen Blick von Sibylle. Der Altertumshändler ging nach oben.
Sibylle blieb noch eine Weile allein zwischen den alten Sachen. Es dunkelte, und die düsteren alten Bilder begannen sich Geschichten zu erzählen, die nur Sibylle kannte. Sie stand endlich auf und ging hinaus, um die Läden zu schliessen. Vor den hochgiebeligen Häusern, die wie alte Prunkstücke aus einer versunkenen Zeit, ehrwürdig und steif, dastanden, brannten niedere Öllaternen. Diese verschwiegene Strasse trieb einen zärtlichen Luxus mit sich selber. Die Bürgersteige waren blitzblank, hinter sauberen Fenstern sah man helle und geblümte Gardinen, und die riesigen Messing- und Kupferringe an den schweren, eichenen Toren blinkten wie Gold. Sibylle schloss noch die Haustür, dann ging sie hinauf.
Die Mutter gab ihr einen Brief. „Von Tante Olga." Der Ton ihrer Stimme verriet einen Missklang in den verwandtschaftlichen Beziehungen.
Sibylle riss den mattblauen Umschlag auf. „Ich bin morgen zum Tee geladen," sagte sie freudig erregt.
Die Mutter warf einen fragenden Blick auf den Vater. Der steckte den Kopf in die Zeitung. Ein Wink, dass er keine Autoritätsstreitigkeiten wünschte. Sibylle war es zufrieden und lenkte die Aufmerksamkeit schnell auf einen anderen Gesprächsstoff. „Wer war der Herr, der heute bei uns Einkäufe gemacht hat?"
Löhner sah aus seiner Zeitung auf
„Friedrich Limprunn, Sohn und Erbe des Fabrikbesitzers im Erlengrund, Millionär. Ist vor kurzem erst aus Amerika zurückgekehrt, wo er die Maschinenindustrie studiert hat. Tüchtiger Junge, glaube ich."
Sibylle dachte: Also der Sohn des Millionärs im Erlengrund. Ihre Gedanken wanderten zur Maschinenindustrie; sie machte sich eine dunkle Vorstellung von rauchenden Hochöfen, riesigen qualmenden Schlöten, einer schwarzen Arbeitermasse und luftwarmen Bureaus, in denen die Millionäre sassen und rechneten, immer nur rechneten. Ein sehr trauriges und lichtleeres Leben, dachte sie. Und der Erbe dieser zweifelhaften Herrlichkeiten tat ihr leid.
Tante Olga wohnte in der neuen Königstrasse. Dort macht der Luxus sich in hohen Häusern mit schweren Fassaden und Stukkaturen breit. Laden reiht sich an Laden.
Beide Hände streckte ihr Tante Olga entgegen. Sibylle umarmte sie stürmisch. Frau v. Granichstetten drückte ihre Lippen auf den frischen Mund der Nichte.
„Nun komm schon herein, Kleine, und erzähle, wie es dir in der Schweizer Zwangserziehungsanstalt gegangen ist! Vor einer halben Stunde kommen keine Gäste, wir haben also reichlich Zeit zum Plaudern. Blass siehst du aus, Kindchen! Man merkt dir schon wieder den Aufenthalt in dem muffigen Laden Gotthards an. Will er denn noch immer nicht einsehen, dass du nicht ewig als Postamentfigur zwischen seinem alten Kram sitzen kannst?"
„Er ist der alte. Weisst du, was mein Wunsch wäre? Höre! Eines Tages gastierte eine Schauspielertruppe in der Nähe unserer Pension am Genfer See. Wir waren nachmittags nach Chillon gefahren. Ach, Tante! Grüne Matten, schwarzblaue Wälder, weisse Billen, träumende Dörfer mit prangenden Obstgärten — wer das in Worte fassen könnte! Und so blau der See, untiefenblau. Wie ein Ungeheuer aus der Vorzeit reckt sich ein massiver Felsen zur Oberfläche in den flimmernden Äther. Auf dem Rücken wächst Chillon empor mit seinen wirren Mauern, die dunkel und drohend sich an den trotzigen Turm herandrängen. Ich lehnte abseits an einem Stamm, als eine kleine Reisegesellschaft sich uns näherte. In Nachdenken und Schauen versunken, bemerkte ich nicht, dass ein Herr neben mir stand. Erst auf eine Bewegung hin wandte ich mich um. Wir sahen uns in die Augen. Er hatte ein schmales Gesicht mit feinen, nervösen Zügen. Wir sahen uns an und wussten, dass wir uns viel, unendlich viel zu sagen hatten. Ich fühlte, dass ich vor Verlegenheit erbleichte; wir blickten wieder auf den See hinaus. Weit in der Ferne schimmerten einige Villen elfenbeinhell herüber. Nun war das ganze Schloss in eine gelbe Ockerglut getaucht, graugrün plätscherte die Flut an die Treppen, und die Mauern standen violett im Seegrund. Als ich mich wieder umwandte, war der junge Herr an meiner Seite verschwunden. In der Ferne vernahm ich eine Frauenstimme. ‚Die Dame in der grünen Seidenrobe mit den Stickereien ist Fräulein Toto, die berühmte Schauspielerin. Wir werden heute abend ihre Vorstellung besuchen,‘ sagte Madame Lupe, unsere Führerin."
Frau v. Granichstetten unterbrach die Nichte. „Was, Toto war am Genfer See? Hat dort gastiert?"
„Im Cyrano von Bergerac."
„Und der junge Herr von Schloss Chillon?"
„Hiess Jörg Jürgen."
Wenn ich das gewusst hätte, dachte Frau Olga, würde ich das Kind nicht heute geladen haben. Oder hätte wenigstens Jürgen abgeschrieben.
„Ja, entgegnete sie. „Jürgen kommt heute zu mir.
Sibylle legte das Haupt in den Nacken und lächelte.
Der Diener trat zwischen die breite Flügeltür und meldete: „Exzellenz General v. Tannen."
Sie sassen in dem kleinen blauen Salon. Die Aufmerksamkeit der jungen Herren gehörte fast ungeteilt dem Fräulein Sibylle. Doch eine geheime Unruhe hielt das junge Mädchen befangen. Sibylle sah immer wieder nach der hohen Tür, durch die der Diener lautlos einzutreten pflegte, wenn er einen neuen Gast anmeldete. Man nahm schon den Tee, und Sibylle dachte mit aufrichtigem Bedauern, Jörg Jürgen würde wohl in letzter Stunde abgehalten worden sein, als der Diener seinen Namen in den Salon rief. Einige Köpfe drehten sich dem jungen Schauspieler zu. Frau v. Granichstetten begrüsste ihn mit besonderer Herzlichkeit und stellte ihn einigen Herren vor, die ihn nicht persönlich kannten.
„Und hier sollen Sie auch gleich meine Nichte kennen lernen — Herr Jörg Jürgen — Fräulein Sibylle Löhner."
Eine dunkle Welle färbte Sibylles Gesicht und tauchte ihre Augen in eine seltsam tiefe Glut. Jörg Jürgen war verblüfft. Frau Olga studierte sein Gesicht und zog wieder die Brauen hoch wie vorher, als der Bericht der Nichte sie beunruhigt hatte.
Weder Sibylle noch Jörg Jürgen berührten die Begegnung am Genfer See. Das fiel Frau Olga auf. Vielleicht erinnert er sich gar nicht mehr daran, dachte sie. Sie sah nach Sibylle, die sich mit einer anmutigen Bewegung eine eigensinnige Locke aus der Stirn strich. Schliesslich tat sie ihre Befürchtungen mit einem innerlichen Lächeln ab. Sibylle und Jörg Jürgen blieben sich selbst überlassen im blauen Salon. Dieses Zimmer war so hoch, dass man meinte, leichter Atem zu holen. Langsam ging Sibylle zu dem hohen Fenster, das bis zur Decke reichte. Jörg Jürgen folgte ihr.
Noch dachte er darüber nach, ob nicht eine Ähnlichkeit ihn täuschte. Als Sibylle aber vor dem hellen Vorhang stand, der die Überfülle des Lichtes dämpfte, fiel auf ihre Züge derselbe opalene Zauber wie an jenem Tage. Er begann ganz leise davon zu sprechen. Sibylle sah mit einem sehnsüchtigen Blick durch das Fenster. Es war, als berührten sie beide die Erinnerung an ein grosses Geschehnis, an etwas, das man fast nicht antasten sollte.
„Erinnern Sie sich denn noch an diesen Augenblick?" fragte Sibylle und wandte ihm das Gesicht zu.
„Ich erinnere mich. Sie haben recht: es war nur ein Augenblick. Aber er bleibt mir unvergesslich. Ist es Ihnen nicht schon geschehen, gnädiges Fräulein, dass kleine Vorkommnisse im Leben mit der Deutlichkeit eines festgehaltenen Bildes vor einem stehen, während scheinbar wichtige Ereignisse, Katastrophen, Konflikte und Dinge, die einem einst unersetzliche Herrlichkeiten oder lebenserschütternde Dramen