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Sechs Stunden zu verlieren: Roman
Sechs Stunden zu verlieren: Roman
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eBook313 Seiten4 Stunden

Sechs Stunden zu verlieren: Roman

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Über dieses E-Book

Der Zug aus Compiègne fuhr langsam in den Bahnhof ein, aber ich wußte, daß niemand auf mich wartete. Meine Begleiter waren alle aufgestanden, beladen mit ihren unförmigen Paketen, jeder von ihnen schon in seinem alten Gewand, seiner alten Seele isoliert, die sie zweifellos unter den Glasdächern sahen. Sie hatten Adressen ausgetauscht und sich verabschiedet, aber sie selbst waren nicht mehr da. Bevor sie aus dem Wagen gesprungen waren, waren sie schon in der dichten Menge, die ich über ihre Schultern hinweg sehen konnte und die durch die Absperrungen nur schlecht eingedämmt wurde. Ich kannte sie übrigens nicht sehr gut, denn ich war in Compiègne von meinen Lagerkameraden getrennt worden, und Paris war für mich nur eine Zwischenstation. Ich hatte niemanden bitten wollen, mir entgegenzukommen, und bereute es jetzt. Es ist immer traurig, allein an einem Bahnhof anzukommen, an dem man nicht erwartet wird, und ich, der ich von den Erinnerungen an eine üppige Vorkriegszeit lebte, hatte mit Mißfallen auf einer Anzeigetafel entdeckt, daß ich erst am späten Mittag einen Zug würde nehmen können, um weiterzureisen. Sechs Stunden würde ich in Paris verbringen müssen. Sechs Stunden, die ich zwischen zwei Bahnhöfen verlieren würde; und die jetzt, da ich meinem Ziel so nahe war, meine Ungeduld mehr quälten als die vierzig Monate meiner Gefangenschaft.

Meine Kameraden sprangen auf den Bahnsteig, ich folgte ihnen. Auf dem Rücken trug ich nur einen alten Bergsack, eine Erinnerung an frühere Campingetappen, in dem ich am Vorabend der Niederlage alles zusammengepackt hatte, was ich in den vierzig Monaten brauchen würde, die ich nicht vorausgesehen hatte. Den Rest hatte ich in einer kleinen quadratischen Pappschachtel und der alten Tasche meiner obligatorischen Gasmaske. Andere waren noch mit Koffern und Taschen beladen, aber ich hatte die Bücher, die ich während meiner Gefangenschaft erhalten hatte, im Lager gelassen. Ich liebe es, das Leben ohne Gepäck anzugehen...
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum9. Jan. 2024
ISBN9783989831711
Sechs Stunden zu verlieren: Roman
Autor

Robert Brasillach

Robert Brasillach est un écrivain, journaliste et critique de cinéma français. Ancien élève du lycée de Sens où il a pour professeur Gabriel Marcel, Robert Brasillach est, après trois ans de classe préparatoire littéraire au lycée Louis-le-Grand, admis à l'École normale supérieure en 1928, période qu'il décrira longuement dans les premiers chapitres de Notre avant-guerre, livre de mémoire écrit en 1939-1940. Il assura une chronique littéraire dans le quotidien L'Action française et dans L'Étudiant français durant la première moitié des années 1930.

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    Buchvorschau

    Sechs Stunden zu verlieren - Robert Brasillach

    Sechs Stunden

    zu verlieren

    Roman

    von

    Robert Brasillach

    impressum

    Sechs Stunden zu verlieren

    Roman

    Übersetzt aus dem Französischen

    Originaltitel: Six heures à perdre

    Autor: Robert Brasillach

    Übersetzer: Karl Goschescheck

    Erscheinungsdatum: 19. Oktober 2023

    © 2023 Meinovia Verlag

    Alle Rechte vorbehalten.

    Meinovia Verlag

    Karl Goschescheck

    Am Wildpark 8/8

    9073 Klagenfurt

    Austria

    www.meinovia.com

    www.facebook.com/meinoviaverlag

    ISBN: 978-3-98983-171-1

    Verlag GD Publishing Ltd. & Co KG, Berlin

    E-Book Distribution: XinXii

    www.xinxii.com

    logo_xinxii

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    Inhalt

    I. Teil: Heimkehr

    I. Zwischenstation

    II. Wintergeister

    III. Das tägliche Blut

    II. Teil: Der Fronturlaub

    I. Das Blumenmädchen

    II. Schwarze Messe

    III. Momente

    IV. Die offene Tür

    III. Teil:Die schwarze Fahne

    I. Marie-Ange

    II. Bittere Hochzeit

    III. Abwesenheit eines Kindes

    IV. Die Zeit des Abscheus

    V. Vorbereitungen des Schicksals

    VI. Die Morgenröte

    VII. Epilog

    I. Teil

    Heimkehr

    Les cavales qui m’emportent

    n’ont mené où mon âme me poussait.

    Parménide.

    I.

    Zwischenstation

    Enfin, je te salue, j’ai tiré mes cinq ans,

    Je reviens à mon domicile.

    Aristophane

    (Les Acharniens).

    Der Zug aus Compiègne¹ fuhr langsam in den Bahnhof ein, aber ich wußte, daß niemand auf mich wartete. Meine Begleiter waren alle aufgestanden, beladen mit ihren unförmigen Paketen, jeder von ihnen schon in seinem alten Gewand, seiner alten Seele isoliert, die sie zweifellos unter den Glasdächern sahen. Sie hatten Adressen ausgetauscht und sich verabschiedet, aber sie selbst waren nicht mehr da. Bevor sie aus dem Wagen gesprungen waren, waren sie schon in der dichten Menge, die ich über ihre Schultern hinweg sehen konnte und die durch die Absperrungen nur schlecht eingedämmt wurde. Ich kannte sie übrigens nicht sehr gut, denn ich war in Compiègne von meinen Lagerkameraden getrennt worden, und Paris war für mich nur eine Zwischenstation. Ich hatte niemanden bitten wollen, mir entgegenzukommen, und bereute es jetzt. Es ist immer traurig, allein an einem Bahnhof anzukommen, an dem man nicht erwartet wird, und ich, der ich von den Erinnerungen an eine üppige Vorkriegszeit lebte, hatte mit Mißfallen auf einer Anzeigetafel entdeckt, daß ich erst am späten Mittag einen Zug würde nehmen können, um weiterzureisen. Sechs Stunden würde ich in Paris verbringen müssen. Sechs Stunden, die ich zwischen zwei Bahnhöfen verlieren würde; und die jetzt, da ich meinem Ziel so nahe war, meine Ungeduld mehr quälten als die vierzig Monate meiner Gefangenschaft.

    Meine Kameraden sprangen auf den Bahnsteig, ich folgte ihnen. Auf dem Rücken trug ich nur einen alten Bergsack, eine Erinnerung an frühere Campingetappen, in dem ich am Vorabend der Niederlage alles zusammengepackt hatte, was ich in den vierzig Monaten brauchen würde, die ich nicht vorausgesehen hatte. Den Rest hatte ich in einer kleinen quadratischen Pappschachtel und der alten Tasche meiner obligatorischen Gasmaske. Andere waren noch mit Koffern und Taschen beladen, aber ich hatte die Bücher, die ich während meiner Gefangenschaft erhalten hatte, im Lager gelassen. Ich liebe es, das Leben ohne Gepäck anzugehen, und es war das Leben, das ich wieder einmal, diesmal über dreißig, anzugehen wagte, wie ich es schon mehrmals getan hatte, zum Beispiel vor zwölf oder dreizehn Jahren, als ich Paris verließ, um nach Afrika oder in den Krieg zu gehen. Dieses Afrika, in dem ich das Beste von mir zurückgelassen hatte, kam für mich nicht mehr in Frage, nachdem ich im Exil gesehen hatte, wie es sich in jenen Tagen des letzten Jahres, in einem so grausam hellen und milden November, wie ein riesiges sinkendes Schiff von mir entfernte. Aber wenn ich meine Vergangenheit liebe, kann ich auch mit großer Neugier auf die Verheißungen der Zukunft warten, und ich habe genug Vertrauen in sie, um ihr inmitten des schlimmsten Unglücks zu lauschen.

    Die Herde der Heimkehrer drängte sich schon vor den Absperrungen, wo Frauen winkten und Vornamen riefen. Niemand rief meinen Namen. Männer mit Armbinden standen unter einem Gewölbe mit Schildern, die auf Aufnahme- und Erholungszentren hinwiesen. Blau gekleidete Krankenschwestern begleiteten sie. Der Anblick mußte den Menschen, die auf andere Züge wartete, seit mehr als drei Jahren vertraut gewesen sein, denn ich sah nicht viele Augen, die sich von diesem für mich, auf den jedoch niemand lauerte, unerhörten, herzzerreißenden Anblick abwandten, an den wir seit mehr als drei Jahren gedacht hatten. In Compiègne hatte ich durch das Gewirr einer offiziellen Organisation, die übrigens gut durchdacht war und einen guten Eindruck auf mich gemacht hatte, bereits eine ähnliche Gleichgültigkeit in der anonymen Menge der Vorarbeitern und Angestellten zu erkennen geglaubt. Aber Compiègne, das war die erste Freude der Heimkehr, die Ansprachen des Präfekten und des Delegierten des Kommissariats für die Gefangenen, die Betäubung einer Kontaktaufnahme; hier war ich allein unter diesen Kameraden, die fast alle einen Vater, eine Frau, einen Bruder vor sich hatten, ich war allein und frei zu schauen und zu verstehen, schon ein wenig verbittert. Ein Träger grummelte, weil ein Gefangener ihn angefahren hatte. Ein dicker Mann, der zu seinem Zug rannte, schnitt zwei oder drei Reihen, ohne auch nur zu sehen, wen er anrempelte. Aus den diskreten Briefen von Heimkehrern, die im Lager eintrafen, hatte ich von den ständigen Veränderungen erfahren, die sich jeden Tag seit den ersten Entlassungen vollzogen, die früher im Gare de l’Est² oder im Gare du Nord³ unter dem Jubel einer ergriffenen Menge empfangen wurden. Jetzt sah ich es mit eigenen Augen, denn ich war allein, und meine Kameraden konnten es zum Glück nicht sehen.

    Einige der Heimkehrer, brave, unwissende Bauern, die Paris nicht kannten, wurden von niemandem erwartet und zögerten vor den Schildern: Ich sah, wie Jungen und Mädchen sie mit einer freundlichen Freude aufnahmen, die mich erfreute, und sie zweifellos zu einer provisorischen Unterkunft führten, während sie auf ihren Zug in die Beauce⁴ oder in die Normandie warteten. Es waren natürlich nur sehr wenige Offiziere in dem Konvoi, vielleicht ein Dutzend von 500 bis 600 Mann. Ich brauchte keinen Unterschlupf, mein Gepäck war nicht schwer, es war 10 Uhr morgens, und der Novemberhimmel von 1943, den ich hinter den Fenstern des Wagens sah, war herbstlich mild. Wäre es schließlich nicht auch für mich schön, diese sechs Stunden in dem Paris zu verlieren, das das Paris meiner Jugend gewesen war und das ich somit wiederentdecken würde? Ich sammelte mein Wissen von früher, mein Wissen als Zivilist, um meine Pakete in der Gepäckaufbewahrung abzugeben, wo sie ohne ein Wort registriert wurden, und ging hinaus.

    Den Boulevard de Magenta in Paris nach Jahren der Abwesenheit wieder zu entdecken, gehört nicht zu den Wohltaten, für die man das Zivilleben loben sollte. Es gibt nur wenige Viertel, die mehr benachteiligt sind. Dennoch betrachtete ich ihn mit beiden Augen, ängstlich darauf bedacht, das kleine Zeichen von Freundschaft zu entdecken, das mir meine vergangenen Jahre dort gegeben hätten. Ich hatte in dieser Hinsicht nicht viel zu tun. Am Gare du Nord und am Gare de l’Est war ich in früheren Zeiten nur selten gewesen, außer während des Krieges. Aber das war Paris, sein Asphalt, der immer ein wenig glänzte, seine verrauchten Häuser. Es dauerte zehn Minuten, bis ich merkte, daß es menschenleer war, ohne seine unzähligen Autos, und erfüllt von einer Stille, die mich hätte erschüttern müssen. Ich muß zugeben, daß ich diese Stille erst im Nachhinein wahrnahm, denn ich kam von noch weniger lauten und noch weniger belebten Orten.

    „Wirklich, sagte ich mir, „es gibt keine Autos mehr. Ich hatte es in der Zeitung gelesen, aber ich konnte es mir nicht vorstellen, diesen Anblick, wie an einem Morgen des 15. August, diese langen Alleen, an denen nur ein einziger Lastwagen vorbeifuhr.

    Ich sagte mir das eher aus Gewissensgründen, denn ich war eigentlich Lärm und Autos so sehr entwöhnt, daß mich ihre Anwesenheit eher überrascht hätte. Ich versuchte also nicht, Paris zu sehen, nicht einmal, es mit dem Paris zu vergleichen, das ich gekannt hatte, sondern vielmehr, es mit dem imaginären Paris in Einklang zu bringen, das ich mir im Lager aus einigen Photos in Zeitschriften und Zeitungsartikeln zusammengesetzt hatte, die übrigens fast alle auf den Beginn meiner Gefangenschaft zurückgingen, also altmodisch waren.

    „Wo sind denn diese Busse mit den großen Tanks, fragte ich mich. Sie sahen ein bißchen so aus wie die Londoner Bussen auf den Bildern im Trait d’Union. Ich habe noch keinen gesehen".

    Doch plötzlich fiel mir ein, daß in den Zeitungen kürzlich angekündigt wurde, daß weitere Buslinien aus Spargründen eingestellt werden sollten.

    „Was ist mit den Droschken? Was ist mit den Fahrradtaxis?"

    Als ich den Gare du Nord verließ, hatte ich nicht einmal darauf geachtet, daß dort Fahrradtaxis auf Fahrgäste warteten. Am Gare de l’Est sah ich sie wieder, seltsame Gespanne, Körbe oder Kutschen, die an einem auf den Boden gekippten Fahrrad oder Tandem befestigt waren, während ein kräftiger Mann mit nackten Beinen auf den Kunden wartete. Es gab keine Droschken und ich dachte, daß ich dieses Paris aus dem Jahr 1900, das ich mir hinter meinem Stacheldraht ausgemalt hatte, vielleicht ins Reich der Träume verbannen sollte. Ich wäre gern in einer Droschke durch die Stadt in ein schöneres Viertel gefahren. Das menschliche Gespann gefiel mir nicht, ja, es schockierte mich sogar. Sollte ich mich mit der U-Bahn abfinden? Aber in der U-Bahn würde ich die Straßen nicht mehr sehen können, und von diesem Vergnügen war ich schon zu lange entwöhnt.

    Immerhin gab es dort Frauen. Es stimmte, daß es Frauen gab. In diesem Punkt hatten die Träume und die gedruckten und handgeschriebenen Berichte nicht gelogen. Ich betrachtete diese merkwürdigen Tiere, deren – selbst stumme – Anwesenheit für mich seit mehr als drei Jahren so seltsam ausgelöscht worden war. Vielleicht hatte sich die Mode nicht so sehr geändert, wie ich hätte befürchten können, jedenfalls nicht in den meisten Fällen. Ich bemerkte bald, daß viele der Frauen, denen ich begegnete und die aus allen Gesellschaftsschichten stammten, hohe Schuhe mit riesigen Holzsohlen trugen, die mir nicht unansehnlich erschienen. Die Hüte, ja, die Hüte hatten sich wirklich verändert. Sie waren ziemlich groß, wie mir schien, und saßen komisch auf dem Kopf. Das müßte man sich mal genauer ansehen. Wenn man ankommt, gibt es so viel zu betrachten, daß man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Die Kleider sahen ein bißchen alt, wahrscheinlich abgetragen. Aber es sind nicht nur die Kleider, die ich anschauen muß. Da sind die Gesichter, da ist der Körper, den man erahnen kann. Wie erstaunlich, eine Frau im Raum, dieses anmutige, geschnallte Ding, das vortritt, dieser kleine Duft, den es wie eine Spur hinterläßt, und dieses weiche, ein wenig bemalte Gesicht! Auch von den Frauen, mein Gott, mehr noch als von Paris, haben wir uns ferne Bilder gemacht, und sie sind es, die ich über meine Vision zu legen versuche.

    Eine von ihnen dreht sich um und lächelt mich an. Sie ist jung. Wenn ich das Alter von Frauen noch an ihrem Blick ablesen kann, muß sie zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig sein. Sie wird gleich um eine Ecke biegen, bleibt aber erst einmal stehen, läßt mich einholen und sagt, bevor sie verschwindet:

    – Willkommen zurück, Herr Leutnant, und viel Glück.

    Ich bin verblüfft. Es stimmt, daß ich eine Uniform trage, der Spiegel vor mir zeigt mir mein Bild. Eine schäbige, verblichene Uniform, aber noch sauber. Insgesamt denke ich, daß französische Uniformen in Paris wohl eher selten sind. Es ist nicht sehr schwer zu erraten, daß ich aus der Kriegsgefangenschaft heimkehre. Trotzdem ist dies das erste freundliche Wort, das seit meiner Rückkehr außer den offiziellen an mich gerichtet wurde. Und es war ein junges Mädchen. Ich weiß nichts von ihr, ich werde nie wieder etwas von ihr hören. Ich kann mich nicht einmal an ihr Gesicht erinnern, nur an ihre kleine, liebliche Gestalt und das Klappern ihrer Holzabsätze. Sie ist verschwunden. Lebe wohl, meine Botin! Sie ist die erste Frau, so scheint es mir, der ich begegnet bin, und das ist mir lieb.

    Meinen Mantel habe ich zusammen mit meinem Gepäck in der Aufbewahrung gelassen. Der November kommt mir lauwarm vor, und ich friere wohl weniger als früher. In Westfalen bin ich immer ohne Mantel von Block zu Block gegangen, auch in diesen ersten so strengen Wintern. Es stimmt, daß es in den Zimmern warm war. Wenn ich mein Gesicht im Spiegel dieses Lederwarengeschäfts betrachte, habe ich vielleicht einige Illusionen, es scheint mir nicht, daß ich mich verändert habe: Wenn ich erst einen Zivilanzug trage, werde ich das wahrscheinlich besser beurteilen können. Aber ich schaue mir auch die Sachen an, die im Schaufenster stehen. Es sind immer noch viele, auch wenn sie mir ärmlich vorkommen. Diese Taschen sind aus Pappe, diese Koffer aus Holz oder aus seltsamen Materialien, die ich nicht zuordnen kann. All das kostet oft mehr als früher das schönste, das von den berühmtesten Namen signierte Leder. Ich habe die Preise weder in den Zeitungen noch in den Briefen der Heimkehrer gelesen und bin erstaunt, daß eine Handtasche aus Stoff, Glanzpapier oder Bast offiziell zwischen 1000 und 3000 Franken kostet. Ja, ich muß mir die Läden ansehen, das ist auch eine Erkundung, die ich machen muß. Aber ich glaube, ich schaue mir zuerst die Frauen an.

    Was soll ich mit meinen sechs Stunden anfangen? Sie haben gerade erst begonnen, und ich werde sie doch nicht damit verbringen, den Boulevard de Strasbourg⁵ und den Boulevard de Sébastopol⁶ entlangzulaufen? Ich habe keine Freunde mehr in dieser Stadt, so scheint es mir zumindest. Früher hatte ich welche, die sich im Vaugirard⁷ meiner Jugend verirrt hatten, aber wer weiß, was aus der kleinen Anne und Madame Pluche, der Kartenzieherin, geworden ist? Würde ich es wagen, unvermittelt nach dem Geist so weit zurückliegender Jahre zu suchen, in diesen beliebten und köstlichen Vierteln, in die ich nie zurückkehren wollte? Ich glaube, ich sollte lieber sehen, ob ich nicht eilige Nachrichten von noch im Lager verbliebenen Kameraden an ihre Familien überbringen könnte. Und im übrigen werde ich zweifellos wieder mal nach Paris zurückkehren.

    Auf dem Boulevard, nicht weit vom Gare de l’Est entfernt, fasse ich den Plan, mich in einem fast menschenleeren Café ans Fenster zu setzen. Der Kellner kommt und fragt mich, was ich möchte, und ich erinnere mich, gelesen zu haben, daß es in den Zeiten, in denen wir leben, fast nichts mehr zu trinken gibt. Instinktiv schaue ich auf den Tresen, der seines Zinks beraubt wurde, und stelle enttäuscht fest, daß der Unterschied nicht so groß ist, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich muß mir die Manie abgewöhnen, das reale Paris mit dem Paris der Zeitungen zu vergleichen, das ich in meinem Exil wieder aufgebaut hatte. Ich habe gehört, daß ich einen „Kaffee haben kann, also möchte ich einen „Kaffee.

    – Sie kommen aus der Kriegsgefangenschaft zurück, Herr Leutnant? fragt mich der Kellner mit einem recht freundlichen Gesichtsausdruck.

    – Heute morgen.

    – Da freut man sich, nicht wahr?

    – Es ist eine Freude.

    Dann stellt er fest, – man hat mich gewarnt, daß dies ein Ritual sei, wie damals beim Fronturlaub:

    – Sie sehen gut aus.

    Ich antworte ihm nicht. Aber er beugt sich zu mir, zuckt mit den Schultern und sagt:

    – Wie auch immer, jetzt hätte es nicht mehr lange gedauert.

    Wenn ich das richtig verstanden habe, ist der Krieg in ein paar Tagen vorbei und ich habe eine tolle Vorstellung verpaßt, weil ich so früh heimgekehrt bin. Lieber Kellner! Auch diesmal antworte ich ihm nicht, sondern betrachte ihn voller Rührung, wie er auf seinen alten Schuhen schlurft, die schmutzigweiße Schürze Schürze über die schwarzen Beine gespannt, mit seinem Vogelschnabel und seinem kahlen Schädel. Es ist schließlich Frankreich, das mich empfängt, viel mehr vielleicht als die kleine gute Frau, die mich vorhin angelächelt hat. Lieber Kellner! Sein „Kaffee" ist scheußlich, viel schlimmer als das Gebräu aus Gerste und Eicheln, das man uns im Lager servierte. Aber auch das ist ein guter Willkommenstrunk. Meine Heimat ist wieder da.

    Ich schaue auf das kleine graue Notizbuch mit dem Adler, das ich in der Kantine des Lagers gekauft habe und in dem die Namen der Tage auf Deutsch stehen. Es enthält etwa 80 Adressen von Familien, denen ich versprochen habe zu schreiben oder die ich versuchen werde, zu besuchen. Ziemlich wenige Pariser, andere Kameraden haben sich darum gekümmert. Ich werde einen langen Bericht über das Leben dort schreiben müssen, den ich, wenn es noch möglich ist,  vervielfältigen lassen und dann an alle schicken werde. Ich nehme an, daß die Familien inzwischen ziemlich gut informiert sind, viele Nachrichten wurden ihnen gebracht, aber es gibt immer noch einige materielle Details, die man vergißt, ihnen mitzuteilen, und die sie gerne wissen möchten. Wie sehr erinnern mich diese Namen an Gesichter, wie sehr bin ich noch durch tausend Bande mit den endlosen Tagen dort verbunden! Es ist kurz nach 10 Uhr, wenn das Wetter so schön ist wie hier, und ich weiß, daß einige ihre Runden auf dem Marschfeld aus roter Erde drehen, während andere, den Hocker auf den Schultern, gerade aus der Vorlesung über Religionsgeschichte von P. Rogissel kommen. Soll ich gleich die Frau des kleinen Sornin und die Schwester des dicken Lefort anrufen? Diejenigen, die ich zurückgelassen habe und die ich am besten kenne, sind keine Pariser. Nein, entschieden, ich werde bis nächste Woche warten, wenn ich meine Mutter wiedergesehen habe, die noch nicht weiß, daß ich hier bin.

    Und dennoch... glaube ich, daß Berthier mir einen Namen gegeben hat, er, der nicht aus dieser Stadt stammt, einen Namen, den ich in diesen letzten Monaten, in denen ich mich so sehr mit ihm verbunden habe, immer wieder gehört habe. Wie töricht, zu glauben, daß ich Marie-Ange Oliver finden könnte! Im Mai 1940 wohnte sie in einer Art Hotel oder Pension in der Rue des Feuillantines.⁸ Ist es sehr wahrscheinlich, daß sie noch dort ist? Und welche Erinnerung könnte sie an Berthier behalten haben? Das fragte er sich selbst halb im Scherz, als er mir ihre Adresse gab. Sie hat ihm während des Krieges geschrieben und seitdem nie mehr. Aber ich weiß genau, daß er sich freuen würfe, wenn ich ihm Neuigkeiten über dieses seltsame Mädchen erzählen könnte, von dem ich das kleine verblaßte Photo wieder sehe, eine dunkelhaarige, schlecht gekleidete Internatsschülerin mit dem verschüchterten Gesicht eines undankbaren Alters. Ich habe in diesen Jahren genug Vertrauliches gehört, um zu wissen, daß Tausende von Männern um einen Frauennamen herum die erstaunlichsten Illusionen kristallisiert haben, Tausende von Romanen ohne Bezug zur Realität wiederaufgebaut haben und eines Tages dieser Realität, ob legitim oder illegitim, begegnen werden. Bruno Berthier hatte genug Vertrauen in mich. Ich habe sechs Stunden zu verlieren. Ja, meine erste Aufgabe als Heimkehrer könnte darin bestehen, zu versuchen, die Wahrheit über Marie-Ange Oliver herauszufinden und sie, wenn ich kann, dem besten der Freunde zu schreiben, die ich dort zurückgelassen habe.

    Ich rufe den Kellner und zahle. Es ist das erste Geld, das ich auf dem Boden meiner Heimat ausgebe. Im Lager hat man mir das zurückgezahlt, was ich bei meiner Gefangennahme bei mir hatte, einige tausend Franken. In Compiègne wurde mir eine kleine Summe vorgeschossen. In der Intendanz wartet ein Vermögen auf mich, der Sold für diese vierzig Monate, von denen ich in Deutschland nur 80 Mark im Monat erhalten habe. Wenn ich das diesem Kellner, diesem lieben Franzosen, meinem ersten Landsmann, erzählte, würde er mir mit Sicherheit sagen, daß die Gefangenschaft ein gutes Geschäft sei. Sagen wir ihn nicht, daß in einer Vorstadtbastion einige zehntausend Franken auf mich warten und mir ermöglichen werden, diese ersten Wochen unter der Bedingung zu überstehen, daß ich, wenn ich es richtig verstehe, den Kindern, die mich auf meinem Weg anlächeln werden, nicht zu viele Damentaschen schenke.

    Aber ich habe mich noch nicht ganz an mein neues Leben gewöhnt und vergesse in der Metro, eine Fahrkarte zu kaufen. An der Tür steht eine Frau, rund und frisch, mit sauerstoffblondem Haar, das sich unter ihrer Mütze lockt. Auch sie sahcuen ich liebevoll an, am liebsten würde ich ihr mein Herz zu Füßen legen. Aber ich habe keine Fahrkarte, sage ich ihr.

    – Sie sind ein Heimkehrer? fragt sie mich.

    – In diesem Moment. Ich habe mich noch nicht wieder daran gewöhnt.

    – Kommen Sie doch vorbei, sagt sie und lacht. Ein Heimkehrer braucht keine Fahrkarte.

    Ich weiß nicht, ob das die Vorschrift ist, ich glaube es nicht. Aber ich danke ihr, nicht dafür, daß ich die Treppe nicht wieder hinaufsteigen muß, nicht für das kleine Geschenk, das sie mir im Namen

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