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Die Phantome des Hutmachers
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eBook282 Seiten6 Stunden

Die Phantome des Hutmachers

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Über dieses E-Book

Der angesehene Hutmacher Léon Labbé und der kleine Schneider Kachoudas. Viel haben die beiden nicht gemein, auch wenn sie in der Rue du Minage, einer Geschäftsstraße in der Hafenstadt La Rochelle, dicht beieinander leben und arbeiten. Nur durch einen Zufall findet der Schneider heraus, dass es der Hutmacher ist, der seit Wochen die Stadt in Angst und Schrecken versetzt: In fünf verregneten Nächten hat er, scheinbar wahllos, fünf Frauen ermordet. Die ausgesetzte Belohnung würde dem Schneider einige Sorgen nehmen, aber er weiß, dass man ihm, dem Einwanderer, nicht glauben wird. Und während sein Schweigen ihn zum Komplizen macht, schlägt der Mörder erneut zu.
Der Stoff um die komplizierte Beziehung zwischen einem Mörder und seinem Nachbarn ließ Simenon nicht los, er behandelte ihn zunächst in zwei Erzählungen und erst dann in Romanform. Die Erzählung "Der kleine Schneider und der Hutmacher", die Simenon 1947, ein Jahr vor dem Roman, geschrieben hat, findet sich im Anhang dieser Ausgabe.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum30. Aug. 2019
ISBN9783311700920
Die Phantome des Hutmachers
Autor

Georges Simenon

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

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    Buchvorschau

    Die Phantome des Hutmachers - Georges Simenon

    Die Phantome des Hutmachers

    1

    Es war der 3. Dezember, und immer noch regnete es. Riesig, tiefschwarz, mit einer Art dickem Bauch, hob die Ziffer 3 sich vom grellen Weiß des Kalenders ab, der rechts der Kasse an der dunklen Eichenholztrennwand zwischen Laden und Schaufenster hing. Genau zwanzig Tage waren vergangen – am 13. November nämlich war es passiert, auch da so eine fettleibige 3 auf dem Kalender –, seit bei der Saint-Sauveur-Kirche, nur ein paar Schritte vom Kanal entfernt, die erste alte Frau ermordet worden war.

    Ja, es regnete seit dem 13. November. Ohne Unterbrechung regnete es seit zwanzig Tagen, konnte man sagen.

    Ein lang anhaltender, platternder Regen war es meistens, und wenn man durch die Stadt rannte, dicht an den Häusern entlang, hörte man in den Dachrinnen das Wasser. Man nahm die Straßen mit Arkadengängen, um wenigstens kurz geschützt zu sein, man zog andere Schuhe an, sobald man zu Hause war. In sämtlichen Hausfluren trockneten nahe dem Ofen Regenmäntel und Hüte, und wer über keine Wechselkleidung verfügte, lebte in einer beständigen klammen Feuchtigkeit.

    Schon weit vor vier wurde es dunkel, und in manchen Fenstern war von früh bis spät das Licht an.

    Es war vier, als wie jeden Nachmittag Monsieur Labbé aus dem Hinterzimmer seines Geschäfts getreten war, wo hölzerne Köpfe in allen Größen in den Regalen standen. Er war die Wendeltreppe hinaufgestiegen, die ganz hinten in der Hutmacherei nach oben führte. Auf dem Treppenabsatz hatte er kurz innegehalten, einen Schlüssel aus der Tasche gezogen und die Tür des Schlafzimmers aufgeschlossen, um sogleich Licht darin anzumachen.

    Ehe er den Schalter umgedreht hatte, war er da bis zum Fenster gegangen, an dem die dicken, verstaubten Spitzenvorhänge immer zugezogen waren? Wahrscheinlich, denn bevor er Licht machte, ließ er für gewöhnlich das Rollo herunter. In diesem Moment hatte er drüben, nur ein paar Meter weiter, Kachoudas, den Schneider, in dessen Atelier sehen können. Es war so nah, zwischen ihnen der Straßengraben so schmal, dass es einem vorkam, als wohnte man im selben Haus.

    Kachoudas’ Atelier lag im ersten Stock über seinem Laden und hatte keine Vorhänge. Die kleinsten Details des Zimmers zeichneten sich ab wie auf einem Kupferstich – die Blumen der Tapete, der Fliegendreck auf dem Spiegel, das flache und fettige Kreidestück, das an einer Schnur hing, die an einer Wand befestigten Schnittmuster aus braunem Papier, und Kachoudas, der auf seinem Tisch saß, im Schneidersitz, in Reichweite eine schirmlose Glühbirne, die er mithilfe eines Stücks Draht zu sich heranzog. Die Tür im Hintergrund, die in die Küche führte, stand immer etwas offen, wenn auch meistens nicht so weit, dass man das Innere des Zimmers hätte sehen können. Die Anwesenheit von Madame Kachoudas erriet man trotzdem, denn ab und zu bewegten sich die Lippen ihres Ehemannes. Während der Arbeit redeten sie miteinander, von Zimmer zu Zimmer.

    Geredet hatte Monsieur Labbé auch. Valentin, sein Gehilfe, der sich im Laden aufhielt, hatte über seinem Kopf Schritte und Stimmengemurmel gehört. Daraufhin hatte er den Hutmacher wieder nach unten kommen sehen, erst die elegant beschuhten Füße, die Hose, das Jackett, schließlich das ein bisschen schlaffe, stets ernste, nie aber übertrieben strenge Gesicht, das Gesicht eines Mannes, der sich selbst genügt, der nicht das Bedürfnis empfindet, sein Innenleben nach außen zu kehren.

    Bevor er an diesem Tag aus dem Haus ging, hatte Monsieur Labbé noch zwei Hüte über Dampf in Form gezogen, darunter den grauen Hut des Bürgermeisters, und in dieser Zeit war auf der Straße der Regen zu hören gewesen, das Wasser, wie es das Fallrohr hinunterbrauste, und im Laden das sachte Gezischel des Gasofens.

    Immer war es dort zu warm. Kaum dass Valentin, der Gehilfe, morgens kam, stieg ihm das Blut in den Kopf, und nachmittags, da wurde ihm der Kopf schwer; mitunter sah er dann seine wie vor Fieber blitzenden Augen in den zwischen den Regalen befestigten Spiegeln.

    Monsieur Labbé redete nicht mehr als an den anderen Tagen. Er konnte Stunden mit seinem Angestellten verbringen, ohne etwas zu sagen.

    Sonst hörte man rings um sie her nur das Geräusch des Uhrpendels und jede Viertelstunde ein Klicken. Zu vollen und halben Stunden wurde der Mechanismus zwar ausgelöst, blieb jedoch nach einer vergeblichen Anstrengung abrupt stehen – die Uhr hatte vermutlich noch immer ein Schlagwerk, das aber kaputtgegangen war.

    Wenn der kleine Schneider auch nicht in das Zimmer im ersten Stock sehen konnte – am Tag wegen der Vorhänge, am Abend wegen des Rollos –, so brauchte er sich doch nur vorzubeugen, um einen Blick in das Hutgeschäft zu werfen.

    Natürlich lugte er herüber. Monsieur Labbé gab sich zwar keine Mühe, es nachzuprüfen, trotzdem wusste er es. Darum änderte er auch nichts an seinem Zeitplan. Seine Bewegungen blieben bedächtig, akribisch. Er hatte sehr schöne, etwas speckige Hände, die ganz erstaunlich weiß waren.

    Fünf Minuten vor fünf war er aus dem Zimmer hinter dem Laden gekommen, das man »die Werkstatt« nannte, wo er erst die Lampe ausgemacht und daraufhin eine seiner ritualisierten Phrasen von sich gegeben hatte:

    »Werde mal nachsehen, ob Madame Labbé nicht etwas braucht.«

    Von Neuem war er die Wendeltreppe hinaufgestiegen. Valentin hatte seine Schritte über sich gehört, ein gedämpftes Stimmengemurmel, dann wieder die Füße gesehen, die Beine, den ganzen Körper.

    Hinten hatte Monsieur Labbé die Tür zur Küche aufgemacht und zu Louise gesagt:

    »Werde früh nach Haus kommen. Valentin schließt den Laden ab.«

    Dieselben Worte sagte er jeden Tag, und das Hausmädchen antwortete:

    »Ist gut, Monsieur.«

    Während er seinen dicken schwarzen Mantel überzog, sagte er noch einmal, jetzt zu Valentin, auch wenn der es sehr wohl gehört hatte:

    »Sie schließen den Laden ab.«

    »Ja, Monsieur. Guten Abend, Monsieur.«

    »Guten Abend, Valentin.«

    Er nahm das Geld aus der Kassenschublade und wartete noch etwas ab, indem er die Fenster gegenüber nicht aus den Augen ließ. Kein Zweifel, Kachoudas war erst vor Kurzem von seinem Tisch geklettert, in dem Moment nämlich, als er Labbés Schatten über das Rollo im ersten Stock hatte huschen sehen.

    Was sagte er zu seiner Frau? Denn er sagte etwas zu ihr. Er brauchte eine Ausrede. Sie fragte ihn nichts. Nie hätte sie sich erlaubt, ihm gegenüber eine Bemerkung zu machen. Schon seit Jahren, ungefähr seit er sich selbstständig gemacht hatte, ging er nachmittags gegen fünf im Café des Colonnes ein oder zwei Gläser Weißwein trinken. Auch Monsieur Labbé ging dorthin, und noch andere, die sich nicht mit Weißwein und auch nicht mit nur zwei Gläsern zufriedengaben. Für die meisten ging dort der Tag zu Ende. Kachoudas dagegen aß, sobald er heimgekommen war, rasch einen Happen inmitten seiner Rasselbande und kletterte daraufhin von Neuem auf seinen Tisch, auf dem er oft bis elf oder Mitternacht saß und arbeitete.

    »Ich werd ein bissel an die frische Luft gehen.«

    Er hatte große Angst, Monsieur Labbé zu verpassen. Der hatte das begriffen. So war es zwar nicht schon seit der ersten ermordeten alten Frau, aber seit der dritten, also seit die Stadt ernstlich durchzudrehen begann.

    Die Rue du Minage war zu dieser Stunde fast immer menschenleer, zumal wenn es so in Strömen regnete. Ja sie war sogar noch leerer, seit es jede Menge Leute vermieden, nach Einbruch der Dunkelheit noch aus dem Haus zu gehen. Die Geschäftsleute, die als Erste unter der Panik zu leiden gehabt hatten, waren auch die Ersten gewesen, die Patrouillen organisierten. War es diesen jedoch gelungen, Madame Geoffroy-Lamberts Tod zu verhindern oder den von Madame Léonide Proux, der Hebamme aus Fétilly?

    Der kleine Schneider hatte Angst, Monsieur Labbé aber bereitete es ein boshaftes Vergnügen, auf ihn zu warten, auch wenn nichts danach aussah – war das nicht ein teuflisches Vergnügen?

    Er öffnete schließlich die Eingangstür und ließ dadurch deren Glöckchen ertönen. Er schlüpfte unter dem riesigen Zylinderhut aus rotem Blech hindurch, der ihm als Ladenschild diente, schlug den Mantelkragen hoch, versenkte die Hände in die Taschen. An Kachoudas’ Tür gab es ebenfalls eine Glocke, und schon nach wenigen Schritten auf dem Trottoir war sich Monsieur Labbé sicher, sie zu hören.

    Es war eine Straße mit Arkadengängen, so wie die meisten alten Straßen von La Rochelle. Es regnete also nicht auf die Trottoirs. Sie waren wie kalte, feuchte Tunnel, wo es nur ab und an Licht gab, mit Toreinfahrten, die in die Dunkelheit führten.

    Auf dem Weg zur Place d’Armes richtete Kachoudas sein Schritttempo nach dem des Hutmachers, hatte aber trotz allem eine solche Angst vor einem Hinterhalt, dass er lieber mitten auf der Straße und durch den Regen lief.

    Bis zur Ecke begegneten sie niemandem. Dann kamen die Schaufenster der Parfümerie, der Apotheke, des Hemdengeschäfts und schließlich die breiten Glasfenster des Cafés. Jeantet, der junge Journalist, mit seinen langen Haaren, seinem hageren Gesicht, seinen glühenden Augen war auf seinem Posten, am ersten Tisch, dicht beim Fenster, gerade dabei, vor einer Tasse Kaffee seinen Artikel zu schreiben.

    Monsieur Labbé lächelte nicht, schien ihn überhaupt nicht zu sehen. Er hörte die Schritte des kleinen Schneiders, wie sie näher kamen. Er drehte den Türknauf, betrat die wohlige Wärme, ging ohne Zögern hinüber zu den mittleren Tischen nah am Ofen zwischen den Säulen und blieb stehen hinter den Kartenspielern, während der Kellner, Gabriel, ihm den Mantel und den Hut abnahm.

    »Wie geht es dir, Léon?«

    »Nicht übel.«

    Sie kannten einander schon zu lange – zumeist seit der Schule –, um noch Lust zu haben, miteinander zu reden. Diejenigen, die Karten in der Hand hielten, machten ein kleines Zeichen oder berührten mechanisch die Hand des Neuankömmlings. Gabriel fragte aus reiner Gewohnheit:

    »Wie immer?«

    Und mit einem behaglichen Seufzer nahm der Hutmacher hinter einem der Bridge-Spieler Platz, Doktor Chantreau, den er Paul nannte. Mit nur einem Blick hatte er gesehen, wie die Partie stand. Sie dauerte schon seit Jahren und Jahren, hätte man meinen können, weil sie jeden Tag zur gleichen Stunde am gleichen Tisch mit den gleichen Getränken vor den gleichen Spielern mit den gleichen Pfeifen und den gleichen Zigarren fortgesetzt wurde.

    Die Zentralheizung war wohl nicht kräftig genug, da Oscar, der Wirt, den großen, schönen, leuchtend schwarzen Ofen behalten hatte, dem Monsieur Labbé die Beine entgegenstreckte, um seine Schuhe und Hosenumschläge zu trocknen. Der kleine Schneider war mittlerweile hereingekommen, war ebenso zu den mittleren Tischen gegangen, wenn auch nicht mit der gleichen Sicherheit, hatte respektvoll gegrüßt, ohne dass ihm jemand geantwortet hätte, und auf einem Stuhl Platz genommen.

    Er gehörte nicht dazu. Weder war er auf denselben Schulen noch in denselben Kasernen gewesen. Zu der Zeit, als die Kartenspieler einander bereits geduzt hatten, lebte er noch Gott weiß wo im Nahen Osten, wo Leute von seiner Sorte wie Vieh umhertransportiert wurden, von Armenien nach Smyrna, von Smyrna nach Syrien, nach Griechenland oder sonstwo.

    Vor ein paar Jahren hatte er anfangs noch ein Stück abseits Platz genommen, um seinen Weißwein zu trinken, und folgte dem Spiel, das ihm wahrscheinlich völlig fremd war, derart aufmerksam, dass seine Stirn sich in Falten legte. Unmerklich war er von da an näher gekommen, indem er zunächst den Stuhl heranschob, dann einfach den Sitzplatz und schließlich den Tisch wechselte, um sich direkt hinter den Spielern wiederzufinden.

    Keiner redete von den alten Frauen, so wenig wie von dem Grauen, das in der Stadt herrschte. Man diskutierte womöglich an anderen Tischen darüber, nicht aber an diesem. Laude, der Senator, nahm die Pfeife vom Mund, um zu fragen, indem er sich kaum merklich zu dem Hutmacher wandte:

    »Deine Frau?«

    »Immer dasselbe.«

    Eine Angewohnheit, die die Leute schon seit fünfzehn Jahren hatten. Gabriel hatte ihm seinen Grenadine-Picon gebracht, dunkel mahagonibraun war er, und er trank einen Schluck davon, langsam, während er einen Blick auf den jungen Jeantet warf, der dabei war, seinen Artikel für den Echo des Charentes zusammenzuschmieren. Eine Pendeluhr mit in Kupfer eingefasstem Zifferblatt hing zwischen dem eigentlichen Café und dem hinteren Teil, in dem in einer Reihe die Billardtische standen. Sie zeigte Viertel nach fünf, als Julien Lambert, ein Versicherungsmensch, der wie üblich verlor, den Hutmacher fragte:

    »Machst du für mich weiter?«

    »Heut Abend nicht.«

    Was nichts Außergewöhnliches war. Sie waren sechs oder sieben, die mal die Karten in der Hand hielten, mal hinter den Spielern saßen. Einzig Kachoudas wurde nie gefragt, ob er mitspielen wolle, und wahrscheinlich war er auch gar nicht erpicht darauf.

    Er war klein, schwächlich. Er roch schlecht, und er wusste das – er wusste es so gut, dass er es vermied, den anderen zu nahe zu kommen. Es war ein Geruch, der bloß ihm anhaftete und seinen Angehörigen und den man den Kachoudasgeruch hätte nennen können, eine Mischung aus dem Knoblauch in ihrer Küche und dem Wollfett der Stoffe. Hier sagte man nichts, höflich tat man, als bemerke man es nicht, in der Schule aber protestierten die nicht so diskreten Mädchen, wenn sie neben die Kachoudaskinder gesetzt wurden.

    »Du stinkst! Deine Schwester stinkt! Ihr stinkt alle!«

    Er rauchte eine der wenigen Zigaretten des Tages, denn während der Arbeit konnte er nicht rauchen, ohne Gefahr zu laufen, dabei Kleidung von Kunden zu versengen. Er drehte sich seine Zigaretten selbst, und immer war da ein Ende ganz dunkel von Spucke.

    Es war der 3. Dezember. Es war Viertel nach fünf. Es regnete. Die Straßen waren schwarz. Es war warm im Café, und Monsieur Labbé, der Hutmacher aus der Rue du Minage, verfolgte, wie der Doktor spielte, der eben fünf Treff angesagt hatte, was der Versicherungsfritze unklugerweise gerade kontrierte.

    Morgen früh würde man aus der Zeitung erfahren, was Jeantet soeben über die ermordeten alten Frauen schrieb, denn mit vollem Einsatz führte der eine Untersuchung und hatte sogar eine Art Kampfansage an die Polizei losgelassen. Sein Chef, Jérôme Caillé, der Druckereibesitzer, der bei dem Blatt das Sagen hatte, spielte seelenruhig Bridge, ohne sich um den jungen Hitzkopf zu kümmern, dessen Artikel er überfliegen würde, sobald er nach Haus kam.

    Chantreau war dabei, die Trümpfe zu ziehen, und riskierte den entscheidenden Impass, als Monsieur Labbé sich nicht mal umzudrehen brauchte, um zu sehen, wie Kachoudas halb aufstand, ohne dabei völlig den Kontakt zu seinem Stuhl zu verlieren, sich ihm entgegenbückte und den Arm ausstreckte, wie um etwas aufzuheben, das in den Sägespänen auf dem Fußboden lag.

    Aber es war die Hose des Hutmachers, auf die er es abgesehen hatte. Sein Schneiderauge hatte am Aufschlag einen kleinen weißen Fleck bemerkt. Bestimmt hatte er gemeint, da sei ein Faden. Böse Absichten hatte er sicher keine. Hätte er aber welche gehabt, die Tragweite seiner Geste hätte er nicht abzuschätzen vermocht.

    Auch nicht Monsieur Labbé, der ihn machen ließ, leicht überrascht, jedoch nicht im Geringsten beunruhigt.

    »’tschuldigen Sie.«

    Kachoudas griff nach dem weißen Etwas, das kein Faden, sondern ein winziger Schnipsel Papier war, kaum einen halben Zentimeter groß, leichtes und raues Papier, wie Zeitungspapier.

    Niemand in dem Café schenkte dem, was da vor sich ging, die mindeste Beachtung. Kachoudas hielt den Rand des Schnipselchens zwischen Daumen und Zeigefinger. Reiner Zufall, dass er im Vornüberbeugen, den Kopf gesenkt, mit der Unterseite des Hinterns gerade noch auf dem Stuhl, einen Blick darauf geworfen hatte. Nein, ein x-beliebiger Zeitungsfitzel war das nicht. Mit einer Schere sorgfältig ausgeschnitten worden war er. Genauer gesagt hatte jemand am Ende eines Wortes zwei Buchstaben ausgeschnitten, ein n und ein t.

    Monsieur Labbé blickte hinunter, woraufhin sich der kleine Schneider, von Panik ergriffen, schlagartig nicht mehr rührte, schließlich aber den Kopf hob, den Oberkörper aufrichtete und es vermied, dem Hutmacher in die Augen zu sehen, als er ihm stammelnd den klitzekleinen Gegenstand hinhielt:

    »Verzeih’n Sie bitte.«

    Anstatt den Papierschnipsel wegzuwerfen, gab er ihn zurück – was ein Fehler war, gestand er damit doch ein, dessen Bedeutung begriffen zu haben. Weil er schüchtern und quasi von Natur aus demütig war, beging er noch einen zweiten Fehler, indem er einen Satz begann, den zu beenden er nicht den Mut hatte:

    »Ich hatte angenomm…«

    In einem Nebel aus Lichtern sah er nichts anderes als Stühle, Rücken, Tuch, Sägespäne auf dem Fußboden, die schwarzen Füße des Ofens, und er hörte eine tiefe und ruhige Stimme, die sagte:

    »Danke, Kachoudas.«

    Denn sie unterhielten sich. Jeden Morgen um acht traten der Hutmacher und der Schneider vor ihre Häuser, um die Holzplatten wegzunehmen, die ihnen an ihren Geschäften als Fensterläden dienten. Die Metzgerei neben Kachoudas hatte schon lange geöffnet. Samstags versperrten die Bäuerinnen der Gegend, die Gemüse oder Geflügel verkauften, mit ihren Körben die Straße, an den übrigen Tagen aber trennten die beiden Männer nur die Pflastersteine und sagte Kouchadas schon aus Gewohnheit:

    »Guten Morgen, Monsieur Labbé.«

    Je nach Himmel fügte er hinzu:

    »Schönes Wetter heute.«

    Oder aber:

    »Immer Regen.«

    Und der Hutmacher erwiderte gutmütig:

    »Guten Morgen, Kachoudas.«

    Das war alles. Sie waren zwei Ladenbesitzer mit einander gegenüberliegenden Geschäften. Soeben aber hatte Monsieur Labbé Silbe für Silbe betonend gesagt:

    »Danke, Kachoudas.«

    Und zwar mit ungefähr der gleichen Stimme. Womöglich war es sogar genau die gleiche Stimme, und das trotz der fürchterlichen Entdeckung, die der kleine Schneider da gerade gemacht hatte. Kachoudas hätte sein Glas am liebsten in einem Zug geleert. Das Glas klackerte gegen seine Zähne. Er versuchte, sehr schnell zu denken, richtig zu denken, doch je mehr er sich anstrengte, umso mehr gerieten seine Gedanken durcheinander.

    Vor allem aber durfte er den Kopf nicht nach rechts drehen. Das hatte er gleich im ersten Moment beschlossen.

    An dem mittleren Tisch, dem des Senators, des Druckers, des Arztes, des Hutmachers, saßen Männer um die sechzig bis fünfundsechzig, die im Grunde die wichtigsten waren, an den anderen Tischen dagegen saßen andere Spieler, ja, und hauptsächlich rechts die Belote-Spieler, die die Generation der Männer zwischen vierzig und fünfzig repräsentierten. Und dort an diesem Tisch konnte man so gut wie immer zwischen fünf und sechs Uhr Sonderkommissar Pigeac sehen, ihn, den man betraut hatte, die Sache mit den alten Frauen zu untersuchen.

    Kachoudas musste um jeden Preis vermeiden, in seine Richtung zu blicken. Er durfte sich aber ebenso wenig zu dem jungen Reporter umdrehen, der immer noch schrieb. War Jeantet nicht zweifellos einmal mehr damit beschäftigt, auf eine der Botschaften des Mörders zu antworten?

    Binnen zwanzig Tagen war dies zu einer festen Gewohnheit geworden, fast einer Tradition. Nach jedem Mord erhielt die Zeitung einen Brief, für den Buchstaben, häufig ganze Wörter ausgeschnitten worden waren aus älteren Ausgaben des Echo des Charentes – wo dieser daraufhin abgedruckt wurde, gefolgt von einem Kommentar des jungen Jeantet. Am nächsten oder übernächsten Tag antwortete dann wiederum der Mörder, immer mithilfe von ausgeschnittenen und auf ein weißes Blatt geklebten Papierschnipseln.

    Und gerade am Tag zuvor hatte die Botschaft einen Satz beinhaltet, der den kleinen Schneider auf der Stelle erstarren ließ:

    Sie täuschen sich, junger Mann. Ich bin kein Feigling. Nicht weil ich feige wäre, halte ich mich an alte Frauen, sondern weil ich dazu gezwungen bin. Sollte ich morgen ebenso gezwungen sein, einen Mann anzugreifen, und sei er noch so groß und kräftig, so werde ich das tun.

    Manche Briefe waren eine halbe Spalte lang und bestanden aus Hunderten von geduldig ausgeschnittenen Buchstaben, weshalb Jeantet geschrieben hatte:

    Der Mörder geht nicht nur geduldig und akribisch vor, seine Lebensweise lässt ihm zudem viel Freizeit.

    Der Journalist, er war neunzehn, geduldig auch er, hatte ein Experiment gemacht. Er hatte ausgerechnet, wie viel Zeit man benötigte, um mithilfe von aus alten Zeitungen ausgeschnittenen Buchstaben einen dreißig Zeilen langen Brief zu verfassen. Kachoudas erinnerte sich nicht mehr an das genaue Ergebnis, doch war es ungeheuer.

    Sollte ich morgen ebenso gezwungen sein, einen Mann anzugreifen … Der eine rauchte in kleinen Zügen seine Pfeife und sah zu, wie Karten gespielt wurde, der andere hatte einen schmuddeligen Zigarettenstummel an der Lippe kleben und traute sich nirgends hinzugucken. Ab und zu warf Monsieur Labbé einen Blick auf die Uhr, und schon um fünf Uhr fünfundzwanzig bestellte er seinen zweiten Picon. Es war halb sechs, als er aufstand – was genügte,

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