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Maigret verteidigt sich
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eBook162 Seiten3 Stunden

Maigret verteidigt sich

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Über dieses E-Book

Ein nächtlicher Anruf reißt Maigret aus dem Tiefschlaf. Eine junge Frau bittet den Kommissar um Hilfe. Mittelos und ohne Papiere sei sie in einer Bar gestrandet. Maigret besorgt der Siebzehnjährigen nicht nur ein Hotelzimmer, er bringt das betrunkene Mädchen auch zu Bett. Am nächsten Morgen liegt eine Anzeige gegen den Kommissar vor: Belästigung einer Minderjährigen. Er wird umgehend beurlaubt. Ist Maigret in eine Falle getappt? Wer will ihn aus dem Weg räumen? Eigentlich glaubt Maigret nicht an das grundlos Böse, aber diesmal kommen ihm Zweifel.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum29. Juli 2021
ISBN9783311702382
Maigret verteidigt sich
Autor

Georges Simenon

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

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    Buchvorschau

    Maigret verteidigt sich - Georges Simenon

    1

    »Sagen Sie, Maigret …«

    Ein Satzanfang, an den sich der Kommissar später erinnern sollte. In dem Moment aber fiel er ihm nicht auf. Alles war ihm vertraut: die Einrichtung, die Gesichter, selbst die Bewegungen der Menschen. So vertraut, dass er gar nicht mehr darauf achtete. Er befand sich wenige hundert Meter vom Boulevard Richard-Lenoir entfernt in der Rue Popincourt, bei den Pardons, bei denen die Maigrets seit mehreren Jahren einmal im Monat zu Abend aßen.

    Der Arzt und seine Frau kamen ihrerseits alle vier Wochen zum Essen zu den Maigrets. Die beiden Frauen lieferten sich bei der Gelegenheit einen freundschaftlichen Wettkampf der Kochkünste.

    Wie immer hatten sie lange bei Tisch gesessen. Die Tochter der Pardons, Solange, war zum zweiten Mal schwanger. Sie wirkte wie ausgestopft und schien sich für den Mangel an Grazie entschuldigen zu wollen. Da ihr Mann, Ingenieur im östlichen Stadtrandgebiet, an einem Kongress in Nizza teilnahm, war sie für einige Tage zu ihren Eltern gekommen.

    Es war Juni. Der Tag war stickig gewesen und der Abend gewittrig. Durch das offene Fenster sah man manchmal den Mond zwischen zwei schwarzen Wolken, deren Ränder er für einen kurzen Moment weiß umsäumte.

    Wie es seit dem ersten Abendessen Tradition war, hatten die Damen danach den Kaffee serviert und saßen nun am anderen Ende des Wohnzimmers. Sie unterhielten sich halblaut und ließen die beiden Männer miteinander allein. Der Raum diente auch als Wartezimmer des Arztes, auf einem Tischchen stapelten sich abgegriffene Zeitschriften.

    Eine Kleinigkeit war übrigens anders als sonst. Während Maigret seine Pfeife stopfte und anzündete, war Pardon in sein Sprechzimmer verschwunden und mit einer Zigarrenkiste zurückgekommen.

    »Ich biete Ihnen keine an, Maigret.«

    »Danke. Sie rauchen jetzt Zigarren?«

    Er kannte den Arzt nur Zigaretten rauchend. Nach einem Blick zu seiner Frau hatte Pardon gemurmelt:

    »Sie hat mich darum gebeten.«

    »Wegen der Artikel über Lungenkrebs?«

    »Das hat sie sehr beeindruckt.«

    »Glauben Sie daran?«

    Pardon hatte mit den Schultern gezuckt.

    »Selbst wenn …«

    Leise hatte er hinzugefügt:

    »Ich muss Ihnen gestehen, wenn ich unterwegs bin …«

    Er schummelte. Zu Hause zwang er sich, Zigarren zu rauchen, was nicht zu ihm passte. Aber woanders rauchte er Zigaretten, heimlich wie ein Gymnasiast.

    Er war weder groß noch dick. Sein dunkles Haar begann zu ergrauen, und sein Gesicht zeigte die Spuren eines anstrengenden Lebens. Selten endete der Abend, ohne dass Pardon zu einem angstvollen Kranken gerufen wurde und seine Gäste unter Entschuldigungen verlassen musste.

    »Sagen Sie, Maigret …«

    Er hatte das zögernd, mit einer gewissen Scheu gesagt.

    »Wir müssen doch ungefähr gleich alt sein.«

    »Ich bin zweiundfünfzig.«

    Das wusste Pardon, denn er war der behandelnde Arzt des Kommissars und hatte eine Patientenakte von ihm angelegt.

    »In drei Jahren werde ich pensioniert. Bei der Polizei wird man mit fünfundfünfzig zum Angeln geschickt.«

    Eine leise Melancholie. Die beiden Männer nahe beim Fenster spürten manchmal einen frischen Luftzug und sahen einen Blitz über den Himmel zucken, aber es folgte kein Donner. In den Häusern gegenüber waren einige Fenster erleuchtet. Hinter den Vorhängen bewegten sich Gestalten. Ein alter Mann stützte sich auf die Fensterbank, hinter ihm ein dunkles Zimmer, er schien sie anzustarren.

    »Ich bin neunundvierzig. Auf dem Gymnasium zählen drei Jahre Altersunterschied. Aber in unserem Alter nicht mehr.«

    Maigret konnte nicht voraussehen, dass ihm die Einzelheiten dieser trägen Unterhaltung eines Tages wieder einfallen würden. Er schätzte Pardon sehr. Er gehörte zu den wenigen Menschen, mit denen er gern den Abend verbrachte.

    Der Arzt fuhr fort, wobei er nach Worten suchte:

    »Sie und ich, wir haben ja ähnliche Erfahrungen mit Menschen. Viele meiner Patienten könnten Ihre Klienten werden.«

    Das stimmte. In diesem überbevölkerten Viertel begegnete einem alles, im besten und im schlechtesten Sinne.

    »Ich möchte Ihnen eine Frage stellen.«

    Seine Verlegenheit war offensichtlich. Sicher, sie waren Freunde, so wie auch ihre Frauen befreundet waren. Doch eine gewisse Scheu hielt sie davon ab, manche Themen zu berühren. Sie hatten noch nie über Politik oder Religion gesprochen.

    »Sind Sie in Ihrer ganzen Laufbahn«, sagte Pardon, »je einem wirklich bösen Verbrecher begegnet? Ich meine …«

    Er versuchte seinen Gedanken zu verdeutlichen.

    »Ich meine den bewussten Verbrecher, wohlgemerkt. Der weiß, was er tut, der aus purer Bosheit handelt, aus moralischer Verkommenheit, wie manche sagen würden. Ich spreche nicht von Kinderquälern, zum Beispiel. Das sind fast alles grobe, geistig zurückgebliebene Kerle, die in der Welt der Erwachsenen nicht zurechtkommen und zu Säufern werden.«

    »Sie meinen also den reinen Verbrecher?«

    »Rein oder unrein … sagen wir, einer, der durch und durch Verbrecher ist.«

    »Dem Strafgesetzbuch nach?«

    »Nein. Ihrer Ansicht nach.«

    Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete Maigret seinen Freund durch den Rauch seiner Pfeife. Sein Blick fiel vor allem auf die Zigarre, die Pardon unbeholfen hielt. Die Asche war zu lang geworden und würde gleich auf den Teppich fallen. Er lächelte schließlich, und der Arzt starrte seinerseits verlegen auf die Zigarre.

    Sie verstanden sich. Es war diese Zigarren- und Zigaretten-Geschichte, die den Arzt der kleinen Leute geplagt und vielleicht unbewusst dazu getrieben hatte, die Frage zu stellen.

    Er war neunundvierzig, wie er eben gesagt hatte. Jeden Tag, seit mehr als zwanzig Jahren, beugte er sich über Dutzende Kranke, die in ihm etwas wie den lieben Gott sahen und alles von ihm erwarteten: Gesundheit, Leben, einen Rat, die Lösung ihrer Probleme.

    Er hatte Männer, Frauen, Kinder gerettet. Er hatte anderen geholfen, sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Jeden Tag musste er blitzschnell Entscheidungen treffen, die unwiderruflicher waren als die der Richter.

    Wegen bestimmter Zeitungsartikel hatte seine Frau ihn gebeten, mit dem Rauchen aufzuhören, und er hatte nicht den Mut gehabt, ihr die Bitte abzuschlagen. Also zog er zu Hause ungeschickt an einer Zigarre, die ihm bestimmt nicht schmeckte.

    Aber kaum war er draußen in seinem Wagen, unterwegs zu einem Patienten, steckte er sich mit zitternden Händen eine Zigarette an, als hätte er ein Verbrechen begangen.

    Maigret beantwortete die Frage seines Freundes nicht sofort. Fast hätte er zurückgefragt: Und Sie?

    Aber das war zu leicht.

    »Wenn ich durch unglückliche Umstände Richter hätte werden müssen«, begann er mit zögernder Stimme, »oder Geschworener in einem Prozess, dann weiß ich nicht, ob … Nein! Ich bin sicher, ich würde es nicht auf mich nehmen, einen Menschen zu verurteilen.«

    »Egal bei welchem Verbrechen?«

    »Nicht das Verbrechen zählt. Es kommt darauf an, was in dem Täter vor sich geht oder vor sich gegangen ist.«

    »Sie haben also noch keinen Fall erlebt, in dem Sie ohne zu zögern ein Urteil gesprochen hätten?«

    »Ein Verbrechen aus Bosheit, wie Sie es nannten? Doch, auf den ersten Blick, schon. Ich hatte Leute in meinem Büro, die musste ich einfach ohrfeigen. Aber je weiter ich in meinen Ermittlungen kam …«

    An diesem Punkt wurde das Gespräch unterbrochen, denn eine der beiden Damen, Maigret wusste nicht mehr welche, war zu ihnen gekommen.

    »Vielleicht einen kleinen Armagnac?«

    Pardon warf einen kurzen Blick zu Maigret.

    »Nein danke.«

    »Übrigens, wann habe ich Sie zum letzten Mal untersucht?«

    »Vor etwa einem Jahr.«

    Ein krachender Donnerschlag. Er schien über die Dächer zu rollen. Doch der seit Tagen erwartete Regen fiel nicht.

    »Wollen wir kurz in mein Sprechzimmer gehen?«

    Das ältere Enkelkind der Pardons schlief dort in einem Klappbettchen.

    »Keine Sorge. Er hat einen tiefen Schlaf. Leider nur bis fünf Uhr morgens! Lassen Sie mich Ihren Blutdruck messen.«

    Maigret stand erst im Hemd, dann mit nacktem Oberkörper da. Pardon hatte unwillkürlich die ernste und ein wenig abwesende Miene des Arztes aufgesetzt.

    »Atmen Sie ein! Tiefer. Und durch den Mund aus. Gut. Legen Sie sich hierhin und öffnen Sie Ihren Gürtel. Haben Sie denn meinen Rat befolgt und etwas weniger und gemächlicher gearbeitet?«

    »Und Sie?«

    »Ich weiß, ich weiß. Und wie ist es mit der Diät?«

    Maigret schüttelte den Kopf.

    »Wein, Bier, Schnaps? Haben Sie sich eingeschränkt?«

    »Ich habe nur erreicht, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, wenn ich ein Bier oder einen Calvados trinke. Zwischen zwei Ermittlungen trinke ich tagelang höchstens etwas Wein zu den Mahlzeiten. Aber dann bin ich in einem Café, um das Haus gegenüber zu beobachten. Ich rieche den säuerlichen Duft der Pariser Bistros und …«

    Wie Pardon mit seinen Zigaretten. Dabei waren sie beide erwachsene Männer!

    Die Maigrets waren wie immer zu Fuß durch die Rue du Chemin-Vert nach Hause gegangen.

    »Welchen einen Eindruck hat er von dir?«

    »Es ist alles in Ordnung.«

    Selbstverständlich entschied sich der Himmel über Paris genau in diesem Moment, all das Wasser, das er während der wochenlangen Hitze gesammelt hatte, auf einmal loszuwerden.

    »Sollen wir uns in einem Torbogen unterstellen?«

    Das war nun schon lange her. Zehn Tage waren vergangen, seit die Maigrets bei den Pardons zu Abend gegessen hatten. Wieder war es heiß geworden. Die Menschen fuhren in die Ferien. Der Kommissar arbeitete in seinem Büro bei weit geöffnetem Fenster und ohne Jacke, und die Seine schimmerte so graugrün wie das Meer an manchen windstillen Tagen.

    Um halb elf, als Maigret die Berichte seiner Mitarbeiter durchsah, klopfte Joseph, der alte Bürodiener, in einer Weise an die Tür, die jeder im Haus kannte. Ohne eine Antwort abzuwarten, kam er herein und legte einen Brief auf den Schreibtisch des Kommissars.

    Maigret runzelte die Stirn, als er den Aufdruck sah: Büro des Polizeipräsidenten.

    In dem Umschlag steckte eine Karte.

    Kommissar Maigret möge sich am 28. Juni um elf Uhr im Büro des Herrn Polizeipräsidenten einfinden.

    Das Blut stieg Maigret in die Wangen wie früher als Gymnasiast, wenn er zum Direktor gerufen wurde. Der 28. Juni … er blickte unwillkürlich auf den Kalender … war heute! Dienstag, der 28. Juni! Und es war halb elf. Der Brief war nicht mit der Post gekommen, sondern von einem Boten gebracht worden.

    Zum ersten Mal in seinen über dreißig Jahren bei der Kriminalpolizei und den zehn Jahren als Leiter der Mordkommission wurde er auf diese Weise einbestellt.

    Er hatte ein gutes Dutzend Polizeipräsidenten einander ablösen sehen und zu jedem ein mehr oder weniger angenehmes Verhältnis gehabt. Einige von ihnen blieben so kurz auf ihrem Posten, dass er sie nicht einmal gesprochen hatte.

    Andere riefen ihn an und baten ihn zu sich in ihr Büro. Es handelte sich meistens um einen delikaten und selten angenehmen Auftrag: dem Sohn oder der Tochter einer hohen Persönlichkeit oder gar der hohen Persönlichkeit selbst aus der Patsche zu helfen.

    Seine erste Reaktion war, zum Leiter der Kriminalpolizei zu stürzen. Er wusste sicher Bescheid. Doch beim Rapport am Morgen hatte er nichts erwähnt, hatte sich benommen wie immer, etwas abwesend, hatte

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