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Maigret in der Schule
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eBook186 Seiten2 Stunden

Maigret in der Schule

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Über dieses E-Book

Ein Mann aus Saint-André-sur-Mer bei La Rochelle sitzt vor Maigrets Büro. Joseph Gastin ist verzweifelt. Man verdächtigt den Lehrer, eine alte Frau umgebracht zu haben. Seit Gerüchte über seine Vergangenheit kursieren, haben die Einwohner allen Respekt vor ihm verloren, und da ein Schüler Gastin zur Tatzeit in der Nähe des Tatorts gesehen haben will, scheint das Schicksal des Lehrers besiegelt. Maigret nimmt ein paar Tage Urlaub, auch weil er Lust auf fangfrische Austern und guten Weißwein hat, und macht sich mit dem Lehrer auf in das merkwürdige Dorf am Meer.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum30. Apr. 2020
ISBN9783311701415
Maigret in der Schule
Autor

Georges Simenon

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

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    Buchvorschau

    Maigret in der Schule - Georges Simenon

    Kampa

    1

    Der Lehrer im Fegefeuer

    Es gibt Bilder, die registriert man unbewusst, mit der Präzision eines Fotoapparats, und später dann, wenn man sie im Gedächtnis wiederfindet, zerbricht man sich den Kopf, wo man sie eigentlich gesehen hat.

    Maigret tat es nach so vielen Jahren, ohne nachzudenken, doch wenn er ankam, immer leicht außer Atem, ganz oben im steilen und staubigen Treppenhaus der Kriminalpolizei, machte er kurz halt, und sein Blick suchte den Glaskäfig, der als Warteraum diente und der von manchen Aquarium genannt wurde, von anderen Fegefeuer. Vielleicht machten das alle so, und es war inzwischen bereits ein beruflicher Tick?

    An diesem Morgen strahlte eine klare und leichte Sonne mit der Heiterkeit von Maiglöckchen über Paris und die rötlichen Schlote der Kamine auf den Dächern, doch im Fegefeuer brannte den ganzen Tag lang eine Lampe, denn dort gab es kein Fenster, und Licht kam nur von dem endlosen Korridor.

    Manchmal sah man auf den mit grünem Samt bezogenen Sesseln und Stühlen mehr oder weniger wilde Galgenvögel, alte Kunden, bei Nacht von einem Inspektor eingesammelt und jetzt auf die Vernehmung wartend, oder auch Spitzel, Zeugen, die man tags zuvor herbestellt hatte, und mit trüber Miene hoben sie jedes Mal den Kopf, wenn irgendwer vorüberging.

    Aus irgendeinem rätselhaften Grund hingen gerade hier in zwei schwarzen Rahmen mit Goldleiste die Fotografien von im Dienst getöteten Polizisten.

    Noch andere Gestalten mussten durchs Fegefeuer, Männer und Frauen »von Welt«, wie man so sagt, und diese Sorte blieb zunächst immer stehen, als werde man sie jeden Augenblick rufen, von einer Minute zur anderen, als wären sie hier nur für einen ganz bedeutungslosen Besuch. Nach einer gewissen, mehr oder weniger langen Zeit sah man sie langsam zu einem Stuhl gehen, am Ende nahmen sie dort Platz, und nicht selten fand man sie drei Stunden später zusammengesackt, mit trübem Blick, und nun hatten sie keinerlei Sinn mehr für ihren gesellschaftlichen Rang.

    An diesem Morgen war nur ein einziger Mann im Fegefeuer, und Maigret fiel auf, dass er zu einem besonderen Typus zählte, den nannte man gewöhnlich »Mausgesicht«. Er war ziemlich mager. Die fliehende, kahle Stirn war gekrönt von einem rötlichen Haarfilz. Er hatte wohl blaue oder lila Augen, und seine Nase schien weit hinauszuragen über sein ebenfalls fliehendes Kinn.

    Überall, seit Schulzeiten, trifft man Individuen dieser Sorte, und Gott weiß warum, man neigt dazu, sie niemals ernst zu nehmen.

    Maigret meinte kaum auf ihn geachtet zu haben, und hätte man ihn beim Öffnen der Bürotür gefragt, wer da draußen saß im Warteraum, er hätte vielleicht keine Antwort gewusst. Es war fünf vor neun. Das Fenster stand weit offen, und ein leichter, blau-gold schimmernder Dunst kam von der Seine. Zum ersten Mal im Jahr trug er seinen Übergangsmantel, aber die Luft war noch frisch, eine Luft, die man am liebsten trinken wollte wie einfachen Weißwein, und sie spannte einem die Haut.

    Als er seinen Hut weglegte, warf er einen Blick auf die Visitenkarte, gut sichtbar auf seiner Schreibunterlage. Die Schrift war blass. Joseph Gastin, Lehrer. Unten rechts in der Ecke, in kleineren Buchstaben, sodass man sich vorbeugen musste: Saint-André-sur-Mer.

    Er stellte keine Verbindung her zwischen der Karte und dem Mann mit dem Mausgesicht, fragte sich nur, wo kürzlich die Rede gewesen war von Saint-André-sur-Mer. Die Klingel im Flur rief zum Rapport. Er zog seinen Mantel aus, griff nach der Akte, die er am Vorabend bereitgelegt hatte, und dann ging er, wie schon seit vielen Jahren, zum Büro des Chefs. Auf dem Weg begegnete er anderen Kommissaren, und allen stand die gleiche gute Laune in den Augen, die er schon draußen bemerkt hatte, bei den Passanten auf der Straße.

    »Jetzt ist wirklich Frühling!«

    »Scheint so.«

    »Wird ein herrlicher Tag.«

    Die großen Fenster im Büro des Direktors leuchteten vom Sonnenlicht wie die einer Dorfkirche, und die Tauben gurrten auf dem steinernen Sims.

    Jeder, der hereinkam, sagte dasselbe und rieb sich dabei die Hände:

    »Frühling!«

    Sie alle waren gut über fünfundvierzig; die Fälle, die sie jetzt besprechen mussten, gehörten samt und sonders ins ernsthafte, zuweilen makabre Fach, aber trotzdem freuten sie sich wie Kinder über die plötzlich so laue Luft und vor allem über dieses Licht, denn es überflutete die Stadt und verwandelte jede Straßenecke, die Fassaden, Dächer, Autos, die über den Pont Saint-Michel rollten, in ein neues Gemälde, und das hätte man sich gerne an die Wand gehängt.

    »Haben Sie den stellvertretenden Direktor aus der Filiale Rue de Rivoli getroffen, Maigret?«

    »Ich hab eine Verabredung, in einer halben Stunde.«

    Ein bedeutungsloser Fall. In dieser Woche war fast nichts passiert. Der stellvertretende Direktor einer Bankfiliale in der Rue de Rivoli, zwei Schritt von den Hallen, verdächtigte einen Angestellten irgendwelcher Unregelmäßigkeiten.

    Maigret stopfte seine Pfeife, am Fenster stehend, und währenddessen diskutierte sein Kollege vom Nachrichtendienst einen anderen Fall, es ging um die Tochter eines Senators, die in eine zweideutige Situation geraten war.

    Zurück in seinem Büro, traf er Lucas, der ihn erwartete, den Hut schon auf dem Kopf, er sollte nämlich mitkommen zur Rue de Rivoli.

    »Gehn wir zu Fuß?«

    Es war ganz nah. Maigret dachte nicht mehr an die Visitenkarte. Als er am Fegefeuer vorbeiging, sah er wieder das Mausgesicht und noch zwei oder drei weitere Kunden, darunter erkannte er den Pächter eines Nachtclubs, der wegen der Tochter des Senators hier war.

    Die beiden kamen zum Pont-Neuf, Maigret machte große Schritte, Lucas mit seinen kurzen Beinen musste fast rennen, wenn er mithalten wollte. Später hätten sie nicht mehr sagen können, worüber sie sich unterhielten. Vielleicht hatten sie auch einfach nur herumgeschaut. In der Rue de Rivoli lag ein starker Geruch von Obst und Gemüse in der Luft, und die Lastwagen waren beladen mit Kiepen und Körben.

    Sie betraten die Bank, hörten die Erklärungen des stellvertretenden Direktors, machten eine Runde durch die Räume und beobachteten dabei aus dem Augenwinkel den verdächtigen Angestellten.

    Es gab keine Beweise, drum stellte man ihm jetzt eine Falle. Sie besprachen die Einzelheiten, gaben sich die Hand. Maigret und Lucas waren bald wieder draußen, und die Luft war so lau, dass beide ihre Mäntel über den Arm nahmen, und dabei verspürten sie einen Hauch von Ferien.

    »Einen auf die Schnelle?«

    Es war noch nicht Zeit für den Aperitif, doch beide hatten den Eindruck, der Geschmack von Pernod würde aufs Wunderbarste harmonieren mit dieser Frühlingsatmosphäre, und sie traten durch die Tür der Brasserie Dauphine.

    »Zwei Pernods, rasch, im Stehen!«

    »Kennst du eigentlich Saint-André-sur-Mer?«

    »Ich glaube, das ist irgendwo in den Charentes.«

    Es erinnerte Maigret an den sonnigen Strand bei Fouras, an die Austern, die er gegessen hatte, genau um diese Uhrzeit, auf der Terrasse eines kleinen Bistros, begleitet von einer Flasche Weißwein aus der Gegend, die hatte einen leichten, sandigen Bodensatz.

    »Glaubst du, der Angestellte trickst?«

    »Der Direktor ist davon überzeugt, scheint’s.«

    »Sieht aus wie ein armer Hund.«

    »In zwei, drei Tagen wissen wir Bescheid.«

    Sie gingen über den Quai des Orfèvres, nahmen die große Treppe, und wieder machte Maigret kurz halt. Mausgesicht war immer noch da, vorgebeugt, die langen, knochigen Hände gefaltet im Schoß. Er hob die Augen zum Kommissar, und der fand darin so etwas wie einen Vorwurf.

    In seinem Büro sah er die Visitenkarte, dort, wo er sie hingelegt hatte, und er klingelte nach dem Bürodiener.

    »Ist er noch da?«

    »Seit früh um acht. Ist schon vor mir gekommen. Er sagt immer, er muss mit Ihnen persönlich sprechen.«

    Jede Menge Leute, vor allem Verrückte und Halbverrückte, wollten unbedingt den Direktor persönlich sprechen, oder den Kommissar, denn sie kannten seinen Namen aus der Zeitung. Sie lehnten es ab, dass ein Inspektor sie empfing, und manch einer wartete den lieben langen Tag, kam am nächsten Morgen wieder, erhob sich jedes Mal, wenn er den Kommissar vorbeigehen sah, setze sich hin und wartete weiter.

    »Hol ihn rein.«

    Er nahm Platz, stopfte zwei, drei Pfeifen, wies, als man den Mann hereinführte, auf den Stuhl gegenüber. Dann fragte er, die Visitenkarte in der Hand:

    »Sind Sie das?«

    Aus der Nähe bemerkte er, dass der Mann wohl nicht geschlafen hatte, denn sein Gesicht war grau, die Lider waren rot, die Augen allzu glänzend. Er faltete die Hände wie schon im Warteraum, quetschte die Finger, bis sie knackten.

    Anstatt die Frage zu beantworten, murmelte er und warf dabei auf den Kommissar einen so ängstlichen wie resignierten Blick:

    »Wissen Sie Bescheid?«

    »Über was?«

    Er schien überrascht, verwirrt, vielleicht sogar enttäuscht.

    »Ich dachte, es ist schon bekannt. Ich bin gestern Abend weggefahren aus Saint-André, und da war schon ein Reporter. Ich habe den Nachtzug genommen. Ich bin gleich hierhergekommen.«

    »Wieso?«

    Er wirkte intelligent, war aber offenbar ziemlich durcheinander und wusste nicht, wie er beginnen sollte mit seiner Geschichte. Maigret hatte ihn eingeschüchtert. Man merkte es ihm an, er kannte schon lange seinen Ruf, und wie viele andere sah er in ihm fast eine Art Gottvater.

    Aus der Entfernung war es ihm leicht erschienen. Jetzt hatte er vor sich einen Mann aus Fleisch und Blut, der in kurzen Zügen seine Pfeife rauchte und ihn dabei anschaute, aus großen, fast gleichgültigen Augen.

    War so das Bild, das er sich gemacht hatte? Bereute er nicht schon seine Reise?

    »Die denken da natürlich, ich bin geflüchtet«, stieß er hervor, nervös und mit bitterem Lächeln. »Wenn ich schuldig wäre, und davon sind die ja überzeugt, wenn ich wirklich flüchten wollte, dann säße ich jetzt nicht hier, oder?«

    »Ich kann die Frage schlecht beantworten, solange ich nichts weiß«, murmelte Maigret. »Was wirft man Ihnen denn vor?«

    »Dass ich Léonie Birard umgebracht habe.«

    »Wer beschuldigt Sie?«

    »Das ganze Dorf, mehr oder weniger offen. Der Gendarmerieleutnant hat sich nicht getraut, mich zu verhaften. Er hat keine Beweise, das gibt er sogar zu, aber er hat gewollt, dass ich den Ort nicht verlasse.«

    »Sie sind trotzdem losgefahren?«

    »Ja.«

    »Warum?«

    Der Besucher, viel zu angespannt, um lange dazusitzen, sprang auf mit einem Ruck und stammelte:

    »Erlauben Sie?«

    Er wusste nicht, wohin mit sich.

    »Manchmal frag ich mich, wo mir der Kopf steht.«

    Er zog ein schmuddeliges Taschentuch hervor, wischte sich die Stirn. Es roch wohl nach Eisenbahn und auch nach Schweiß.

    »Haben Sie gefrühstückt?«

    »Nein. Ich wollte schnell hierher. Und ich wollte nicht, dass man mich vorher verhaftet, verstehen Sie?«

    Wie sollte Maigret das verstehen?

    »Warum genau sind Sie hergekommen?«

    »Weil ich Vertrauen habe in Sie. Ich weiß, wenn Sie wollen, kriegen Sie die Wahrheit raus.«

    »Wann ist diese Dame … Was haben Sie gesagt, wie heißt sie?«

    »Léonie Birard. Unsere alte Postfrau.«

    »Wann ist sie gestorben?«

    »Dienstagvormittag, da hat man sie umgebracht. Vorgestern. Vormittags kurz nach zehn.«

    »Hat einer Sie wegen der Tat beschuldigt?«

    »Sie kommen vom Land, das stand in einer Illustrierten. Sie sind da auch die längste Zeit geblieben, in Ihrer Jugend. Sie wissen, wie das zugeht in so einem kleinen Ort. Saint-André hat grade mal dreihundertzwanzig Einwohner.«

    »Augenblick. Die Tat, von der Sie reden, die ist in den Charentes passiert?«

    »Ja. Fünfzehn Kilometer von La Rochelle, Richtung Nordwest, nicht weit von der Pointe de l’Aiguillon. Sagt Ihnen das was?«

    »Ein bisschen. Aber ich gehöre zur Kriminalpolizei Paris, ich habe keinerlei Befugnisse in den Charentes.«

    »Habe ich mir schon gedacht.«

    »In dem Fall …«

    Der Mann trug seinen besten Anzug, etwas zerknittert; der Hemdkragen abgewetzt. Er stand mitten im Büro, senkte den Kopf und starrte auf den Teppich.

    »Natürlich …«, seufzte er.

    »Was meinen Sie damit?«

    »Es war ein Fehler. Ich weiß nicht mehr. Ich dachte, es ist ganz einfach.«

    »Was?«

    »Hierherkommen, unter Ihren Schutz.«

    »Unter meinen Schutz?«, wiederholte Maigret überrascht.

    Gastin schaute ihn nun doch endlich an, mit dem Ausdruck eines Mannes, der sich fragt, wie es um ihn steht.

    »Sogar wenn

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