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Maigret und die verrückte Witwe
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Maigret und die verrückte Witwe
eBook171 Seiten2 Stunden

Maigret und die verrückte Witwe

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Über dieses E-Book

Eine alte Witwe fühlt sich verfolgt und behauptet, in ihrer Wohnung wechselten die Dinge wie von Geisterhand ihre Plätze. Maigret hält sie für eine der vielen Verrückten, die ihm am Quai des Orfèvres täglich begegnen, aber ihre Treuherzigkeit rührt ihn. Er verspricht, sie bei Gelegenheit zu besuchen und nach dem Rechten zu sehen. Als die alte Dame tot in ihrer Wohnung aufgefunden wird, beschleicht den Kommissar ein schlechtes Gewissen. Er ist fest entschlossen, den Schuldigen zu finden.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum22. Okt. 2020
ISBN9783311701903
Maigret und die verrückte Witwe
Autor

Georges Simenon

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

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    Buchvorschau

    Maigret und die verrückte Witwe - Georges Simenon

    1

    Links vom Portal am Quai des Orfèvres hielt der Polizist Picot Wache, rechts stand sein Kollege Loutille. Es war etwa zehn Uhr morgens. An diesem Maitag tauchte die Frühlingssonne Paris in Pastellfarben.

    Als Picot sie erblickte, maß er ihr keine Bedeutung bei: eine dürre, kleine alte Frau in einem stahlgrauen Kleid, mit einem weißen Hut und weißen Baumwollhandschuhen. Sie ging leicht gebückt vom Alter, und ihre Beine waren sehr dünn.

    Ob sie ein Einkaufsnetz oder eine Handtasche bei sich hatte? Er erinnerte sich nicht mehr. Er hatte sie nicht kommen sehen. Sie blieb ein paar Schritte von ihm entfernt auf dem Gehweg stehen und betrachtete die aufgereihten schwarzen Autos im Hof der Kriminalpolizei.

    Es kommt häufig vor, dass Neugierige, vor allem Touristen, einen Blick auf das Gebäude der Kriminalpolizei werfen. Die Frau ging zum Portal und musterte den Polizisten von Kopf bis Fuß, dann machte sie kehrt und verschwand in Richtung Pont-Neuf.

    Picot stand auch am nächsten Morgen Wache, und fast zur gleichen Zeit wie am Tag zuvor tauchte sie wieder auf. Sie zögerte eine Weile, doch schließlich ging sie auf ihn zu und fragte:

    »Hier hat doch Kommissar Maigret sein Büro, nicht wahr?«

    »Ja, Madame. Im ersten Stock.«

    Sie blickte hoch und betrachtete die Fenster. Sie hatte ein sehr hübsches, fein gezeichnetes Gesicht, und ihre hellgrauen Augen wirkten immerzu erstaunt.

    »Danke, Herr Polizist.«

    Sie trippelte davon, und tatsächlich hatte sie ein Einkaufsnetz dabei, was vermuten ließ, dass sie im Viertel wohnte.

    Am nächsten Tag hatte Picot frei. Sein Stellvertreter achtete nicht auf die kleine alte Frau, die sich in den Hof stahl. Sie strich dort einen Augenblick umher, ging dann durch die Tür links und stieg die Treppe hinauf. Der lange Flur im ersten Stock schüchterte sie ein, sie wirkte ein wenig verloren. Der alte Joseph, der Bürodiener, trat auf sie zu und fragte freundlich:

    »Suchen Sie etwas?«

    »Das Büro von Kommissar Maigret.«

    »Möchten Sie den Kommissar sprechen?«

    »Ja. Deswegen bin ich hier.«

    »Haben Sie eine Vorladung?«

    Sie schüttelte bedauernd den Kopf.

    »Braucht man denn eine?«

    »Kann ich ihm etwas ausrichten?«

    »Ich muss ihn unbedingt persönlich sprechen. Es ist äußerst wichtig.«

    »Dann füllen Sie diesen Meldezettel aus, und ich werde mich erkundigen, ob der Kommissar Sie empfangen kann.«

    Sie setzte sich an den mit grünem Stoff bespannten Tisch. Die Büros waren gerade frisch renoviert worden, und es roch stark nach Farbe. Insgesamt fand sie die Stimmung für eine Behörde eher heiter.

    Den ersten Meldezettel zerriss sie. Sie schrieb langsam, wog jedes Wort ab, unterstrich sogar einige Wörter. Auch der zweite Zettel wanderte in den Papierkorb, dann der dritte, und erst mit dem vierten schien sie zufrieden zu sein. Sie wandte sich an den alten Joseph:

    »Sie übergeben ihm das persönlich, nicht wahr?«

    »Ja, Madame.«

    »Er ist wohl sehr beschäftigt?«

    »Ja, sehr.«

    »Glauben Sie, er empfängt mich?«

    »Das weiß ich nicht, Madame.«

    Sie war über achtzig, vielleicht sechs- oder siebenundachtzig, und wog sicher nicht mehr als ein kleines Mädchen. Ihr Körper war mit den Jahren zart und schmal geworden, ihre Haut durchsichtig. Sie lächelte schüchtern, als wollte sie den guten Joseph verführen.

    »Tun Sie bitte, was Sie können. Es ist sehr wichtig für mich.«

    »Nehmen Sie doch Platz, Madame.«

    Er ging zu einer Tür und klopfte. Maigret war in einer Besprechung mit Janvier und Lapointe, die beide standen. Durch das weit geöffnete Fenster drang Straßenlärm.

    Maigret nahm den Zettel entgegen, warf einen Blick darauf und runzelte die Stirn.

    »Was macht sie für einen Eindruck?«

    »Eine sehr höfliche alte Dame, vielleicht etwas schüchtern. Sie hat mich gebeten, alles zu tun, damit Sie sie empfangen.«

    Mit einer festen und regelmäßigen Schrift hatte sie in die erste gepunktete Zeile ihren Namen eingetragen:

    Madame Antoine de Caramé

    Darunter eine Adresse:

    Quai de la Mégisserie 8

    Und als Grund ihres Besuchs:

    Äußerst wichtige Mitteilung für Kommissar Maigret. Es geht um Leben und Tod.

    Man sah der Schrift an, dass ihre Hand bei diesen Zeilen gezittert hatte; die Buchstaben waren etwas schief. Äußerst wichtige und Kommissar hatte sie unterstrichen. Es geht um Leben und Tod sogar doppelt.

    Maigret zog an seiner Pfeife und murmelte:

    »Eine Verrückte?«

    »Sie wirkt nicht so. Sie ist sehr ruhig.«

    Am Quai des Orfèvres war man Briefe von Verrückten oder Halbverrückten gewohnt. Fast immer waren mehrere Wörter unterstrichen.

    »Sprich du mit ihr, Lapointe. Sonst kommt sie jeden Morgen wieder.«

    Kurz darauf wurde die alte Frau in das kleine Büro am Ende des Flurs geführt. Lapointe war allein, er stand am Fenster.

    »Treten Sie ein, Madame. Setzen Sie sich bitte.«

    Sie musterte ihn neugierig und fragte:

    »Sind Sie sein Sohn?«

    »Wessen Sohn?«

    »Der vom Kommissar.«

    »Nein, Madame. Ich bin Inspektor Lapointe.«

    »Aber Sie sind ja noch ein halbes Kind!«

    »Ich bin siebenundzwanzig.«

    Das stimmte. Aber es stimmte auch, dass er wie zweiundzwanzig aussah und man ihn öfter für einen Studenten hielt als für einen Polizeibeamten.

    »Ich wollte mit Kommissar Maigret sprechen.«

    »Er ist leider so beschäftigt, dass er Sie nicht empfangen kann.«

    Sie zögerte, fummelte nervös an ihrer weißen Handtasche und entschloss sich, stehen zu bleiben.

    »Und wenn ich morgen wiederkomme?«

    »Das ändert nichts.«

    »Empfängt Kommissar Maigret nie jemanden?«

    »Nur in besonders dringenden Fällen.«

    »Aber mein Fall ist besonders dringend! Es geht um Leben und Tod!«

    »Das haben Sie bereits auf Ihren Meldezettel geschrieben.«

    »Und?«

    »Wenn Sie mir sagen, worum es sich handelt, werde ich es dem Kommissar mitteilen. Die Entscheidung liegt bei ihm.«

    »Wird er mich dann vielleicht empfangen?«

    »Ich kann nichts versprechen. Schon möglich.«

    Sie schien lange das Für und Wider abzuwägen und ließ sich schließlich auf der Stuhlkante nieder, Lapointe gegenüber, der sich an den Schreibtisch gesetzt hatte.

    »Worum handelt es sich?«

    »Zunächst müssen Sie wissen, dass ich seit zweiundvierzig Jahren in derselben Wohnung am Quai de la Mégisserie lebe. Im Erdgeschoss ist eine Vogelhandlung, und wenn der Besitzer im Sommer die Käfige auf den Gehweg stellt, höre ich die Vögel den ganzen Tag lang piepsen und singen. Sie leisten mir Gesellschaft.«

    »Sie haben von einer Gefahr gesprochen.«

    »Ich bin ganz bestimmt in Gefahr, aber Sie werden das sicher für Geschwätz halten. Ihr jungen Leute glaubt gern, dass wir Alten nicht mehr ganz richtig im Kopf sind.«

    »Ich denke das nicht.«

    »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll. Seit mein zweiter Mann vor zwölf Jahren gestorben ist, lebe ich allein, und es besucht mich nie jemand in meiner Wohnung. Sie ist für mich allein zu groß, trotzdem würde ich gerne bis zu meinem Tod da wohnen. Ich bin sechsundachtzig, kann mich aber selbst um den Haushalt kümmern.«

    »Haben Sie ein Haustier? Einen Hund oder eine Katze?«

    »Nein. Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich die Vögel im Erdgeschoss singen höre. Ich wohne direkt über der Vogelhandlung.«

    »Was macht Ihnen Kummer?«

    »Das ist wirklich schwer zu erklären. Nun ja, in den letzten zwei Wochen haben bei mir die Dinge jetzt schon mindestens fünfmal ihren Platz gewechselt!«

    »Wie meinen Sie das? Wenn Sie nach Hause kommen, sind sie nicht mehr an derselben Stelle?«

    »Ja, genau. Ein gerahmtes Foto hängt schief, oder eine Vase steht nicht mehr so wie vorher.«

    »Und Sie sind sich sicher, dass Sie sich nicht irren?«

    »Na bitte! Weil ich alt bin, zweifeln Sie an meinem Gedächtnis! Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich seit zweiundvierzig Jahren in der Wohnung lebe. Ich weiß genau, wo alles hingehört.«

    »Und ist etwas gestohlen worden? Ist etwas verschwunden?«

    »Nein, Herr Inspektor.«

    »Haben Sie Geld zu Hause?«

    »Sehr wenig. Nur so viel, wie ich für einen Monat brauche. Mein erster Mann hat im Rathaus gearbeitet, und jetzt bekomme ich eine Witwenrente. Außerdem habe ich Ersparnisse auf der Bank.«

    »Besitzen Sie Wertsachen, Bilder, Kunstgegenstände, was weiß ich?«

    »An einigen Dingen liegt mir sehr viel, aber die sind nicht wirklich wertvoll.«

    »Hinterlässt Ihr Besucher oder Ihre Besucherin Spuren? An einem Regentag könnten es Fußspuren sein, zum Beispiel.«

    »Es hat seit zehn Tagen nicht geregnet.«

    »Zigarettenasche?«

    »Nein.«

    »Hat jemand einen Schlüssel zu Ihrer Wohnung?«

    »Nein. Nein, es gibt nur einen Schlüssel, und der ist hier in meiner Handtasche.«

    Er sah sie verständnislos an.

    »Kurz, Sie beklagen sich bloß darüber, dass einige Dinge bei Ihnen zu Hause plötzlich nicht ganz genau da sind, wo sie hingehören?«

    »So ist es.«

    »Und Sie haben nie jemanden gesehen?«

    »Nie.«

    »Und Sie haben keine Ahnung, wer es sein könnte?«

    »Nicht die geringste.«

    »Haben Sie Kinder?«

    »Leider nein.«

    »Angehörige?«

    »Eine Nichte, die ist Masseuse. Aber ich sehe sie nur selten, obwohl sie direkt am anderen Seineufer wohnt.«

    »Freunde? Freundinnen?«

    »Die meisten meiner Bekannten sind tot. Das ist allerdings noch nicht alles.«

    Ihr Blick war fest, ihre Stimme ruhig und unaufgeregt.

    »Ich werde verfolgt.«

    »Sie meinen, auf der Straße?«

    »Ja.«

    »Und Sie haben die Person, die Ihnen folgt, gesehen?«

    »Wenn ich mich umgedreht habe, waren da immer mehrere Personen. Aber ich weiß nicht, wer von denen es war.«

    »Gehen Sie oft aus?«

    »Morgens um acht mache ich meine Besorgungen im Viertel. Ich finde es sehr schade, dass es die Markthallen nicht mehr gibt, die waren gleich um die Ecke, und ich hatte da ein paar gute Adressen. Seitdem habe ich verschiedene Läden ausprobiert. Aber es ist nicht das Gleiche.«

    »Ist die Person, die Ihnen folgt, ein Mann?«

    »Das weiß ich nicht.«

    »So gegen zehn Uhr kommen Sie wohl wieder nach Hause?«

    »Ungefähr. Dann setze ich mich ans Fenster und putze mein Gemüse.«

    »Bleiben Sie nachmittags daheim?«

    »Nur wenn es regnet oder zu kalt ist. Sonst gehe ich in die Tuilerien und setze mich auf eine Bank. Ich bin nicht die Einzige, die da ihre Bank hat. Seit Jahren sehe ich Menschen in meinem Alter immer am selben Platz sitzen.«

    »Und Sie werden bis in die Tuilerien verfolgt?«

    »Jemand folgt mir, wenn ich meine Wohnung verlasse, als wollte man sichergehen, dass ich nicht gleich zurückkomme.«

    »Haben Sie das mal getan?«

    »Dreimal. Ich bin wieder in meine Wohnung zurück, als hätte ich etwas vergessen.«

    »Es war natürlich niemand dort.«

    »Trotzdem waren Dinge verrückt worden. Jemand hat es auf mich abgesehen. Ich weiß nicht, warum, denn ich habe nie einem Menschen ein Leid getan. Vielleicht sind es mehrere.«

    »Was hat Ihr Mann im Rathaus gemacht?«

    »Mein erster Mann war Bürochef. Er hatte sehr viel Verantwortung. Leider ist er früh gestorben, mit fünfundvierzig, an einem Herzinfarkt.«

    »Sie haben wieder geheiratet?«

    »Fast zehn Jahre später. Mein zweiter Mann war Verkaufsleiter im Bazar de l’Hôtel de Ville, in der Abteilung für landwirtschaftliche Geräte und Werkzeug aller Art.«

    »Und er lebt auch

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