Tropenkoller
Von Georges Simenon und William Boyd
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Über dieses E-Book
Und es gibt nichts zu tun, als zu trinken und Billard zu spielen – und eine Affäre zu beginnen, mit Adèle, der verheirateten Wirtin des Hotels Central, die in ihrem schwarzen Seidenkleid auf Joseph gewartet zu haben scheint wie eine Spinne auf ihre Beute. Dann wird der Hotelboy ermordet, und bald darauf stirbt auch Adèles Mann. Joseph hat einen schrecklichen Verdacht. Aber er kommt nicht los von Adèle: Es ist wie das Fieber, das ihn immer wieder überkommt. Als sich für Joseph eine vielversprechende Verdienstmöglichkeit im Landesinneren auftut, verkauft Adèle kurzerhand ihr Hotel und begleitet ihn. Beginnt für die beiden nun ein neues Leben? Vor allem aber: Kann Joseph seiner Geliebten wirklich trauen?
Georges Simenon
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
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Buchvorschau
Tropenkoller - Georges Simenon
1
Bestand denn irgendein Grund zur Beunruhigung? Nein. Nichts Ungewöhnliches war geschehen. Er musste sich nicht bedroht fühlen. Es wäre lachhaft, jetzt die Ruhe zu verlieren, das war ihm selbst klar, weshalb er schon jetzt, während der Feier, dagegen anzugehen versuchte.
Im Übrigen war es keine Unruhe im eigentlichen Sinn. Er hätte auch gar nicht sagen können, wann genau ihn die Beklommenheit gepackt hatte, dieses Unbehagen, das durch ein kaum merkliches Ungleichgewicht hervorgerufen wurde.
Jedenfalls nicht in dem Augenblick, da er Europa verließ. Im Gegenteil, Joseph Timar war beherzt und glühend vor Begeisterung aufgebrochen.
Bei der Landung in Libreville, seiner ersten Berührung mit Gabun? Das Schiff hatte auf der Reede geankert, so weit draußen, dass vom Festland nur eine weiße Linie zu sehen war, der Strand, über dem sich der Wald als ein dunkler Streifen hinzog. Große graue Wellen hoben das kleine Boot und ließen es immer wieder gegen den Rumpf des Dampfers stoßen. Timar stand allein unten am Fallreep, das Wasser zu seinen Füßen, und lauerte auf das Boot, das für eine Sekunde nah herankam, ehe es wieder forttrieb.
Ein nackter Arm, der Arm eines Schwarzen, hatte ihn ergriffen, und dann waren er und der Schwarze über die Wellenkämme davongesprungen. Später, vielleicht eine Viertelstunde oder mehr, als vom Dampfer schon die Signale ertönten, legten sie an einer Mole aus übereinandergeworfenen Betonwürfeln an.
Dort war niemand, nicht einmal ein Schwarzer. Niemand erwartete jemanden. Einzig Timar stand dort, inmitten seiner Koffer!
Aber auch in diesem Augenblick hatte ihn die Unruhe nicht gepackt. Er hatte sich zu helfen gewusst. Er hatte einem vorüberfahrenden Lastwagen gewinkt, und der hatte ihn ins Central, das einzige Hotel von Libreville, gebracht.
Und wie schön war das gewesen! So pittoresk. Und typisch afrikanisch! In dem Lokal, dessen Wände mit afrikanischen Masken geschmückt waren, setzte er ein Grammophon mit Schalltrichter in Gang, während der Boy ihm einen Whisky einschenkte, und kam sich vor wie ein Kolonist.
Was den Zwischenfall anging, so war der mehr komisch als dramatisch gewesen. Und so typisch für die Kolonien! Timar war begeistert von allem, was eine koloniale Prägung hatte.
Einem seiner Onkel war es zu verdanken, dass man ihn bei der Sacova engagiert hatte. Der Vertreter der Gesellschaft in Frankreich hatte ihm angekündigt, er würde mitten im Wald leben, irgendwo in der Nähe von Libreville, Holz fällen und den Einheimischen allerlei Krimskrams verkaufen.
Kaum an Land, war Timar in eine kümmerliche Faktorei gestürzt, über der das Wort Sacova prangte. Mit ausgestreckter Hand war er auf einen Mann mit melancholischer oder angewiderter Miene zugegangen, der diese Hand angesehen, aber nicht ergriffen hatte.
»Sind Sie der Direktor? … Sehr erfreut. Ich bin der neue Angestellte.«
»Angestellt von wem, wofür? Was wollen Sie hier tun? Ich brauche keinen Angestellten!«
Timar war nicht zurückgezuckt. Das hatte den Direktor erstaunt. Mit seinen durch die Brillengläser riesig wirkenden Augen hatte er ihn forschend angeblickt und war fast höflich, ja, im Ton sogar geradezu vertraulich geworden.
»Immer wieder die alte Geschichte! Die Büros in Frankreich, die sich in die Leitung der kolonialen Angelegenheiten einmischen!« Man hatte Timar den Posten versprochen? Nun, dorthin dauerte es zehn Tage mit der Pinasse, ganz den Fluss hinauf. Aber erstens war die Pinasse leck und würde erst in einem Monat wieder fahrbereit sein. Zweitens besetzte ein verrückter Alter den Posten und wollte jeden erschießen, der käme, um ihn abzulösen.
»Sehen Sie zu, wie Sie zurechtkommen. Ich habe damit nichts zu tun.«
Vier Tage waren seitdem vergangen, vier Tage war Joseph Timar jetzt in Afrika. Er kannte Libreville schon besser als La Rochelle, wo er geboren war: ein langer, von Kokospalmen gesäumter Quai aus rotem Schotter, der an dem unter freiem Himmel liegenden Markt der Einheimischen entlangführte, alle hundert Meter gab es eine Faktorei, und abseits davon standen einige Villen, im Grün versteckt.
Er hatte sich die beschädigte Pinasse angesehen. Niemand arbeitete daran. Niemand hatte jemanden dazu beauftragt. Er wagte es nicht, selbst den Auftrag zu erteilen, er, Timar, der Neuankömmling, der in gewisser Weise überzählig war.
Er war dreiundzwanzig Jahre alt. Über seine Wohlerzogenheit und guten Manieren lachten selbst die Boys, die ihn bei Tisch bedienten.
Kein Grund zur Beunruhigung? O doch! Er kannte den Grund, und wenn er in Gedanken all die falschen Gründe aufzählte, dann nur, um den Augenblick hinauszuzögern, da er bei dem wahren Grund anlangte.
Der Grund war da, diffus verstreut um ihn herum und im Hotel. Er war das Hotel selbst. Er war …
Er war hingerissen gewesen vom äußeren Anblick des Central. Ein gelbes Gebäude, etwa fünfzig Meter hinter den Kokospalmen landeinwärts, inmitten eines Gewirrs merkwürdiger Pflanzen.
Der große Raum, zugleich Café und Restaurant, hatte sehr helle Wände, deren Pastellfarben an die Provence erinnerten, und eine Bar aus lackiertem Mahagoni mit Messingbeschlägen und hohen Hockern davor, die den Eindruck von Behaglichkeit vermittelten.
Hier nahmen die Junggesellen von Libreville ihre Mahlzeiten ein. Jeder hatte seinen Tisch und seinen Serviettenring.
Die Zimmer im oberen Stockwerk waren nie belegt. Kahle und leere Zimmer, ebenfalls mit pastellfarbenen Wänden. Betten, über denen Moskitonetze hingen, und hier und dort ein alter Krug, eine angestoßene Waschschüssel, ein leerer Überseekoffer.
Überall, oben wie unten, wurden einfallende Sonnenstrahlen von den Jalousien vor den Fenstern zerschnitten, sodass sich durch das ganze Haus Gittermuster aus Licht und Schatten zogen.
Timars Gepäck war das eines jungen Mannes aus guter Familie, und es wirkte komisch, wie es da in seinem Zimmer auf dem Boden stand. Er war es nicht gewohnt, sich in einer kleinen Schüssel zu waschen, und schon gar nicht, sich für gewisse Verrichtungen ins Gebüsch zu schlagen.
Auch all die herumschwirrenden Insekten, unbekannten Fliegen, fliegenden Skorpione, pelzigen Spinnen kannte er nicht.
Und dann wurde er zum ersten Mal von dem heimtückischen Unbehagen befallen, das ihn hartnäckig wie ein Schwarm Insekten verfolgen sollte. Als er am ersten Abend seine Kerze gelöscht hatte, erkannte er trotz der Dunkelheit noch den bleichen Käfig des Moskitonetzes. Über dem Tüll spürte er eine gewaltige Leere, in der es kaum wahrnehmbar knisterte, und winzige Lebewesen – Skorpion? Mücke? Spinne? –, die sich manchmal auf das durchsichtige Gewebe setzten.
Und in diesem weichen Käfig lag er und versuchte, den leisen Geräuschen zu folgen, dem Erzittern der Luft und den unvermutet eintretenden Momenten völliger Stille.
Abrupt hatte er sich auf die Ellbogen gestützt. Es war schon am Morgen. Die Sonnenstrahlen sickerten herein, und die Tür hatte sich soeben geöffnet. Die Wirtin des Hotels sah ihn an, ruhig lächelnd.
Timar war nackt. Das wurde ihm jäh bewusst. Seine Schultern und sein Oberkörper tauchten blass und feucht aus den zerwühlten Laken auf. Warum war er nackt? Angestrengt versuchte er, sich zu erinnern.
Ihm war heiß gewesen. Er hatte stark geschwitzt. Vergeblich hatte er nach Streichhölzern gesucht, denn ihm schien, dass nicht fassbare Tierchen über seine Haut krabbelten.
Und da, vermutlich mitten in der Nacht, hatte er seinen Pyjama ausgezogen. Sodass nun die Wirtin seine blasse Haut und die hervorspringenden Rippen sehen konnte. Sie schloss die Tür mit verblüffender Ruhe und fragte:
»Haben Sie gut geschlafen?«
Seine Hose lag auf dem Boden. Sie hob sie auf, schüttelte den Staub heraus und hängte sie über den Stuhl.
Timar wagte nicht, sich zu erheben. Sein Bett roch nach Schweiß. In der Schüssel stand noch schmutziges Wasser, seinem Kamm fehlten mehrere Zinken.
Und doch wollte er nicht, dass diese Frau im schwarzen Seidenkleid, die ihm sanft und zugleich ironisch zulächelte, fortging.
»Ich bin hier, um Sie zu fragen, was Sie möchten. Kaffee? Tee? Schokolade? Hat Ihre Mutter Sie geweckt, in Europa?«
Sie hatte das Moskitonetz gelüftet und bespöttelte ihn. Sie neckte ihn, mit spitzen Zähnen, als hätte sie Lust, ihn anzubeißen.
Ihn anzubeißen, weil er anders war als die Kolonisten, weil er nach Bett und gepflegter Jugendlichkeit duftete.
Sie war nicht aufreizend. Sie war auch nicht mütterlich. Und doch hatte sie von beidem etwas. Aber vor allem strahlte diese füllige fünfunddreißigjährige Frau von Kopf bis Fuß eine dumpfe Sinnlichkeit aus.
War sie nicht nackt unter ihrem schwarzen Seidenkleid? Trotz seiner Verlegenheit stellte sich Timar die Frage.
Dabei ergriff ihn ein heftiges Verlangen, verstärkt durch Dinge, die gar nichts damit zu tun hatten. Die Muster von Licht und Schatten, die animalische Feuchtigkeit des Bettes, sein unruhiger Schlaf in der zurückliegenden Nacht, unterbrochen von unwillkürlichem Aufschrecken und blindem Herumtasten im Dunkel.
»Ach je, Sie sind ja gestochen worden.«
Auf dem Bettrand sitzend, legte sie einen Finger auf seine nackte Brust, ein wenig oberhalb der Warze, berührte einen kleinen roten Fleck und blickte Timar in die Augen.
Das also war passiert, das Folgende ging dann sehr schnell, sehr wirr und unbeholfen. Sie war darüber ebenso erstaunt gewesen wie er, gewiss irritiert, und während sie vor dem Spiegel ihr Haar in Ordnung brachte, hatte sie gesagt:
»Thomas wird Ihnen Ihren Kaffee bringen.«
Thomas war der Boy. Für Timar bloß ein Schwarzer, denn er war noch nicht lang genug in Afrika, um die Schwarzen voneinander unterscheiden zu können.
Als er eine Stunde später hinuntergegangen war, hatte die Wirtin mit einer Häkelarbeit aus grellrosa Seide hinter der Bar gesessen. Von dem wilden, leidenschaftlichen Rausch zuvor war ihr nichts mehr anzumerken. Gelassen und heiter lächelte sie wie sonst.
»Wann wollen Sie zu Mittag essen?«
Nicht einmal ihren Namen kannte er! Seine Sinne waren überreizt. Er spürte noch ihre Wärme, die zarte Haut, den nicht sehr festen, aber köstlichen Körper.
Eine kleine Schwarze brachte Fische, die Wirtin wählte wortlos die schönsten aus und warf einige Geldstücke in den Korb.
Aus dem Keller tauchte der Ehemann auf, zunächst der Oberkörper, dann der starke, aber müde Rest. Er war ein Koloss mit trägen Bewegungen, mürrisch verzogenem Mund und galligem Blick.
»Sie waren hier?«
Und Timar errötete wie ein dummer Junge. So ging das nun schon seit drei Tagen. Nur stieg sie morgens nicht mehr hinauf in sein Zimmer. Von seinem Bett aus hörte er, wie sie unten im Lokal hin und her ging, Thomas Anweisungen gab und den Schwarzen Waren abkaufte.
Von früh bis spät trug sie dasselbe schwarzseidene Kleid, unter dem sie, wie er jetzt wusste, nackt war. Das verwirrte ihn so sehr, dass er oft den Blick abwenden musste.
Draußen gab es für ihn nichts zu tun. Er verbrachte fast den ganzen Tag im Hotel, trank irgendetwas, blätterte durch drei Wochen alte Zeitungen oder spielte für sich allein Billard.
Sie häkelte und bediente Leute, die sich für einen Moment an die Theke stellten und die Ellbogen aufstützten. Der Mann kümmerte sich um sein Bier und seine Flaschen, rückte die Tische zurecht, und hin und wieder forderte er Timar auf, sich in eine andere Ecke zu setzen. Er schien ihn wie einen störenden Gegenstand zu betrachten.
Das Ganze hatte etwas Gereiztes, Verbissenes und trotz der Sonne Düsteres, besonders in den drückend heißen Stunden, wo einem der Schweiß schon ausbrach, wenn man nur den Arm hob.
Mittags und abends kamen die Stammgäste zum Essen und zum Billardspiel. Timar kannte sie nicht. Sie musterten ihn neugierig, ohne Wohlwollen oder Abneigung. Und er wagte nicht, sie anzusprechen.
Schließlich hatte das Fest stattgefunden. Es war auf seinem Höhepunkt. In einer Stunde würden alle betrunken sein, selbst Timar, der ganz allein seinen Champagner trank.
Der Künstler hieß Manuelo. Er musste angekommen sein, als Timar noch schlief oder ausgegangen war. Gegen elf Uhr am Vormittag jedenfalls war Timar im Hotel auf ihn gestoßen. Lächelnd, mit allem vertraut, schon ganz zu Hause, klebte der Künstler Plakate an die Säulen des Lokals. Sie kündigten Manuelo an, die größte spanische Tänzerin.
Ein geschmeidiger und charmanter kleiner Mann. Er verstand sich bereits sehr gut mit der Wirtin. Nicht so, wie sich ein Mann und eine Frau, sondern wie sich Frauen untereinander verstehen.
Schon am Mittag waren die Tische umgestellt worden, damit mehr Platz für Manuelos Tänze entstand. Man hatte bunte Papiergirlanden gespannt und das Grammophon ausprobiert.
Stundenlang hatte der Spanier im Zimmer seine Nummern geübt, so heftig auf den Boden stampfend, dass die Decke wackelte.
War Joseph Timar deshalb verstimmt, weil der Rhythmus, an den er sich gewöhnt hatte, gestört worden war? Trotz der Sonne war er ausgegangen und hatte gespürt, wie sein Schädel unter dem Tropenhelm heiß wurde. Schwarze Frauen hatten ihn lachend angesehen.
Ebenfalls wegen des Festes war den Stammgästen ihr Essen in aller Eile serviert worden. Dann waren Leute von draußen gekommen, Weiße, die Timar noch nie gesehen hatte, weiße Männer und Frauen, Frauen im Abendkleid und zwei Engländer im Smoking.
An allen Tischen wurde Champagner getrunken.