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Einfach leben: Vom Glück, nur noch zu besitzen, was in einen Bus passt
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eBook480 Seiten8 Stunden

Einfach leben: Vom Glück, nur noch zu besitzen, was in einen Bus passt

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Über dieses E-Book

"Einfach leben" ist ein Erfahrungsbericht aus über drei Jahren Nomadentum. Die Entscheidung, in einem Bus zu leben, fällt spontan an einem Winterabend im Jahr 2016. Die Wohnungskündigung schreiben die Journalistin und der Filmemacher noch am selben Abend. Seither sind sie dazuhause, wo ihr Bus steht.Einfach leben ist eine Liebeserklärung an das Leben als Nomaden.Und ein Wortspiel. Denn dieses Buch ist auch eine Liebeserklärung andas Leben überhaupt. Es erzählt von den Veränderungen, die mit demUmzug in einen Bus auch im Kopf passiert sind und gleichzeitig von Reiseerlebnissen und Begegnungen überall auf der Welt. Erzählt wird einpersönlicher Weg zum Glück, der dazu inspiriert, im Hier und Jetzt seineTräume zu leben. Weil irgendwann, 'irgendwann' zu spät sein kann.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Feb. 2021
ISBN9783952444887
Einfach leben: Vom Glück, nur noch zu besitzen, was in einen Bus passt

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    Buchvorschau

    Einfach leben - Martina Zürcher

    Trek

    SCHICKSAL

    DEUTSCHLAND, JANUAR 2017 

    Mit dem Fingernagel kratze ich ein Loch ins Eis, welches sich über Nacht von unserem Atem an der Innenseite der Fensterscheibe gebildet hat. Zwischen grau und rosa ist draußen der Wintermorgen am Erwachen. Drinnen bin ich noch eher auf der grauen Seite. Meine Nase ist saukalt und den Arm ziehe ich schnell wieder unter die Bettdecke zurück, die Mütze etwas tiefer in die Stirn.

    Muss ich in der Kälte wirklich aufstehen?

    Ich drehe mich zu Dylan um und hoffe darauf, ihn überzeugen zu können, einen Tee zu kochen und so unser kleines Zuhause etwas aufzuwärmen. Aber er schläft noch tief und fest. Oder zumindest sieht er zwischen Decke und Mütze so aus. Ich seufze, reibe meine Hände ein paarmal gegeneinander, bevor ich mich dazu durchringe, die kalte Metalltasse anzufassen, sie mit noch kälterem Wasser zu füllen und den Gaskocher anzuwerfen.

    Nach ein paar Minuten spüre ich, wie sich die Wärme langsam ausbreitet. Sie bekommt dem Eis weniger gut als mir. Es rutscht an den Fensterscheiben entlang nach unten und gibt die Sicht auf einen wunderschönen Wintermorgen frei. Die Sonne vertreibt die Nacht und taucht die Landschaft um uns herum in ein warmes Morgenlicht.

    Per Zufall hatten wir gestern die Loreley, im oberen Mittelrheintal, entdeckt. Wir waren eine Weile am Rhein entlanggefahren, und hinter jeder Kurve thronte hoch oben auf den Felsen eine weitere Burg. Wir hätten diese Region sehr wahrscheinlich nie bewusst bereist. Aber auf dem Weg nach Aachen waren wir auf der Suche nach einem Nachtlager spontan von der Autobahn gefahren und haben nicht schlecht gestaunt, als wir die kleine Schönheit in ihren Wintermantel eingehüllt entdeckten.

    Drei Stunden später, wir fahren auf der Autobahn mit 120, 130 km/h, im Radio ein Kommentar zur Inauguration Donald Trumps und was dies für die Zukunft bedeutet. Dann diskutieren wir darüber, dass wir unseren Bus nächste Woche zur Fahrzeugkontrolle bringen müssen und ob wir eigentlich bereits einen Termin in der Autogarage meines Onkels ausgemacht haben oder doch nicht. Ich will ihn gerade anrufen, da ruft Dylan plötzlich mit ungewohnter Panik in der Stimme: „Oh Shit!"

    Wie ich vom Smartphone aufblicke, sehe ich nur noch ein Auto in hohem Bogen direkt auf uns zufliegen. Dylan tritt auf die Bremse, wir hängen im Gurt und der Film meines Lebens flimmert, so wie man es immer wieder erzählt bekommt, in einer holprigen Zusammenfassung durch den Kopf. Ein unglaublich lautes Krachen folgt, ein schrecklich metallenes Knirschen, dann ist es für ein paar lange Sekunden still, totenstill. Ein Gefühl, als hätte die Welt aufgehört sich zu drehen, bevor das pure Chaos beginnt. Im Kopf und auf der Straße.

    Wir schauen einander an. Greifen mit den Händen nach uns, um sicher zu sein, dass wir wirklich beide am Leben sind. Dylans Gesicht ist voller Splitter, aber ich sehe kein Blut. Die Windschutzscheibe ist völlig zerborsten und so fest eingedrückt, dass sie nur noch knapp drei Zentimeter von seinem Kopf entfernt ist. Nichts in unserer Fahrerkabine ist mehr da, wo es eben noch war. Auch unsere Realität nicht. Die Airbags, die wir weder gesehen noch gehört haben, hängen schlaff und leblos herunter. Wie mein rechter Fuß, den ich immer noch auf dem linken Knie aufgestützt habe und dessen ungewohnte Stellung ich zwar sehe, aber in dem Moment nicht zu einer nützlichen Information zusammensetzen kann. Alles geschieht wie in Zeitlupe, gleichzeitig rasen im Kopf die Gedanken. Was ist passiert? Was muss ich tun? Wo kommt der Schmerz her? Warum kann ich kaum atmen?

    „Mein Fuß, mein Fuß ist ab", schreie ich schließlich Dylan zu, der aussteigt und auf die Beifahrerseite rennt. Dann erst merken wir, dass es nur der Schuh ist, den es durch die Kraft des Aufpralls halb von meinem Fuß gejagt hat. Die einzigen Gefühle im Körper sind der Schock und der Schmerz. Sie füllen uns aus und können nicht so genau lokalisiert werden. Bis ich versuche, auszusteigen. Mein Fuß ist zwar noch dran, aber mein Knie schmerzt höllisch. Ich humple auf Dylan gestützt zur Leitplanke. Wir umarmen uns, wir leben. Leben wir noch?

    Dann beginnt weiter vorne ein total zerquetschtes Fahrzeug zu qualmen. Dylan rennt hin und zieht, weil er glaubt, das Auto gehe gleich in Flammen auf, die Beifahrerin heraus. Ich atme schwer, sitze auf der Leitplanke und versuche, mein Bein zu belasten. Ich will Dylan helfen gehen, zucke aber zurück, als der Schmerz erneut durch mein Knie schießt. Weil dies nicht geht, versuche ich zu verstehen, was gerade passiert ist. Aber auch das geht nicht. Es kommen Menschen und helfen. „Wo ist ihr Beifahrer?, fragen sie, „Wie geht es Ihnen? Ich weiß es nicht.

    Die Autobahn ist ein einziges Trümmerfeld, hinter uns liegen Teile des braunen Autos, welches auf uns zugeflogen kam, tausend Metallteile, Scherben überall. Ein Lieferwagen steht wenige Zentimeter hinter uns, der Chauffeur rauft sich die Haare, zieht sein Telefon hervor und vergisst dann aber, was er tun wollte. Eine Jacke hängt da, wo einmal das rechte Frontlicht unseres Busses war. Die Motorhaube ist mehr aufgerollt als gerade. Foxy, unser Zuhause, ist deutlich geschundener als wir. Was ist passiert? Ich weiß es nicht.

    Dylan rennt traumatisiert über die Autobahn hin und her, rennt von einem Unfallauto zum anderen. Wird von den Lastwagenfahrern, die vor uns gefahren sind und ebenfalls unter Schock stehen, angeschrien. Der Verkehr hinter uns kam längst zum Stillstand, der Stau muss mittlerweile kilometerlang sein. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Irgendwann kreisen Helikopter um die Unfallstelle. Verzweiflung. Hilflosigkeit. In der Luft und am Boden. Der Polizist von der Mordkommission wird am nächsten Morgen zu uns sagen, dass er noch nie eine solch grausame Unfallstelle gesehen hat. „Und wir sehen doch einiges."

    „Ich konnte den Mann nicht herausziehen. Ich konnte nicht", wiederholt Dylan immer wieder, während sein Blick ins Leere geht. Ich versuche, ihn davon zu überzeugen, bei mir zu bleiben. Ich halte es nicht aus, alleine mit der Verzweiflung auf der Leitplanke zu sitzen, während ich hilflos zusehen muss, wie er herumirrt. In dem Moment da auf der Autobahn begreife ich noch nicht, welche Bilder sich in Dylans Kopf festgebrannt haben, und er wird mir erst ein paar Tage später davon erzählen können. Dylan hatte zuerst die Frau, die noch bei Bewusstsein war, aus dem Auto geholt. Danach hatte er versucht, den zerquetschten Körper des Fahrers hinter dem Steuerrad hervorzuziehen, ihn angefleht, nicht zu sterben, seine Augen nicht zu schließen. Zudem blickte er, anders als ich, dem Tod für mehrere Sekunden entgegen. Er sah das Auto viel länger auf uns zurasen, dachte: Jetzt ist es vorbei.

    Irgendwann kommen die Rettungssanitäter auch zu uns, die Polizei nimmt unsere Personalien auf und fragt, was wir gesehen haben. Das Gespräch wird unterbrochen, weil der Chef des Lieferwagenfahrers, der mit Ach und Krach hinter uns zu stehen kam, am anderen Ende der Telefonleitung so laut schreit, dass wir Umstehenden alles mitbekommen. Die Lieferung dürfe nicht zu spät kommen, sie hätten eine Deadline. Dieses Wort hat für uns Umstehende gerade seine Bedeutung gewechselt. Ein paar Meter links und rechts von uns kämpfen drei Menschen ums Überleben. Die Person am anderen Ende der Telefonleitung begreift das Ausmaß des Unfalls nicht, auch noch nicht, als der hilflose Fahrer das Telefon an den Polizisten weiterreicht. Es geht sogar im Angesicht des Todes darum, nicht zu spät zu kommen. So ist sie, unsere Welt. Effizienz, Ertrag und Erfolg haben Priorität. Immer. Für uns steht sie still, diese Welt am Vormittag des 20. Januars 2017.

    Dann werden wir von den Rettungssanitätern zur Abklärung mit einem Krankenwagen ins nächstgelegene Spital gefahren. Ich auf der Trage des Notdienstes, Dylan sitzt daneben, aber wo ist er wirklich? Wir kommen mit minimalen Verletzungen davon. Mit lächerlich kleinen Blessuren im Verhältnis zum Unfall. Dylan hat eine klitzekleine Wunde von den Scheibensplittern an der Lippe, ich so etwas wie eine Muskelzerrung vom heftigen Aufprall des Airbags. Wie viel Glück wir hatten, können wir selbst noch nicht fassen. Bereits in dem Moment bin ich aber froh, den Schmerz im Knie zu spüren, weil es bedeutet, dass ich das Bein, das Leben, noch spüre. Später, als uns der Veranstalter des Vortrages im Spital abholt, hören wir im Autoradio, dass der Unfall auf der A4 mindestens ein Todesopfer gefordert hat. Dylan laufen die Tränen übers Gesicht. Er war dabei gewesen bei den letzten, beschwerlichen Atemzügen eines Lebens, das wenige Minuten zuvor mit dem eines Lebensmüden kollidiert war und das mitnichten vorgehabt hatte zu sterben. Ein Leben, das uns fremd war und doch in dem Moment so nahe.

    Was passiert war, konnten wir mit den Informationen aus dem Radio und dem, was wir gesehen hatten, langsam wie ein Puzzle zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Ein Selbstmörder war als Falschfahrer auf der A4 unterwegs gewesen. Er steuerte auf den Lastwagen, den wir gerade überholten, zu. Dieser wich reflexartig aus. Der nun seitliche Aufprall in Kombination mit dem überhöhten Tempo ließen den Kombi des Selbstmörders in Sekundenbruchteilen auf das uns in der dritten Spur überholende Fahrzeug knallen. Von dort flog das Auto wie ein Geschoss in hohem Bogen auf uns. Der dritte Aufschlag brachte das Fahrzeug des Selbstmörders zum Bersten. Es flog mitsamt der zerstörerischen Energie nach dem Aufprall auf unserer Motorhaube, in hundert Teilen links und rechts von uns weiter. Wir erinnern uns daran, den nackten Motorblock hinter uns auf der Autobahn liegen gesehen zu haben. Der Frontteil des Wagens, mitsamt dem bewusstlosen Fahrer, war auf der Betonmauer, welche die beiden Fahrtrichtungen der Autobahn trennt, gelandet. Bis heute ist es uns ein Rätsel, wie eine Seele, die mit dem Leben bereits abgeschlossen hatte, den Willen aufbrachte, all diese Aufschläge zu überleben. Und wie sämtliche Autofahrer hinter uns zur rechten Zeit bremsen konnten, ohne eine zusätzliche Karambolage zu verursachen.

    Sieben Stunden später steht Dylan vor knapp 200 Menschen und hält seinen Vortrag, der von der Reise seines Lebens, über Abenteuer und vor allem von Träumen erzählt, oder besser gesagt davon, wie es sich anfühlt, seinen Träumen ein Leben zu geben. Der Veranstalter hatte den Vortrag, nach allem, was passiert war, absagen wollen. Dylan aber hatte darauf bestanden, die Veranstaltung trotzdem durchzuführen. Ihm ist es heute wichtiger denn je, Menschen dazu zu inspirieren, ihre Träume zu leben, bevor es zu spät ist.

    Die Jeans hat Blutflecken – wir hatten geistesgegenwärtig nur die wichtigsten Dokumente und die Laptops mitgenommen, als wir Foxy, unseren Bus, an der Unfallstelle zurücklassen mussten. Die Autobahn ist auch am Abend weiterhin gesperrt und wir haben keine Ahnung, wo unser Bus und all unsere Habseligkeiten in dem Moment sind. Es ist uns auch ziemlich egal. Am Nachmittag hatten wir weder die Zeit noch die Kraft gehabt, andere Hosen zu kaufen. Das Publikum, welches vom „Horrorunfall" auf der A4 kurz vor Aachen aus den Nachrichten gehört oder zum Teil selbst im Stau gestanden hatte, ist sichtlich betroffen. Als Dylan zum Schluss des Vortrages davon erzählt, wie wichtig es ist, an seine Träume, an sich selbst und an seine Fähigkeiten zu glauben und im Leben zu tun, was einen glücklich macht, werden uns zwei Dinge so richtig bewusst: Wir könnten tot sein. Aber wir wären von der Welt gegangen mit dem Wissen, dass wir unser Leben so leben, wie wir es lieben.

    Eine Erkenntnis, die wir nicht erwartet hatten jemals zu haben, aber eine, die uns zeigt, dass wir für uns den richtigen Weg eingeschlagen haben. Daher ist es, den Umständen zum Trotz, doch auch eine irgendwie schöne Erkenntnis. Eine, die Kraft gibt, aus dem Schicksalsschlag zu wachsen. Über den eigenen Tod nachzudenken ist unbequem. Wir mögen nicht daran denken, dass es irgendwann vorbei sein wird und vergessen so leider häufig, auch daran zu denken, was alles möglich wäre, wenn wir das Leben richtig intensiv leben würden. Was alles möglich wäre, wenn wir keine Angst vor dem Scheitern hätten, wenn wir uns nicht selbst mit unseren Ängsten und Zweifeln im Weg stehen würden. Für uns beide kamen Schlüsselerlebnisse, die uns zum Leben im Bus, zum einfachen, aber intensiven Alltag brachten, bereits früher. Die Erfahrung mit dem Unfall bestätigte aber unsere Entscheidung, das Leben im Hier und Jetzt so zu leben, wie es für uns zu hundert Prozent stimmt.

    Wechselhaft wie das Wetter im Norden, so ist das Leben.

    Weshalb wir im Bus leben? Wegen genau solcher Momente.

    Dylan hatte im Frühling 2010 seine in sechs Jahren Fleißarbeit aufgebaute Autowerkstatt verkauft, weil er keinen Sinn mehr darin sah, weiterzumachen. Jemand hatte ihm kurz zuvor einen Kredit angeboten, um sein Geschäft massiv zu vergrößern. Schulden machen, um irgendwann einmal mehr zu verdienen und bis dahin unter enormem Druck zu stehen? Bei ihm hatte das Angebot das Gegenteil ausgelöst. Er, der in Sri Lanka in Armut und Hunger aufgewachsen war, wusste bereits, dass es nicht das dicke Portemonnaie war, mit welchem er sich Glück kaufen konnte. Es fehlte ihm die Lebensfreude, die Energie, die Lust am Leben.

    Auf der Suche nach mehr Zufriedenheit hatte er in den darauffolgenden Jahren gelernt, dass es unglaublich bereichernd und lehrreich sein kann, mit wenig Besitz und dafür vielen wundervollen Begegnungen durch die Welt zu tingeln. Er kam dreieinhalb Jahre später, wie die meisten Reisenden nach so langer Zeit, als ein anderer Mensch zurück in die Schweiz. Konsum bedeutetet für Dylan, der früher gerne schicke Sportautos erworben und die Wochenenden meist mit Shopping verbracht hatte, nichts mehr. Weil er gespürt hatte, dass glücklich zu sein eine Herzensangelegenheit ist. Und dass, wenn wir Dinge mit Leidenschaft tun, Glück und wahre innere Zufriedenheit wie von selbst zu uns zurückkommen.

    Für mich war der erste Wendepunkt zur Veränderung der Tod meiner Sandkastenfreundin Naomi. Wir waren gemeinsam aufgewachsen, hatten die Freundschaft als Jugendliche und später als Erwachsene immer erhalten. In unserer Jugend schrieben wir uns Briefe, dann gab es zum Glück irgendwann das Internet und wir waren täglich in Kontakt. Waren immer füreinander da. Ihre Krebsdiagnose riss uns Anfang dreißig aus der Unbekümmertheit des Lebens. Es blieben acht Monate, bevor ihre Familie und ich an ihrem Bett standen, während Naomi aufhörte zu atmen, heruntergekämpft von der Krankheit, aber in Frieden darüber, endlich nicht mehr kämpfen zu müssen. Mir wurde durch diesen schmerzlichen und zu frühen Abschied sehr deutlich bewusst, dass der Tod kommt, wann er will.

    Wir können noch so viel von allem haben, wenn es die Zeit oder die Gesundheit ist, die uns fehlt, dann wird jeder Tag zum Kampf. Den Tod so nahe zu erleben, zu sehen, wie das Leben aus einem Menschen entweicht und bloß eine leere Hülle zurücklässt, stellt das eigene Leben auf den Kopf. Es gibt ein Vorher und ein Nachher. Ein Leben ohne und eines mit der Erfahrung. Die in dem Moment sehr schmerzlich ist, die aber Jahre später wiederum zulässt, dass Gefühle eine andere Intensität bekommen. Mit der Größe des Schmerzes, den wir erleben, wächst proportional auch das Empfinden für die Freude, die Begeisterung, die wir spüren. Irgendwie paradox, aber für mich fühlt es sich genau so an.

    So stellte ich mir während der Verarbeitung des Verlustes, zu Beginn wohl eher unbewusst und leise in mir drin, Fragen, über die ich zuvor nicht nachgedacht hatte. Was hilft es uns, viel Geld zu sparen für später, wenn wir plötzlich mit 31 Jahren todkrank sind? Was bringt es, Schulden zu machen, um noch mehr zu besitzen, wenn wir dann doch immer nur arbeiten, um das Geld wieder zurückzuzahlen,anstatt das, was wir besitzen, zu genießen? Was bringt es uns, ein Leben lang wie verrückt zu arbeiten und dann, kaum in Rente, jetzt, wo wir endlich Zeit für uns hätten, an einem Herzinfarkt zu sterben?

    Und ja, da knallte uns im Januar 2017 eine weitere Frage auf die Motorhaube unseres Busses, mitten im Alltag, mitten auf der Autobahn im ‘sicheren’ Europa: Was hilft es, Dinge, die uns viel bedeuten, auf später zu verschieben, wenn wir eines schönen Tages auf der Autobahn von einem Menschen mit Todeswunsch über den Haufen gefahren werden und keine Zeit mehr haben, diese Dinge zu tun?

    Seit Januar 2017 ist jeder Tag für uns ein Geschenk. Jeder Tag ist für uns der beste unseres Lebens. Nicht, weil jeden Tag die Sonne scheint, sondern weil wir sie auch dann aufgehen sehen wollen, wenn sie sich hinter Wolken versteckt. Dabei sind Demut und Dankbarkeit unsere Begleiter. Unser Kopf hat gelernt, dass es immer etwas gibt, wofür wir dankbar sein können. Worüber wir glücklich sein können.Wir mögen klingen wie unverbesserliche Optimisten. Stimmt. Weil wir genau das sind. Weil unsere Welt und unser Leben schlicht zu spannend und zu schön ist, um keine Optimisten zu sein. Natürlich haben auch wir schlechte Tage. Gerade unmittelbar nach dem Unfall war das Aufwachen jeden Morgen wie ein Schlag ins Gesicht, der uns zurück in die gerade schwer auszuhaltende Realität brachte. Schon wieder sich durch den Tag kämpfen. Schon wieder all die Bilder im Kopf. Und damit die Frage nach dem Wieso und Warum. Wieso ist es gerade uns passiert? Und warum mussten andere sterben an jenem Tag, an jenem Ort und wir kamen mit so viel Glück davon? Dann die Vorwürfe, die sich immer wieder abspulten. „Ich hätte den Mann retten sollen, ich hätte mehr tun sollen! Dylan erhielt seine Antwort von der Mordkommission: „Sie taten, was Sie tun konnten. Nicht einmal der Notarzt, der eine entsprechende Ausbildung und die nötige Infrastruktur hat, konnte dem Mann helfen. Es ist nicht Ihre Schuld. Es ist eine Antwort, die rational stimmt, emotional aber eine ganze Weile nicht bei Dylan ankam.Nach der Gerichtsverhandlung waren die Erinnerungen noch einmal voll da. Mittlerweile sind ihre Konturen blasser. Aber noch immer erzeugt jede Unfallstelle, jede aufheulende Ambulanzsirene und jede Falschfahrer-Verkehrsmeldung im Radio bei uns eine Gänsehaut. Der Körper trägt die Erinnerung in sich. Auch an die Rückfahrt, daran, wie es sich anfühlte, das erste Mal wieder in ein Auto zu steigen und auf einer Autobahn zu fahren, erinnern wir uns immer noch. Die Rückfahrt in die Schweiz war reine Überwindung, ein Kampf um Normalität. Es war purer Stress, zwei Tage nach dem Unfall wieder in ein Auto zu steigen und zu wissen, es liegen rund zehn Stunden Fahrt vor uns. Zuvor mussten wir den schrottreifen Foxy, seit fast einem Jahr unser Zuhause, das Wertvollste, das wir besaßen, ausräumen. Mussten ihn unfreiwillig auf einem Schrottplatz zurücklassen, wo Wracks lieblos nebeneinander gelagert werden. Eine umgekehrte Metamorphose. Aus Foxy, dem Zuhause, wird ein Haufen Schrott, der nur noch gut genug ist, um ausgeschlachtet zu werden. Auseinandergenommen und unterteilt in ‘noch brauchbar’ und ‘futsch’. Unsere Gefühle fuhren nach all dem Erlebten sowieso noch Achterbahn und es rührte uns zu Tränen, ihn dort in der Kälte – und damit meinen wir nicht nur das Klima – zurückzulassen. Dass wir der Unfreundlichkeit der für uns in diesem Moment gefühllosen Schrotthändler ausgeliefert waren, die nicht verstanden, warum wir Zeit benötigen, um von unserem Zuhause Abschied zu nehmen, machte die Situation auch nicht einfacher. Für sie sind von Unfällen zerborstene Autos die Normalität und so stänkerten sie schnell einmal herum: „Beeilen Sie sich, Sie können hier nicht so lange bleiben. Die Fahrzeuge sind von der Polizei noch nicht freigegeben. Sie erledigten bloß ihre Arbeit und konnten unmöglich nachvollziehen, dass diese Metallkiste unser Zuhause war. Was wir ihnen auch nicht verübelten, aber ein bisschen mehr Menschlichkeit wäre für uns angenehm gewesen. Denn bei uns startete beim Anblick von Foxy und dem danebenstehenden zertrümmerten zweiten Unfallauto das Kopfkino, der in der Hirnrinde eingebrannte Horrorfilm zum tausendsten Mal von vorne, während wir für sie bloß ein Auftrag mehr waren. Wir waren immer noch dabei, die Situation irgendwie einzuordnen, zu verstehen. Ihnen ging es ums Geschäft. Bei mir drehten sich andere Fragen im Kopf: „Warum habe ich bloß den Tag des Vortrages verwechselt und erst am späten Nachmittag des Vortages bemerkt, dass wir zu früh unterwegs waren? Dieser Fehler hatte uns nämlich dazu veranlasst, in der Nähe der Unfallstelle zu übernachten und war schlussendlich dafür verantwortlich, dass wir uns am nächsten Tag zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort wiederfanden. „Das hätte nicht passieren dürfen. Ich bin schuld an der Situation, in der wir jetzt stecken. Ohne Fahrzeug, ohne Haus, dafür mit Tausenden Bildern im Kopf, die wir nicht wollen." Ich erhielt die Antwort irgendwann beim Grübeln: Wären nicht wir in den Moment mit unserem Bus da gefahren, welches andere Fahrzeuge hätte es dann getroffen? Vielleicht keines, vielleicht auch ein kleines Auto mit einer ganzen Familie drin, welches vom Aufprall total zertrümmert worden wäre. Mehr Tote, mehr Leid. Wer weiß. Es war gut so, wie es passiert ist. Unser stabil gebauter Bus konnte abfangen, was vielleicht kleinere Fahrzeuge nicht ausgehalten und was zu noch fataleren Folgen geführt hätte.

    Einen Tag nach dem Unfall saßen wir als Zeugen vor der Mordkommission, ein paar Monate später vor Richtern und Anwälten. Der Falschfahrer hatte den Unfall überlebt und musste sich ironischerweise als zweifacher Mörder – auch die schwerverletzte Frau erlag nach mehreren Wochen im Spital tragischerweise ihren Verletzungen – und wegen versuchten mehrfachen Mordes (unter anderem an uns) vor Gericht verantworten. Es war ein wirrer Tag, als wir Monate später nochmals zurück nach Aachen mussten und am Gericht zwischen den Angehörigen der Verstorbenen auf der einen und dem Täter auf der anderen Seite saßen. Er brachte selbst kein Wort über die Lippen, ließ aber durch seinen Anwalt ausrichten, wie leid ihm alles täte. Dass das, was auch immer damals in ihn gefahren sei, nicht rechtfertige, was er getan habe. Wir glaubten die Worte. Der Mann konnte kaum aufrecht sitzen und sah extrem schuldbewusst, mitgenommen und gebrochen aus. Und grau. Haare und Haut waren so grau, dass er viel älter aussah, als er tatsächlich ist. Was musste in ihm vorgehen, dazusitzen und den Schmerz der trauernden Familien zu sehen, zu spüren? Und was in den Menschen, die auf der anderen Seite saßen? Die Menschen, die ihre Eltern verloren hatten und sich anhören mussten, dass sich der Verursacher des Leides nicht mehr an den verhängnisvollen Tag erinnerte. Jener Tag, den sie wiederum nie vergessen werden, der ihnen zwei geliebte Menschen entrissen und so tiefe Narben hinterlassen hat, die lange nicht heilen werden. Wir wissen es nicht, können diesen unsäglichen Schmerz vielleicht nicht einmal erahnen.

    Wir können nur von uns sprechen. Wir waren (und sind es heute immer noch) schockiert und aufgerüttelt von dem tragischen Ereignis. Zutiefst betroffen, dass Menschen sterben mussten an jenem Tag, an jenem Ort. Aber sind wir wütend auf den Mann, der das ganze Chaos verursacht hat? Nein, denn auch er hat an jenem Tag auf der Autobahn auf irgendeine Weise sein Leben verloren. Dylan war am Gericht zuerst zu überwältigt von den Erinnerungen und Emotionen, die den sonst kargen Gerichtssaal bis unter die Decke füllten und brachte auf die Fragen des Richters kein Wort heraus. Als die Sprache dann zu ihm zurückfand, hatte er zum Schluss die Stärke, nicht nur die Trauer über die Verluste auszusprechen, sondern auch dem Täter zu sagen, dass er ihm verzeihe und ihm wünsche, dass er irgendwann und irgendwie wieder ins Leben zurückfindet.

    Nach der Gerichtsverhandlung waren die Erinnerungen noch einmal voll da. Mittlerweile sind ihre Konturen blasser. Aber noch immer erzeugt jede Unfallstelle, jede aufheulende Ambulanzsirene und jede Falschfahrer-Verkehrsmeldung im Radio bei uns eine Gänsehaut. Der Körper trägt die Erinnerung in sich. Auch an die Rückfahrt, daran, wie es sich anfühlte, das erste Mal wieder in ein Auto zu steigen und auf einer Autobahn zu fahren, erinnern wir uns immer noch. Die Rückfahrt in die Schweiz war reine Überwindung, ein Kampf um Normalität. Es war purer Stress, zwei Tage nach dem Unfall wieder in ein Auto zu steigen und zu wissen, es liegen rund zehn Stunden Fahrt vor uns.

    Zuvor mussten wir den schrottreifen Foxy, seit fast einem Jahr unser Zuhause, das Wertvollste, das wir besaßen, ausräumen. Mussten ihn unfreiwillig auf einem Schrottplatz zurücklassen, wo Wracks lieblos nebeneinander gelagert werden. Eine umgekehrte Metamorphose. Aus Foxy, dem Zuhause, wird ein Haufen Schrott, der nur noch gut genug ist, um ausgeschlachtet zu werden. Auseinandergenommen und unterteilt in ‘noch brauchbar’ und ‘futsch’. Unsere Gefühle fuhren nach all dem Erlebten sowieso noch Achterbahn und es rührte uns zu Tränen, ihn dort in der Kälte – und damit meinen wir nicht nur das Klima – zurückzulassen. Dass wir der Unfreundlichkeit der für uns in diesem Moment gefühllosen Schrotthändler ausgeliefert waren, die nicht verstanden, warum wir Zeit benötigen, um von unserem Zuhause Abschied zu nehmen, machte die Situation auch nicht einfacher. Für sie sind von Unfällen zerborstene Autos die Normalität und so stänkerten sie schnell einmal herum: „Beeilen Sie sich, Sie können hier nicht so lange bleiben. Die Fahrzeuge sind von der Polizei noch nicht freigegeben." Sie erledigten bloß ihre Arbeit und konnten unmöglich nachvollziehen, dass diese Metallkiste unser Zuhause war. Was wir ihnen auch nicht verübelten, aber ein bisschen mehr Menschlichkeit wäre für uns angenehm gewesen. Denn bei uns startete beim Anblick von Foxy und dem danebenstehenden zertrümmerten zweiten Unfallauto das Kopfkino, der in der Hirnrinde eingebrannte Horrorfilm zum tausendsten Mal von vorne, während wir für sie bloß ein Auftrag mehr waren. Wir waren immer noch dabei, die Situation irgendwie einzuordnen, zu verstehen. Ihnen ging es ums Geschäft.

    Kaum waren wir mit dem Mietwagen, den die Versicherung für uns organisiert hatte, die Auffahrt zur selben Autobahnstrecke, die uns zum Verhängnis geworden war, wieder hochgefahren, wurde das fröhliche Lied im Radio unterbrochen. „Achtung, Falschfahrer auf der A4!" Wenn ich nicht gewusst hatte, wie sich ‘mir friert das Blut in

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