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Der Mann, der den Zügen nachsah
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Der Mann, der den Zügen nachsah
eBook259 Seiten3 Stunden

Der Mann, der den Zügen nachsah

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Über dieses E-Book

In der holländischen Stadt Groningen ist Kees Popinga, verheiratet und Vater zweier Kinder, als Prokurist einer angesehenen Reederei eine Respektsperson. Dann geht die Firma durch undurchsichtige Geschäfte des Inhabers bankrott, der sich noch dazu mit der Firmenkasse aus dem Staub macht. Und damit wird Kees Popinga aus seiner wohlgeordneten kleinbürgerlichen Existenz gerissen. Der Mann, der bislang den Zügen immer nur nachgesehen hat, macht sich nun selbst auf die Reise. Wer träumt nicht davon, alles hinter sich zu lassen? Der biedere Popinga fährt nach Amsterdam und weiter nach Paris, um endlich zu leben, wirklich zu leben. Koste es, was es wolle – selbst wenn andere dafür sterben müssen.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum6. Mai 2019
ISBN9783311700500
Der Mann, der den Zügen nachsah
Autor

Georges Simenon

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

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    Buchvorschau

    Der Mann, der den Zügen nachsah - Georges Simenon

    Kampa

    1

    Als Julius de Coster junior sich in der Kneipe Zum Kleinen Sankt Georg betrinkt und das Unvorstellbare auf einmal die schützenden Dämme des Alltags durchbricht

    Was Kees Popinga persönlich angeht, so muss man zugeben, dass ihm um acht Uhr abends noch Zeit geblieben wäre, denn auch sein Schicksal war nicht ausgemacht. Aber Zeit wofür? Und hätte er denn etwas anderes tun können als das, was er tat, überzeugt davon, dass es nichts Bedeutsameres war als an den Abertausenden Tagen zuvor?

    Er hätte mit den Schultern gezuckt, hätte ihm jemand gesagt, dass sich sein Leben schlagartig ändern sollte und dass diese Fotografie auf der Anrichte, die ihn stehend, eine Hand lässig auf eine Stuhllehne gestützt, im Kreis seiner Familie zeigte, in allen europäischen Zeitungen zu sehen sein würde.

    Und selbst wenn er insgeheim nach einem Hinweis auf eine turbulente Zukunft gesucht hätte, er wäre zweifelsohne niemals auf diese flüchtige, verschämte Erregung gestoßen, die ihn beim Vorbeifahren eines Zuges erfasste, vor allem, wenn es ein Nachtzug war, dessen heruntergelassene Rollos die Geheimnisse der Reisenden verbargen.

    Und hätte jemand gewagt, ihm ins Gesicht zu sagen, dass sein Chef, Julius de Coster junior, in der Kneipe Zum Kleinen Sankt Georg saß und sich dort vorsätzlich betrank, es hätte nichts genutzt, da Kees Popinga sich nichts vormachen ließ und seine feste Meinung von den Leuten und Dingen hatte.

    Aber ungeachtet aller Wahrscheinlichkeit saß Julius de Coster junior tatsächlich im Kleinen Sankt Georg.

    Und in Amsterdam nahm eine gewisse Pamela in ihrer Suite im Carlton ein Bad, bevor sie sich ins Tuchinski aufmachte, das zu der Zeit beliebteste Nachtlokal der Stadt.

    Doch was hatte Popinga damit zu tun? Oder damit, dass in einer kleinen Pariser Bar in der Rue Blanche, im Mélie, eine gewisse Jeanne Rozier saß, rothaarig, gemeinsam mit einem Mann namens Louis, den sie, während sie sich etwas Senf nahm, fragte:

    »Arbeitest du heute Abend?«

    Oder damit, dass in Juvisy, unweit des Rangierbahnhofs an der Straße nach Fontainebleau, ein Automechaniker und seine Schwester …

    Eigentlich hatte sich das alles noch nicht ereignet! Es lag in der Zukunft, in der unmittelbaren Zukunft von Kees Popinga, der sich an jenem Mittwoch, dem 28. Dezember, um acht Uhr abends um nichts in der Welt etwas ahnend eine Zigarre ansteckte.

    Nie hätte er zugegeben, dass er nach dem Abendessen meist schläfrig wurde, denn das hätte man als Kritik am Familienleben verstehen können. Am Essen lag es nicht, denn wie in den meisten holländischen Familien nahm man abends nur etwas Leichtes zu sich: Tee, Butter und Brot, dünne Scheiben Käse und Wurst, hin und wieder ein Dessert.

    Schuld war vielmehr der Ofen, ein eindrucksvoller Ofen, der sich mit seinen grünen Kacheln und den schweren Nickelbeschlägen unter seinesgleichen besonders hervortat, ein Ofen, der nicht einfach ein Ofen war, sondern durch seine Wärme, seinen Atem, könnte man sagen, den Rhythmus des Lebens im Haus bestimmte.

    Die Zigarrenkisten lagen auf dem Marmorsims des Kamins, und Popinga suchte sich mit Bedacht eine Zigarre aus, schnupperte daran, ließ den Tabak knistern, denn das ist unabdingbar, wenn man eine Zigarre genießen will, außerdem hat man das schon immer so gemacht.

    Ebenso gehörte dazu, dass Frida, Popingas fünfzehnjährige brünette Tochter, auf dem gerade abgeräumten Tisch unter der Lampe ihre Hefte ausbreitete und sie mit ihren großen dunklen Augen betrachtete, deren Blick ausdruckslos war oder den man nicht verstand.

    Die Dinge gingen ihren gewohnten Gang. Carl, der dreizehnjährige Junge, hielt erst seiner Mutter, dann seinem Vater die Stirn hin, gab seiner Schwester einen Kuss und ging zu Bett.

    Der Ofen bullerte weiter, und Kees fragte wie üblich:

    »Was tun Sie, Mami?«

    Er nannte sie der Kinder wegen Mami.

    »Ich muss mein Album auf den neuesten Stand bringen.«

    Sie war vierzig und strahlte die gleiche Sanftmut, die gleiche Würde aus wie alles im Haus, Menschen und Gegenstände. Man könnte sogar hinzufügen, so als spräche man über den Ofen, sie sei allerbeste holländische Ehefrauenqualität, übrigens eine Marotte von Kees, immer von »allerbester Qualität« zu sprechen.

    Nur die Schokolade war zweite Wahl, apropos Qualität, dennoch blieb man bei derselben Marke, da es in jeder Packung ein farbiges Bildchen gab und diese Bildchen Eingang in ein besonderes Album fanden, das in einigen Jahren sämtliche Blumen dieser Erde versammeln sollte.

    Frau Popinga setzte sich also vor das berühmte Album und sortierte ihre Bildchen, während Kees an den Knöpfen des Radios drehte, bis nur noch eine Sopranstimme zu hören war und manchmal das Klappern von Geschirr aus der Küche, wo das Dienstmädchen den Abwasch erledigte.

    Die Luft war so schwer, dass der Zigarrenrauch nicht einmal bis zur Decke aufstieg, sondern sich um Popingas Kopf herum staute und er ihn von Zeit zu Zeit wie Spinnweben auseinanderschob.

    Waren sie nicht schon seit fünfzehn Jahren in den immer gleichen Ritualen geradezu erstarrt?

    Doch als kurz vor halb neun der Sopran verstummte und eine monotone Stimme die Börsenkurse mitteilte, setzte sich Kees plötzlich auf, sah auf seine Zigarre und sagte zögernd:

    »Ich frage mich, ob an Bord der Ozean III alles in Ordnung ist!«

    Stille. Der Ofen bullerte, Frau Popinga konnte gerade noch zwei Bildchen in das Album kleben, Frida eine Seite in ihrem Heft umblättern.

    »Vielleicht sehe ich besser mal nach.«

    Damit waren die Würfel gefallen.

    Ihm blieb noch Zeit, zwei oder drei Zigarrenmillimeter zu rauchen, sich zu strecken und zu hören, wie man im Sendesaal von Hilversum die Instrumente stimmte, dann wurde Kees vom Räderwerk erfasst.

    Von jetzt an wog jede Sekunde schwerer als alle Sekunden seines bisherigen Lebens, jede einzelne seiner Gesten wurde so bedeutsam wie die von Staatsmännern, deren kleinste Handlungen in der Zeitung landen.

    Das Dienstmädchen brachte ihm seinen dicken grauen Mantel, seine gefütterten Handschuhe und seinen Hut. Sie streifte ihm die Gummischuhe über, wobei er gehorsam erst den einen, dann den anderen Fuß hob.

    Er küsste seine Frau, seine Tochter, stellte erneut fest, dass er nicht wusste, was Letztere dachte – vielleicht dachte sie überhaupt nichts –, und überlegte im Flur, ob er sein Fahrrad nehmen sollte, ein komplett vernickeltes Rad mit Gangschaltung, eines der schönsten, die man sich vorstellen konnte.

    Er beschloss, zu Fuß zu gehen, verließ das Haus und drehte sich voller Befriedigung noch einmal danach um. Es handelte sich eher um eine Villa, die Pläne hatte er selbst erstellt, den Bau überwacht, und wenn sie auch nicht die größte im Viertel war, so behauptete er doch, dass sie die am besten durchdachte, die mit der harmonischsten Ausstrahlung war.

    War nicht sogar das Viertel selbst, ein Neubaugebiet unweit der Straße nach Delfzijl, das angenehmste, das gesündeste in ganz Groningen?

    Bisher hatte das Leben für Kees Popinga nur aus derartigen Befriedigungen bestanden, ganz realen Befriedigungen, schließlich konnte niemand behaupten, dass ein erstklassiger Gegenstand nicht erstklassig, ein hochwertig gebautes Haus nicht hochwertig gebaut und Oostings Metzgerei nicht die beste in ganz Groningen war.

    Es war kalt, auf eine trockene und erfrischende Weise. Seine Gummisohlen knirschten auf dem harten Schnee. Die Hände in den Taschen, die Zigarre im Mund, ging Kees Popinga Richtung Hafen und fragte sich tatsächlich, ob an Bord der Ozean III alles in Ordnung war.

    Es war kein Vorwand gewesen. Natürlich hatte er nichts dagegen, durch die kühle Nacht zu gehen, statt zu Hause in der schalen Wärme vor sich hin zu dösen. Aber niemals hätte er sich dem Gedanken hingegeben, dass es irgendwo auf der Welt schöner sein könnte als bei ihm zu Hause. Genau aus diesem Grund errötete er, wenn er einen Zug vorüberfahren hörte und dabei eine seltsame Beklommenheit spürte, die vielleicht eine Art Fernweh verriet.

    Die Ozean III war ganz und gar gegenwärtig und Popingas nächtlicher Besuch eine berufliche Pflicht. Er war leitender Angestellter mit Prokura bei Julius de Coster en Zoon. Die Firma Julius de Coster en Zoon war nicht nur in Groningen, sondern im gesamten niederländischen Friesland der führende Schiffsausstatter, vom Tauwerk bis zu Öl und Kohle gab es alles, Alkohol und Lebensmittel nicht zu vergessen.

    Am späten Nachmittag nun hatte die Ozean III, die um Mitternacht auslaufen musste, um bei Flut den Kanal zu passieren, einen großen Auftrag erteilt.

    Kees sah den Klipper, einen Dreimaster, schon von Weitem. Der Quai des Wilhelminakanals war verwaist, nur Taue blockierten den Weg, über die er jedoch geschickt hinwegstieg. Geübt erklomm er die Lotsenleiter und ging, ohne zu zögern, auf die Kapitänskajüte zu.

    Streng genommen war dies die letzte Frist, die ihm das Schicksal ließ. Er hätte noch umkehren können, doch ahnungslos, wie er war, stieß er die Tür auf und stand einem Hünen gegenüber, der ihn mit hochrotem Gesicht empfing und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Schimpfwörtern und Flüchen überschüttete.

    Für jeden, der die Firma Julius de Coster en Zoon kannte, war das am wenigsten erwartbare Ereignis eingetreten: Der Tanker, der um sieben Uhr das Heizöl hätte liefern sollen – und den Kees Popinga persönlich geordert hatte –, war nicht gekommen! Nicht nur, dass er nicht an der Ozean III festgemacht hatte, es war auch niemand an Bord, und die übrige Ware war ebenfalls nicht geliefert worden.

    Fünf Minuten später stieg ein stammelnder Popinga wieder auf den Quai hinunter und beteuerte, dass es sich nur um ein Missverständnis handeln könne und er alles regeln werde.

    Seine Zigarre war ausgegangen. Er bedauerte, nicht doch das Fahrrad genommen zu haben, und rannte, ja, er rannte wie ein kleiner Junge durch die Straßen, so verrückt machte ihn die Vorstellung, dass dieses Schiff, weil es kein Heizöl hatte, die Flut verpassen und nicht nach Riga fahren könnte. Zwar fuhr Popinga nicht selbst zur See, aber er hatte das Kapitänspatent für Langfahrten erworben und schämte sich nun für seine Firma, für sich selbst und für das gesamte Schifffahrtswesen, dass so etwas hatte passieren können.

    Würde er Herrn Julius de Coster, was manchmal geschah, nicht vielleicht zufällig in seinem Büro antreffen? Nein, da war er nicht, und obwohl schon ganz außer Atem, eilte Popinga weiter zum Haus seines Chefs, einem ruhigen, ehrwürdigen Haus, das aber, wie alle Häuser im Zentrum, älter und weniger komfortabel war als sein eigenes. Erst als er an der Türschwelle stand und klingelte, warf er seinen Zigarrenstummel weg und legte sich einen Satz zurecht …

    Von Weitem hörte er Schritte; der Türspion wurde zur Hälfte geöffnet; ein Dienstmädchen musterte ihn gelangweilt. Nein! Herr Julius de Coster sei nicht zu Hause. Also traute sich Kees und verlangte danach, Frau de Coster zu sprechen, eine echte Dame, Tochter eines Provinzgouverneurs, die niemand in einer geschäftlichen Angelegenheit zu behelligen gewagt hätte.

    Schließlich öffnete sich die Tür. Popinga wartete lange neben einer Topfpalme am Fuß der drei Marmorstufen, dann wurde er hinaufgewinkt und in ein orangerot beleuchtetes Zimmer geführt, wo er sich gegenüber einer Frau in einem seidenen Morgenmantel wiederfand, die eine in einer Spitze aus Jade steckende Zigarette rauchte.

    »Was wünschen Sie? Mein Mann ist zeitig ins Büro gegangen, um etwas Dringendes zu erledigen. Warum haben Sie sich nicht dorthin gewandt?«

    Nie würde er diesen Morgenmantel vergessen, das im Nacken zusammengebundene braune Haar, die außerordentliche Gleichgültigkeit dieser Frau, vor der er stammelnd den Rückzug antrat.

    Eine halbe Stunde später bestand keine Hoffnung mehr, dass die Ozean III noch auslaufen würde. Kees ging noch einmal ins Büro, weil er dachte, dass er seinem Chef vielleicht über den Weg laufen würde. Dann ging er durch eine belebtere Straße zurück, in der die Läden wegen der bevorstehenden Weihnachtszeit noch geöffnet hatten. Jemand streckte ihm die Hand entgegen.

    »Popinga!«

    »Claes!«

    Doktor Claes war Kinderarzt und im selben Schachclub wie er.

    »Kommen Sie nicht zum Turnier heute Abend? Sieht ganz so aus, als würde der Pole geschlagen …«

    Nein. Er würde nicht hingehen. Sein Tag war Dienstag, und heute war Mittwoch. Vom Herumlaufen in der Kälte war sein Gesicht gerötet, und sein Atem war ganz heiß.

    »Übrigens«, fuhr Claes fort, »Arthur Merkemans war vorhin bei mir …«

    »Er täte besser daran, sich zurückzuhalten.«

    »Das habe ich ihm auch gesagt …«

    Doktor Claes machte sich auf in den Club, während auf Popinga nun ein weiterer Verdruss lastete.

    Warum war es nötig gewesen, ihn auf seinen Schwager anzusprechen? Hat nicht fast jede Familie ihr schwarzes Schaf?

    Merkemans hatte übrigens nichts Schlimmes getan. Am ehesten konnte man ihm noch vorwerfen, acht Kinder gezeugt zu haben, aber zu jener Zeit hatte er noch eine recht gute Stellung in einem Auktionshaus, die er dann jedoch eines Tages verlor. Er blieb lange Zeit arbeitslos, weil er zu wählerisch war, dann nahm er im Gegenteil wahllos alles an, und es wurde immer schlimmer.

    Jetzt kannte ihn jeder, weil er die Leute anpumpte und ihnen von seinem Pech und seinen acht Kindern erzählte.

    Es war peinlich. Popinga spürte plötzlich einen Druck im Magen und dachte mit Abneigung an diesen Schwager, der sich gehen ließ und dessen Frau inzwischen keinen Hut mehr trug, wenn sie einkaufen ging.

    Egal! Er betrat ein Geschäft, kaufte eine neue Zigarre und beschloss, am Bahnhof vorbei nach Hause zu gehen, was auch nicht weiter war als entlang des Kanals.

    Er wusste, er würde es sich nicht verkneifen können, zu seiner Frau zu sagen:

    »Dein Bruder ist bei Doktor Claes gewesen.«

    Sie hätte Verständnis. Sie würde seufzen, ohne ein Wort zu sagen. Es war immer das Gleiche!

    Unterdessen ließ er St. Christophorus hinter sich, bog links in eine stille Straße ein, in der sich Schneewälle entlang der Gehsteige und vor den schweren Haustüren mit Messingklopfern türmten. Er versuchte, an Weihnachten zu denken, aber schon nach der dritten Gaslaterne wurde ihm klar, dass ihn andere Gedanken verfolgten.

    Ach! So schlimm war es nicht! Eine kurze Unruhe nur, jedes Mal, wenn er nach seiner Schachpartie hier vorbeikam …

    Groningen war eine anständige Stadt, wo man, anders als in Amsterdam zum Beispiel, nicht Gefahr lief, auf der Straße von schamlosen Frauen angesprochen zu werden.

    Doch hundert Meter vom Bahnhof entfernt gab es ein Haus, ein einziges, von außen stattlich und bürgerlich, dessen Tür sich auf ein leises Klopfzeichen hin öffnete.

    Kees hatte es nie betreten. Er kannte nur die Geschichten, die man sich im Club erzählte. Er selbst hatte es so oder so immer vermieden, seiner Frau untreu zu werden.

    Nur wenn er abends hier vorbeikam, malte er sich alles Mögliche aus, und nun, nachdem er Frau de Coster im Morgenmantel begegnet war, umso mehr. Bis jetzt hatte er sie immer nur von Weitem und in Straßenkleidung gesehen. Popinga wusste, dass sie erst fünfunddreißig, Julius de Coster junior hingegen bereits sechzig Jahre alt war.

    Er ging vorbei … Es war nicht mehr als ein kurzes Innehalten, als er sah, wie sich hinter dem Vorhang im ersten Stock zwei Schatten bewegten … Er konnte schon den Bahnhof erkennen, wo um fünf Minuten nach Mitternacht der letzte Zug abfuhr … Vor dem Bahnhof, auf der rechten Seite, gab es noch die Kneipe Zum Kleinen Sankt Georg, die für ihn etwa zur selben Kategorie gehörte wie das Haus, an dem er gerade vorübergegangen war, wenngleich er sie nicht ganz so anrüchig fand.

    Einst, als es noch Postkutschen gab, hatte es hier ein Gasthaus Zum großen Sankt Georg gegeben, neben dem etwas später die Schenke Zum Kleinen Sankt Georg aufmachte.

    Nur die Schenke hatte überlebt, im Kellergeschoss, die Fenster auf Straßenhöhe. Allerdings war sie fast immer leer, denn erst wenn die anderen Kneipen schlossen, wurde sie von deutschen und englischen Seeleuten aufgesucht.

    Gegen seinen Willen warf Popinga jedes Mal einen Blick hinein, auch wenn es dort nichts Besonderes zu sehen gab: dunkle Eichentische, Bänke, Hocker und im Hintergrund eine Theke, hinter der ein riesenhafter Wirt stand, der wegen seines Kropfs keine Hemden mit Kragen tragen konnte.

    Warum wirkte das Lokal wie eine Lasterhöhle auf ihn? Weil es bis zwei oder drei Uhr morgens geöffnet hatte? Weil hier auf dem Regal mehr Genever- und Whiskeyflaschen standen als anderswo? Weil es sich im Kellergeschoss befand?

    Auch diesmal warf Kees einen Blick hinein, und gleich darauf drückte er sich die Nase an der Scheibe platt, um besser zu sehen, um sicherzugehen, dass er sich nicht täuschte, oder vielmehr, um sich davon zu überzeugen, dass er sich täuschte.

    In Groningen gab es zwei Kategorien von Lokalen: die verlof, in denen nur harmlose Getränke ausgeschenkt wurden, und die vergunning, wo es Alkohol gab.

    Nun, für Kees wäre es ehrenrührig gewesen, ein vergunning zu betreten. Hatte er nicht das Kegeln aufgegeben, weil die Kegelbahn sich im Hinterzimmer eines solchen Etablissements befand?

    Das Kleine Sankt Georg war das vergunning aller vergunning. Und dennoch saß in dem niedrigen Raum ein Mann und trank, ein Mann, der nicht nicht Julius de Coster junior höchstpersönlich sein konnte.

    Hätte er sich jetzt in den Schachclub begeben und Doktor Claes oder irgendjemandem erzählt, er habe Julius de Coster im Kleinen Sankt Georg gesehen, man hätte ihn sorgenvoll angeblickt und ihm geraten, doch einen Arzt aufzusuchen.

    Es gibt Leute, auf deren Kosten man sich Scherze erlauben darf. Aber Julius de Coster …

    Allein sein Spitzbart war das abweisendste Ding von ganz Groningen! Und erst sein Gang! Und seine schwarze Kleidung! Und sein berühmter Hut, dieses Mittelding zwischen Melone und Zylinder!

    Nein! Undenkbar, dass Julius de Coster sich den Spitzbart hatte abrasieren lassen. Undenkbar auch, dass er einen zu weiten braunen Anzug trug!

    Und dass er dort an einem Tisch im Kleinen Sankt Georg vor einem Glas mit dickem Boden saß, das nur Genever enthalten konnte …

    Nun drehte sich der Mann jedoch Richtung Fenster, und auch er schien überrascht zu sein, denn er beugte sich ein wenig vor, um Popinga, der noch immer mit der Nase an der Scheibe klebte, besser sehen zu können.

    Und dann geschah etwas gänzlich Unerhörtes. Er hob zu einer kleinen Geste an, als wollte er sagen:

    ›Kommen Sie doch herein!‹

    Und Kees

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