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Dichterbrand: Ein Siebengebirgskrimi
Dichterbrand: Ein Siebengebirgskrimi
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eBook279 Seiten3 Stunden

Dichterbrand: Ein Siebengebirgskrimi

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Über dieses E-Book

Hinter den Sieben Bergen verbrennt Schriftsteller Beckmann. „Mord im Siebengebirge“, „Detektiv deckt Regierungskomplott auf!“, „Hat der Überwachungsstaat seinen ärgsten Gegner ausgeschaltet?“ und „Bundeswehr-Assassine richten Überwachungs-Richie!“ lauten die Schlagzeilen, während Quirin Hundtemann hinter den Sieben Bergen ermittelt.
Ein kauziger Privatdetektiv, liebevoll gezeichnete Charaktere, knisternde Spannung und eine gute Portion spitzzüngiger Humor machen Liebolds „Dichterbrand“ zu einem anspruchsvollen Lesevergnügen.
SpracheDeutsch
HerausgeberAmator Veritas
Erscheinungsdatum20. März 2012
ISBN9783937330419
Dichterbrand: Ein Siebengebirgskrimi
Autor

Norman Liebold

Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) als Sohn eines Majors geboren, kam kurz vor der Wende ins Rheinland. Er studierte Literatur, Philosophie und Sprachwissenschaften in Bonn und veröffentlicht seine Erzählungen und Romane seit der Schulzeit. In zwei politischen Ideologien aufgewachsen, ist sein Blick geschärft für Systemlügen. Mit geschliffenem Wort, spitzer Zunge und viel Humor demontiert er ihre Masken. Ob Kriminalroman, sozialkritische Novelle oder Fantastik – der Mensch steht bei ihm stets im Mittelpunkt. Der Autor lebt und arbeitet im Siebengebirge mit Lebensgefährtin und Katze, schreibt seine Bücher ganz altmodisch mit Füllfeder und liest sie deutschlandweit mit viel Gefühl vor. Neben dem Schreiben zeichnet er und spielt Flöten, Klarinette und Saxophon.

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    Buchvorschau

    Dichterbrand - Norman Liebold

    Norman Liebold

    Dichterbrand

    Ein Siebengebirgs-Krimi

    Illustriert von

    Katharina Theine und Norman Liebold

    Anmerkung

    Der „Dichterbrand" ist eine fiktive Geschichte, die an real existierenden Orten spielt. Ähnlichkeiten mit lebendigen oder toten Personen, Institutionen oder tatsächlichem geschehen sind rein zufällig und nicht intendiert.

    Die Schauplätze sind das Siebengebirge, besonders das Örtchen Eudenbach mit dem Campingplatz Hülder, Oberpleis und Bonn.

    Danksagung

    Dieses Buch ist nur durch die vielfältige Hilfe vieler Menschen möglich geworden, die Korrektur gelesen, mich unterstützt und beraten haben. Ihnen allen sei herzlichst Dank gesagt.

    Ganz besonderen Dank möchte ich Walter Hülder aussprechen, dem Betreiber des Campingplatzes in Eudenbach (www.camping-siebengebirge.de).

    Nicht nur, dass er in den Jahren, wo ich auf dem Platz lebte, arbeitete und recherchierte, unendlich viel Geduld mit dem „Künstler" hatte und insbesondere für die Recherchen am Dichterbrand eine unerschöpfliche Quelle an Informationen war, er wurde auch zu einem ganz besonders lieben Freund.

    Ohne ihn gäbe es dieses Buch nicht.

    Für die schönen rheinischen Dialekt-Passagen bedanke ich mich herzlich für die Hilfe von Frau Christiane Theine.

    Cineri gloria sero venit

    (Marcus Valerius Martialis)

    Vom Autor durchgesehene und überarbeitete 2. Auflage 2011.

    (Ersterscheinung 2008.)

    Amator Veritas Buch Nr. XLI

    Titelfoto und Covergestaltung von N.Liebold.

    Copyright © 2011

    Norman Liebold und Amator Veritas Verlag, Hennef.

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und elektronische Medien, sowie der Übersetzung auch einzelner Teile.

    ISBN-13 (Print): 978-3-937330-22-8

    ISBN-13 (eBook): 978-3-937330-41-9

    www.norman-liebold.com

    www.amator-veritas.de

    Erstes Kapitel

    Es war ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagt. Nicht, dass Quirin Hundtemann einen Hund besaß, aber er mochte diese Formulierung ausgesprochen gern. Vielleicht wegen seines Namens, vielleicht auch, weil er sie nicht so vulgär fand wie, zum Beispiel, Scheißwetter. Den ganzen Tag kam etwas aus den tiefhängenden, bleigrauen Wolken, das nicht ganz Regen war, aber schon wesentlich mehr als Niesel. Dazu entschied sich nicht nur novemberhaft dicker Nebel, aus sämtlichen verfügbaren Ritzen empor zu kriechen, auch die Nacht ergriff die Chance des wabernden Zwielichtes und brach bereits gegen fünfzehn Uhr herein. Schmuddelwetter hingegen war wiederum ein Wort, das Quirin recht angenehm fand – genau das richtige, um sich Sherlock Holmes aus dem Regal zu greifen, eine gigantische Kanne Tee zu kochen, die alte Petroleumfunzel statt des elektrischen Lichtes anzumachen und den kleinen Ofen anstatt der Zentralheizung. Ein Wetter, dazu geeignet, den großen grünen Ohrensessel und die Welt des neunzehnten Jahrhunderts zur Heimstatt der nächsten Stunden zu erklären. In Geschichten mochte genau so ein Wetter der Beginn einer unheimlichen oder kriminalistischen Geschichte sein, im wirklichen Leben, insbesondere in diesem Herbst, war es nichts mehr und nichts weniger als die Vorfreude auf einen in Decken verkuschelten Leseabend. Vielleicht, ging es Quirin durch den Sinn, der erste entspannte Abend dieser Art seit anderthalb Jahren.

    Der Wasserkocher begann bereits, leise brodelnd Geräusche von sich zu geben, die Kanne stand mit wohlgefülltem Teesieb auf der Anrichte, und Quirin ging langsam zur Telefonbuchse. Wenn er sich ins London des neunzehnten Jahrhunderts versetzen wollte, dann richtig. Aber – es war fast ein wenig unheimlich – das Telefon klingelte genau in dem Moment, als er den Stecker herausziehen wollte. Er überlegte einen kurzen Moment, ob er den Anruf einfach ignorieren sollte, aber so etwas hatte er noch nie gut gekonnt.

    „Quirin Hundtemann. Hallo?"

    Am anderen Ende war die Stimme einer älteren Frau, und sie war hörbar aufgeregt. „Hallo?, rief sie viel zu laut aus dem Hörer. „Detektei Quirin Hundtemann?

    Quirin brauchte eine Weile, ehe er mit einem zögerlichen „Ja? antwortete. Das konnte nur ein schlechter Scherz sein. „Wie kann ich Ihnen behilflich sein?

    „Mein Sohn …", begann die Stimme am anderen Ende und erstickte.

    „Was ist mit Ihrem Sohn?" Quirin war äußerst unheimlich zumute: Die Frau am anderen Ende weinte, und das herzzerreißend. Gutes verhieß das gewiss nicht.

    Erstickt, vom anderen Ende: „Er ist tot!"

    „Hören Sie, ich finde, also wissen Sie, meinen Sie nicht, dass das das eine Sache für die Polizei …"

    „… die Polizei sagt, es wäre ein Unfall. Oder Selbstmord, sagte die Stimme am anderen Ende. „Aber ich glaube nicht daran! Mein Richard würde sich niemals umbringen! Und er war doch immer so ordentlich, und…

    Während die Stimme der Frau in eine wahre Kaskade von lobhudelnden Erklärungen über ihren Sohn ausbrach, überdachte Quirin seine Situation. Er hatte sich als Privatdetektiv registrieren lassen, als Selbstständiger, das war nicht zu leugnen, und er konnte schlecht diesen Auftrag ablehnen - das Amt würde ihm bestimmt sofort die Gelder streichen, wenn es das erfuhr. Woher die Frau seine Telefonnummer hatte, war ihm nicht nur gänzlich schleierhaft, es war geradezu verdächtig – er hatte weder inseriert, noch irgendwo anders publik gemacht, dass er dem Namen nach eine Detektei betrieb. Und sie existierte ja erst seit ein paar Wochen. War das möglicherweise ein Test? Er hatte bei diesem Gründungszuschuss und diesem ganzen Beamtengedöns nicht so richtig durchgeschaut, wenn er ehrlich war. Er fügte sich innerlich in die Situation und erklärte: „Kommen Sie doch vorbei, ja? Dann können wir über alles sprechen." In einer halben Stunde, sagte die Frau, könnte sie da sein, und legte mit einem dankbar klingenden Schniefen auf.

    ***

    Quirin hatte kein Bureau, dafür war seine Wohnung viel zu klein – aber das war ihm in zwiefacher Hinsicht gleichgültig gewesen. Zum einen hatte auch Sherlock Holmes nicht nur kein Bureau besessen, sondern sogar das gemeinsame Wohnzimmer seiner WG mit Dr. Watson zum Empfang seiner Klienten genutzt. Zum anderen hatte Quirin nie vorgehabt, tatsächlich Klienten zu empfangen. Er hatte keinerlei praktische Erfahrungen darin zu tun, was ein Detektiv tun mochte. Wenn er ehrlich war, hatte er noch nicht einmal eine vage Vorstellung davon, was das in der heutigen Zeit bedeutete. Die brillant geschriebenen Schilderungen Doyles mochten selbst für das ausgehende neunzehnte Jahrhundert in England eben fiction sein und nur ansatzweise etwas mit der Wirklichkeit zu tun gehabt haben. Darüber hinaus mochte Quirin vielleicht einen passablen Watson abgeben, aber selbst wenn es eine reale Inkarnation eines kriminalistischen Genies wie Holmes geben sollte – er war es bestimmt nicht. Und, wenn er ehrlich war: zu einem Doktor Watson reichte es auch nicht. Quirin hatte nicht Medizin studiert, und mit Feuerwaffen konnte er – mangels Watsons indischen Kriegserfahrungen – auch nicht umgehen. Zwar hoffte er, in nicht allzu ferner Zeit seinen Doktor zu haben, allerdings phil. und nicht med., und im Moment waren gerade einmal drei Wochen vergangen, seit er sich Magister nennen durfte. Für englische Literatur, im Besonderen Kriminalliteratur. Seine Magisterarbeit hatte er über Doyle und Sherlock Holmes geschrieben, für die er sich schon seit der Kindheit begeisterte.

    Völlig erschöpft von einem Jahr Dauerstress aus den letzten Prüfungen taumelnd hatte er sein Abschlusszeugnis in die Hand gedrückt bekommen und wurde mit einem kurzen Lächeln verabschiedet. Er stand da und hatte das Gefühl, er hätte sein Gehirn in der Uni vergessen. Einen klaren Gedanken zu fassen war fast unmöglich, und er stand vor einem Konto, das nicht minder ausgebrannt war wie sein Kopf – er war stets zu stolz gewesen, um BAföG zu nehmen. Aber das Gespenst Miete kroch genauso bedrohlich am zwei Wochen entfernten Horizont herauf wie – geradezu eine Verschwörung ungünstiger Umstände – Autoversicherung und TÜV. Ganz davon zu schweigen, dass die dreiundfünfzig Euro Studenten-Krankenversicherung sich nächsten Monat mal eben verfünffachen würde. Seine Familie fiel unter den Begriff bucklige Verwandtschaft und würde jauchzend im Kreis springen, wenn der intellektuelle Klugscheißer, der unbedingt studieren musste, sie verzweifelt um Geld anginge und damit seine Unfähigkeit unter Beweis stellte. Bei ihm war Blut nicht nur dicker als Wasser, es hatte die Konsistenz von frisch Erbrochenem. Lieber unter der Brücke hocken und Löwenzahn von der Wiese fressen, das war klar.

    Schließlich hatte ihm ein Freund nahegebracht, dass Deutschland noch so etwas wie eine soziale Marktwirtschaft sein eigen nannte.

    Der Gang zur ARGE war der schwerste seines bisherigen Lebens, fand er, noch nie war sein Stolz so auf die Probe gestellt worden. Und der erste Gang innerhalb dessen, was die bucklige Verwandtschaft so gerne Ernst des Lebens nannte. Als ob er acht Jahre lang gefaulenzt hätte und nicht das Doppelleben von wissenschaftlicher Ausbildung und zum Teil bis zu drei Jobs gleichzeitig geführt hätte. Abgesehen vom Prüfungsjahr natürlich, und das hatte alle Rücklagen in Asche verwandelt. Er hatte seinen Stolz verflucht und seine im Grunde genommen vernünftige Ansicht, nach dem Abschluss nicht mit vierzigtausend Euro Schulden dastehen zu wollen. Und die blöden Kommentare derjenigen, die eine Ausbildung gemacht hatten, waren ihm oft genug bitter hochgekommen: Während die ihren fest umrissenen Arbeitstag hinter sich brachten und dafür Geld bekamen, von dem man sich eine Wohnung und ein Auto leisten konnte, bekam er nicht nur keinen Heller – er musste auch noch drauf zahlen.

    Er war durch neongrelle, unpersönliche Gänge geirrt mit Hunderten von Türen ohne Klinken und hatte sich wie der letzte Abschaum gefühlt. Leute mit verschlossenen Gesichtern kamen aus den klinkenlosen Türen heraus. Schienen ihn wenn überhaupt mit verächtlichen Augen anzusehen und verschwanden schlüsselbundklirrend wieder hinter anderen Türen. Sie wirkten ungemein geschäftig dabei, aber es war gänzlich undurchschaubar, was sie machten und nach welchen Regeln das funktionierte. Es mussten, der Größe des Gebäudes nach zu urteilen, Tausende sein, und Quirin fühlte sich geradewegs in Kafkas Prozess versetzt - nur nicht auf staubige Dachböden, sondern in grelles Neonlicht. Ein äußerst unangenehmes Gefühl nistete sich in seiner Brust ein: Er war durch irgendein Raster gefallen, ohne es zu bemerken. Er befand sich in einer harten, schrecklichen und erbarmungslos effizienten Welt, einer Welt der Globalisierung, einer Welt der Zeitarbeitsfirmen, einer Welt mit vier Millionen Arbeitslosen. Eine Welt, in der Riesenkonzerne Milliardengewinne einfuhren und als Konsequenz entweder Menschen outsourcten oder gleich ein paar Zehntausende durch Elektronenhirne oder Roboter ersetzten. Eine Welt, in der im richtigen Sessel Bürozeit verpennen Millionen einbrachte und ehrliche, harte Arbeit unter Umständen nicht ausreichte, die Miete zu bezahlen.

    Und, wer, zum Teufel, wollte einen Literaturwissenschaftler mit Schwerpunkt englische Kriminalliteratur der Jahrhundertwende in einer Zeit, in der die Massen sich von Richterserien berieseln ließen? Quirin hatte es nicht über sich gebracht, Hartz IV zu beantragen. Vielleicht war es die Erziehung – dieselbe Erziehung, die ihn zum BAföG hatte nein sagen lassen -, vielleicht war es Stolz, vielleicht Eitelkeit, vielleicht die Angst vor den Sprüchen der buckligen Verwandtschaft – allein der Gedanke daran drehte in ihm etwas um und erzeugte ein massives Ekelgefühl gegen sich selbst. Also machte er sich selbstständig und beantragte das, was die Beraterin Einstiegsgeld genannt hatte. Hier zumindest kamen ihm seine detaillierten Kenntnisse der Kriminalliteratur zugute und seine erworbenen Kompetenzen – wie man das hier nannte – in Rhetorik. Seinem Antrag wurde stattgegeben und Quirin Hundtemann war selbstständiger Privatdetektiv. Absurderweise brauchte man dafür in Deutschland weder eine Ausbildung noch irgendwelche nachzuweisenden Kompetenzen. Er hatte sich danach nicht nur als Schmarotzer gefühlt, sondern obendrein als Lügner und Betrüger. Wenigstens war seine Angst beschwichtigt, nicht mehr krankenversichert zu sein und im nächsten Monat mit Miete, TÜV und Autoversicherung in Rückstand zu geraten. Das war anderthalb Monate her. Sieben Wochen gab es die Detektei Quirin Hundtemann, und es war vielleicht der erste Abend, indem er sich nicht schmutzig und hintertrieben fühlte, weil er den Staat betrog – der Mensch gewöhnt sich an fast alles. Der erste Abend vielleicht auch, an dem der Druck in seinem Schädel, der ihn wochenlang keinen geraden Gedanken fassen ließ, soweit abgeklungen war, dass er sich vorstellen konnte, ein Buch zu lesen. Der Druck, der die Entscheidung zwischen zwei Kaffeesorten im Supermarkt manchmal zu einer ausweglosen Situation eskalieren lassen konnte, die ihn verzweifelt mit den Tränen und der Enge in der Brust kämpfend vor dem Regal stehen ließ. Von den ständigen Panikschüben zu schweigen, weil er soundsoviele Bücher noch durchzuarbeiten hatte – die Prüfungen! Die Prüfungen! Er musste sich erst selbst wieder klar machen, dass es vorbei war, dass die Prüfungen hinter ihm lagen. Und dass in einem dämlichen Aktenordner ein Stück Papier lag, auf dem Magister Artium stand.

    Während er über die seltsamen Umstände nachdachte, die ihn zum Detektiv gemacht hatten, richtete er das Wohnzimmer her. Sah man von der Durststrecke des Examens ab, hatte er sich die letzten Jahre gut über Wasser halten können. Und auf seine Wohnung war er stolz. Er hatte lange gesucht, bis er eine Altbauwohnung gefunden hatte, in der noch ein funktionierender Ofen vorhanden war. Im zweiten Stock einer der Villen an der Poppelsdorfer Allee, der Hauptraum mit zwei breiten Fenstern zur Straße hinunter.[1] Quirin hatte sie so eingerichtet, wie er sich die Bakerstreet 221b vorstellte. Es war eine gemütliche, luftige Stube, in der sich ein Gelehrter ebenso wohl fühlen konnte wie ein – Quirin schüttelte den Kopf, als er sich bewusst wurde, dass sein Wohnzimmer tatsächlich zur Bakerstreet wurde – Privatdetektiv. Wenn auch wahrscheinlich nur einer der Jahrhundertwende. Heute mochte ein solches Bureau von Computern und High-Tech-Krimskrams überquellen, nicht von gebundenen Büchern. Es war ein überaus seltsames Gefühl, hier jemanden - eine Klientin - zu empfangen, die sich an ihn wandte, weil sie nicht weiter wusste und selbst die Polizei ihr nicht zu helfen imstande schien. Er dachte an Holmes‘ „ Keiner, der zu mir kommt, hat einen gewöhnlichen Fall. Ich bin das letzte Appellationsgericht"[2] aus The Five Orange Pips. Welches Recht hatte er als Literaturwissenschaftler, einer verzweifelten Frau Hilfe zu suggerieren, die er nicht würde bieten können?

    Der Tee hatte gezogen, und Quirin nahm das Sieb heraus. Auf ein Tablett stellte er Tassen, Stövchen und das Gefäß mit dem Kandis und trug es in den Wohnraum hinüber. Trotzdem er dem Besuch seiner ersten Klientin mit einem mulmigen Gefühl entgegensah, kam er nicht umhin, unwillkürlich zu lächeln, als er an der Tür stehend in den Wohnstube schaute. Zwei Petroleumlampen mit grünen Schirmen erhellten den Bereich um die beiden Sessel und das Tischchen vor dem kleinen Ofen, hinter dessen Glas die Flammen rötlichgelb flackerten. Vor den breiten Fenstern hatte sich das Wetter noch mehr verschlechtert, dunkelgrau rasten tiefhängende Wolken über die Wipfel der Kastanien in der Poppelsdorfer Allee, Regentropfen schlugen gegen die Scheiben, und in den Ritzen des Hauses gab der Wind unheimliches Heulen von sich. Es war ein Refugium der Gemütlichkeit, und Quirin ging der Anfang der Orangenkerne durch den Kopf: „Den ganzen Tag hatte der Wind gekreischt und der Regen gegen die Fenster getrommelt, so dass wir uns selbst hier im Herzen der großen, von Menschenhand gemachten Stadt London bewogen sahen, für den Augenblick unsere Sinne vom täglichen Einerlei zu erheben und die Anwesenheit jener großen, elementaren Gewalten anzuerkennen, die, wilden Tieren im Käfig gleich, den Menschen durch die Gitter seiner Zivilisation hindurch anbrüllen."[3]

    Zwar starrten Quirin nicht die Elemente durch die Gitter seiner Zivilisation an, aber immerhin die Zivilisation durch die Gitter seiner Angst. Sein liebevoll eingerichteter Wohnraum erschien ihm plötzlich als feiger Versuch, der Wirklichkeit zu entfliehen, ein Glorifizieren einer Vergangenheit, die es vielleicht nie gegeben hatte. Er war ein weltfremder Anachronist, ein Stubengelehrter, der sich – anstatt der Welt ins Auge zu blicken – eine Wirklichkeitsblase gebastelt hatte. Ein Ewiggestriger, ein Phantast, ein trauriger Bücherwurm. Quirin stellte das Tablett auf das Tischchen und ließ sich in einen der Sessel sinken. Er stützte die Ellenbogen auf die Lehnen und legte die Fingerspitzen aneinander. Er war sich dessen nicht bewusst, aber in diesem Moment hätte ihm jeder den Sherlock Holmes abgenommen. Quirin Hundtemann brachte es wie der fiktive Detektiv auf mehr als sechs Fuß, auch wenn er nie so richtig verstanden hatte, was Doyle daran so außergewöhnlich fand - schließlich waren ein Meter achtzig eine eher durchschnittliche Größe.[4] Er war, trotzdem er die letzten anderthalb Jahre fast ausschließlich hinter Büchern und dem Bildschirm seines Computers verbracht hatte, ausgesprochen hager und seine markante Nase, schmal und falkenhaft, passte ebenso ins Bild wie die Tintenflecken, die – er wusste selbst nicht, wie er das immer wieder anstellte – stets an seinen Händen zu finden waren. Allerdings hinderte seine Brille, rund und ganz studententypisch, dass seine hellen, grauen Augen scharf und durchdringend wirkten – nur wenn er auf kurze Distanz über den Rand hinweg etwas fixierte, vielleicht, aber dann musste es schon ziemlich nahe sein. Von einem Kinn mit der Prominenz und Wucht, die den entscheidungsfreudigen Mann kennzeichnen, konnte kaum die Rede sein – es wirkte eher ein wenig weich und empfindsam,[5] ebenso wie die etwas zu vollen Lippen.

    Er starrte ins Flackern des Feuers hinter den Scheiben des Ofens und lauschte dem Prasseln des Regens gegen die Scheiben. Von der Gemütlichkeit war nichts mehr zu spüren, es machte sich vielmehr eine Ratlosigkeit in ihm breit, die nah an Verzweiflung grenzte. Acht Jahre hatte er sich Wissen in den Schädel geprügelt, Dinge zum Teil, die er selbst in kaum zu übertreffender Weise nutzlos fand, und das Einzige, was er im Moment davon hatte, war – von den Professoren hoch gerühmt – seine Kompetenz, kritisch zu denken. Was ihm ungemein viel brachte, dachte er doch so umfassend kritisch, dass jedes mögliche Handeln von vornherein derart viele verschiedene Seiten, Aspekte und Zweifel hatte, dass nichts als ohnmächtige Verwirrung zurück blieb. Er spürte, wie dieses dunkle, schwarze, haarige Ding unterhalb seines Brustbeins anschwoll und ihm die Luft abdrückte, dieser seltsame Pilz, dieses Grübel-Tier, das mit jedem Gedanken fetter wird und schwarzen Schleim produziert voller Sporen, die überall hin kriechen und alles zersetzen mit Zweifel und Lebensekel.

    Quirin schlug mit den Handflächen auf die Sessellehnen. „Es reicht!", erklärte er den bleigrauen Wolken vor dem Fenster und dem Feuer hinter der Ofentür. „ Mein Geist rebelliert gegen den Stillstand. Man gebe mir Probleme zu lösen, man gebe mir Arbeit, man gebe mir die verworrenste Geheimschrift, die vertrackteste Analyse – da bin ich ganz in meinem Element. Der dumpfe Trott des Daseins jedoch erfüllt mich mit Abscheu. Ich verzehre mich nach geistigen Höhenflügen!"[6] Er stand auf und wusste nicht recht, wie er mit dem brausenden Gefühl von Tatendrang in seiner Brust umgehen sollte. Er gab ihm nach, und es brach als ein Lachen aus ihm heraus. „Was nützt es denn – Magister – Fähigkeiten zu besitzen, wenn es kein Feld sie anzuwenden gibt? Das Verbrechen ist banal, das Dasein ist banal, und von allen möglichen Eigenschaften gelten einzig die banalen etwas auf dieser Welt!"[7] Quirin stand vor dem Fenster und schaute auf die Poppelsdorfer Allee im Zwielicht und Nebel hinunter, während er Sherlock Holmes rezitierte und spürte, wie es ihm Trost schenkte. Er beobachtete eine einsame Gestalt, die mit zwischen die Schultern gezogenem Kopf auf dem Fußgängerweg zwischen den hohen Platanen entlang eilte. Bei diesem Wetter war sonst niemand draußen, nur ab und an fuhr ein Wagen durch den Regen und schob eine Blase von nebeligem Licht

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