Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Privatsache
Privatsache
Privatsache
eBook346 Seiten4 Stunden

Privatsache

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Im Jahr 1990 wird in einem Altenheim in der Nähe von Börners Wohnung ein alter Mann von einem Mitbewohner ermordet. Als Börner in der Zeitung liest, bei diesem Mord sei es um eine Abrechnung gegangen, da der Täter in der Nazi-Zeit als Schwuler von dem Opfer terrorisiert worden sei, ist er zunächst Feuer und Flamme bei seinen Untersuchungen. Erst spät bemerkt er, dass diese Story nur ein Ablenkungsmanöver ist, das ganz reale und gravierende Straftaten verdecken soll. Aber mittlerweile ist er den wirklichen Tätern schon viel zu nahe gekommen, und denen kommt man nicht auf die Schliche durch Recherchen in Büchern und Archiven.
Privatsache ist der dritte Roman um den schwulen Ex-Kommissar Richard Börner.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum4. Jan. 2020
ISBN9783750219007
Privatsache

Mehr von Thomas Hölscher lesen

Ähnlich wie Privatsache

Ähnliche E-Books

Mystery für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Privatsache

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Privatsache - Thomas Hölscher

    1

    Der Kussweg läuft vom Musiktheater am Rande der Innenstadt zielstrebig auf das Gelände der Zeche Consol in Schalke zu. Wegen dieser Zeche soll der Weg im Volksmund auch oft als Rußweg bezeichnet worden sein. Fest steht nur, dass er nach dem Willen der Stadtverordneten ursprünglich schlicht Fußweg genannt worden war. Über die Umbenennung in den 20er Jahren wissen ältere Bürger eine ganze Reihe von Anekdoten und Dönekes zu erzählen.

    Biegt man heutzutage in Höhe der Lessing-Realschule von der Grenzstraße in diesen Weg, liegen auf der linken Seite ein paar Schrebergärten, auf der rechten Seite grenzt die Rückfront des Seniorenzentrums der Arbeiter-Wohlfahrt an den Kussweg. Dem flachen Verwaltungstrakt folgt ein Appartementhaus für betuchtere Alte, ein Restaurant mit Kegelbahnen, ein Saal für verschiedenste Veranstaltungen, am Ende das dreigeschossige Gebäude des Pflegeheims, im Zynikerjargon Zwischenlager genannt.

    Die Architekten des 1984 fertiggestellten Komplexes haben sich allerdings alle Mühe gegeben, eine solche Vorstellung von Altenheim gar nicht erst aufkommen zu lassen. Selbst im Pflegeheim gibt es keine Patienten, es gibt nur Bewohner. Sie bewohnen jeweils zu zweit ein Krankenzimmer, und im Rahmen des Möglichen ist es gestattet, persönliche Dinge mitzubringen: ein Bild, einen Stuhl, einen Tisch. Manchmal sogar einen ganzen Wohnzimmerschrank. Die Krankenhausbetten sind mit Rücksicht auf die Arbeit des Personals allerdings obligatorisch.

    Selbst für Ehepaare, bei denen der Mann es einmal schaffen sollte, genauso alt und pflegebedürftig zu werden wie seine Frau. Solche Ehepaare können sich hier weiter treu bleiben, bis dass der Tod sie endlich scheidet. Eigentlich kann jeder Bewohner sich hier sogar einbilden, privilegiert zu sein; denn in städtischen Heimen – so wird in den Fluren und Aufenthaltsräumen gemunkelt - wird die Belegung des Hauses meist schon am Nachmittag für die Nacht zurecht gemacht. Es gibt zu wenig Personal, und wer von den alten Menschen nach 18 Uhr noch ein menschliches Bedürfnis verspürt, der kann nur hoffen, dass man ihn am nächsten Morgen als ersten aus der Scheiße zieht.

    Auch das Personal des AWO-Seniorenzentrums am Kussweg gibt sich alle Mühe.

    Die sogenannte späte Spätschicht ist die schlimmste Mühe. Man arbeitet von 15 bis 22 Uhr, in der letzten Stunde oft alleine, weil dann ja angeblich nichts mehr zu tun ist. Aber auch nur angeblich nicht. Denn nun mussten die alten Leute davon überzeugt werden, dass das abendliche Fernsehprogramm blödsinnig und ausgiebiges Waschen am Abend generell völliger Unsinn war. Alle Leute mussten plötzlich noch mal aufs Klo. Dann waren die Urinbeutel der Leute zu leeren, die nicht mehr aufs Klo mussten, und schließlich wurden noch die Bettgitter bei den unruhigen Bewohnern hochgezogen. Es kann für das Pflegepersonal nämlich sehr unangenehme Folgen haben, wenn diese Leute es auch nur schaffen, aus dem Bett zu fallen.

    Und dann war der schlimmste Teil des späten Spätdienstes fällig: das Verteilen der Tabletten. Gegen kurz nach halb zehn, als der Zivildienstleistende endlich hatte nach Hause gehen können, warf Schwester Elisabeth das Tablett mit den vielen bunten Pillen auf den Arbeitstisch im sogenannten Schwesternzimmer.

    Sie war übrigens wirklich Schwester, das heißt, sie hatte im Gegensatz zu den meisten ihrer Kollegen und Kolleginnen die dreijährige Ausbildung zur Krankenschwester absolviert. Vor ein paar Jahren war sie aus dem katholischen Krankenhaus im Stadtteil Horst geflogen, weil sie paketeweise Valium hatte mitgehen lassen.

    Sie hatte das damals gebraucht. Ihr Mann hatte die Anstellung in einem Eisen verarbeitenden Betrieb verloren und eine Umschulung machen müssen, die Kinder waren ein und drei Jahre alt gewesen, das Geld knapp, noch knapper als jetzt, wo der Mann doch wieder bei einer Schlachterei einen Job bekommen hatte. Dann wollte Schwester Elisabeth an all das gar nicht mehr denken. Mit 36 Jahren konnte man doch nicht mal als Frau zu alt sein, und wenn sie sich abends manchmal im Spiegel betrachtete, kam es oft vor, dass sie sich eigentlich noch ganz attraktiv fand und überzeugt davon war, es werde noch irgendetwas Aufregendes in ihrem Leben geschehen. Auf gar keinen Fall konnte es das schon gewesen sein.

    Sie hasste diese farbigen Pillen, die da vor ihr auf dem Tisch lagen oder auf den Boden gefallen waren. Nun musste sie das ganze Zeug wieder aufheben und je nach Farbe in die richtigen Schachteln schieben. Sie tat ihr Bestes und warf den verbleibenden Rest kurzerhand in den Papierkorb.

    Schuld an allem waren doch nur die Ärzte! Was waren die heute noch anders als Vertreter irgendwelcher Chemiekonzerne? Keinen der Bewohner störte es anscheinend, stundenlang im Aufenthaltsraum vor sich hin zu dösen oder auf den Abtransport ins Bett oder aufs Klo warten zu müssen, weil das Personal vor allem am Wochenende völlig überlastet war. Aber wenn nur eine dieser verdammten Pillen beim abendlichen Verteilen fehlte, dann war ganz schnell die Hölle los.

    Gereizt sah Schwester Elisabeth auf die große Stationsuhr, deren langer Sekundenzeiger unendlich schwerfällig über die schwarzen Zahlen und Striche wippte. Es war 20 vor 10, und nun begann der allerschwierigste Teil des Dienstes: das Warten auf die Ablösung durch die Nachtwache. Es war jeden Abend das gleiche Warten: Je näher die Uhr auf die zehn zuging, desto mehr hoffte man, dass nun nichts mehr geschah. Dass vor allem niemand mehr schellte. Dieses rhythmische Getute konnte die schlimmsten Hassreaktionen hervorrufen. Da waren die Bewohner dann nämlich keine alten Menschen mehr, die auf einen Klingelknopf drückten, weil sie Hilfe brauchten; da war nur noch ein großer Moloch, der einen mit seinen immer neuen Wünschen und Pingeligkeiten auffraß. Es hatte gar keinen Sinn, Mitleid zu haben. Nach ein paar Jahren in diesem Beruf merkte jeder, dass zuviel Idealismus Selbstmord war. Mitleid konnte man da nur mit sich selber haben. Schwester Elisabeth wollte einfach nach Hause. Dieser Freitag war der letzte Tag der Spätschicht; morgen früh musste sie bereits um 6 Uhr wieder beginnen, und irgendwann in den nächsten acht Stunden würde sie noch Hausfrau und Mutter spielen und vielleicht auch noch schlafen.

    Sie öffnete die Balkontür des Aufenthaltsraumes, und die nasskalte Aprilluft strömte herein. Sie wollte auf dem Balkon noch eine Zigarette rauchen. Je stiller sie sich außerdem auf der Station verhielt, desto geringer war die Chance, dass sich noch jemand mit irgendwelchen Wünschen meldete.

    Vom dritten Stock sah sie auf den Kussweg. Um diese Zeit war der Hinterausgang längst verschlossen, es war einfach nicht ratsam, nach Einbruch der Dunkelheit diesen Ausgang zu benutzen. Vor allem für Frauen nicht. Und dann musste sie plötzlich lachen. Nach Einbruch der Dunkelheit? War es am heutigen Tag eigentlich schon einmal hell gewesen? Den ganzen Tag hatten dichte tiefe Wolken alles Licht verschluckt, es war kalt und nass gewesen, eine Nässe, die einfach in der Luft hing und überall hinkroch. Auch jetzt trieb der Wind dichte Wasserschleier vor dem Licht der wenigen Laternen vorbei. Es sollte endlich Sommer werden. Noch immer waren die Tage so kurz, und was davon vielleicht noch verwertbar gewesen wäre, wurde fast ganz von der Arbeitszeit aufgefressen.

    Dann fiel ihr Opa Wilmers plötzlich ein. Bei dem musste sie unbedingt noch vorbei. Opa Wilmers war eigentlich ein ganz lieber Kerl, pflegeleicht und außerdem wirklich ein armes Schwein. Vor allem aber konnte man es sich nicht erlauben, den Tod eines Bewohners nicht bemerkt zu haben.

    Und Opa Wilmers musste bald sterben. Deshalb hatten sie ihn vor zwei Wochen schon auf ein Einzelzimmer gelegt. Der alte Mann glaubte immer noch an seine Silikose, seine Steinstaublunge, von der er erzählen konnte, als handele es sich dabei um einen Orden, den man für 40 Jahre Arbeit im Pütt bekam. Dabei hatte er schon lange Lungenkrebs und saß überhaupt voller Metastasen. Natürlich hatte ihm das niemand gesagt. Und warum auch? Sollte er als Bergmann sterben. Bei fast Achtzigjährigen war es ohnehin egal, woran sie starben.

    Sie ging zurück ins Schwesternzimmer und nahm Wilmers Krankenakte, nur um noch einmal zu erfahren, was sie ohnehin schon lange wusste, weil sie es in den vergangenen Tagen immer wieder nachgesehen hatte. In der Rubrik Konfession stand römisch-katholisch, was ja an und für sich noch kein Beinbruch war, aber sie war in diesem Punkt durch ihre frühere Arbeit im katholischen Krankenhaus in Horst einfach vorbelastet: Wenn man dort in solchen Fällen versäumt hatte, den Geistlichen zu rufen, hatte es jedes Mal einen höllischen Ärger gegeben. Im Zweifelsfall ließ man besser auch mal einen Türken mit der letzten Ölung vor Allah erscheinen als einen Katholiken so ganz ohne vor dem katholischen Gott.

    Dann warf Schwester Elisabeth die Akte wieder zurück auf den Tisch. Es war schließlich nicht ihr Problem. Der Mann hatte selber noch nie den Wunsch geäußert, und auch seine Frau, die nur noch selten kommen konnte, weil sie selber schwer krank war, hatte noch nie etwas in dieser Richtung gesagt. Außerdem konnten die Geistlichen ja auch etwas aktiver werden! Den Pfarrer der katholischen Gemeinde hatte sie hier überhaupt nur dreimal gesehen. In ein Heim der Arbeiter-Wohlfahrt kam ein katholischer Geistlicher anscheinend nicht so gern. Und wenn, dann bewegte er sich hier wie ein Späher auf feindlichem Gebiet.

    Sollen sie sich doch um die Leute kümmern, wenn sie noch leben, dachte Schwester Elisabeth in selbstgefälliger Zufriedenheit. Nicht wenn sie schon so gut wie tot sind.

    2

    Schwester Elisabeths Gewissensbisse waren in der Tat völlig gegenstandslos. Mit Gott hatte Opa Wilmers schon lange nichts mehr am Hut, und auch mit der Welt von einem Tag zum anderen weniger.

    Schon seit fast zwei Stunden beschäftigte ihn die Frage, ob er das hinter seinem Bett befindliche Sauerstoffgerät abschalten sollte oder nicht. Er glaubte zwar, dass er auf das Gas verzichten konnte, das durch einen dünnen Plastikschlauch unter seine Nasenlöcher geblasen wurde; aber das leise Zischeln und Brodeln der Apparatur beruhigte. Vor allem lenkte es ab vom Zischen und Brodeln der eigenen Lunge, das sich unweigerlich zu einer neuen Explosion steigern musste, wenn er sich auch nur geringfügig bewegte. Und diese entsetzlichen Hustenanfälle waren das einzige, das ihn noch in Angst versetzen konnte. Mit dem Tod hatte er sich längst abgefunden; aber an das Sterben konnte man sich nicht gewöhnen.

    Außerdem war sein Spucknapf wieder bis zum Rand voll. Vielleicht hatten sie es wirklich nur vergessen, das Ding zu leeren. Vielleicht auch nicht, und auch das konnte man keinem übelnehmen. Bis vor ein paar Wochen noch hatte er das selber machen können. Für einen fremden Menschen musste es einfach eine Zumutung sein.

    Er hörte, wie die Balkontür im Aufenthaltsraum geschlossen wurde. Die roten Ziffern seines Radioweckers standen auf 21 Uhr 48. Schwester Elisabeth hatte also ihre letzte Zigarettenpause am heutigen Tag beendet. Sie würde gleich noch einmal in sein Zimmer kommen, wie sie es jeden Abend tat, und wie jedes Mal würde er sich schlafend stellen, damit sie endlich mit gutem Gewissen nach Hause zu ihrer Familie gehen konnte. Er hörte ihre Schritte auf dem Flur näher kommen; dann wurde die Tür leise geöffnet. Ein breiter Lichtstrahl fiel in das dunkle Zimmer, und er schloss die Augen. Er hörte, wie die Frau vorsichtig durch das Zimmer schlich und sich hier und da zu schaffen machte, spürte, dass sie eine Zeit lang regungslos neben seinem Bett stand und ihn ansah. Es war ihm einfach peinlich, für sie fast überdeutlich den Lebenden zu spielen, wo ihm doch das Totsein keine Angst mehr machen konnte. Zumindest glaubte er das, und dann entfernten sich ihre Schritte, das Licht verschwand, die Tür wurde behutsam ins Schloss gezogen.

    Er verspürte plötzlich eine tiefe Enttäuschung. Gerade noch hatte er die Chance gehabt, ein paar Worte mit einem Menschen zu wechseln, jetzt war es zu spät, nun lagen mindestens acht unerträglich lange Stunden vor ihm. Es würde langweilig, fürchterlich langweilig werden, und das war überhaupt das Schlimmste: diese entsetzliche Langeweile, die man nicht einmal zugeben konnte, wenn man die anderen nicht enttäuschen wollte. Die gaben sich schließlich alle Mühe, um selbst das Sterben erträglich zu machen. Er hörte, wie Schwester Elisabeth die Station verließ und in das oberste Stockwerk ging, wo sich das Personal umkleidete. Gleich würde sie wieder zurückkommen, die Station über das Treppenhaus verlassen, um sich bei der Nachtwache abzumelden, die immer im untersten Stockwerk saß.

    Es ist einfach Zeit, dachte Friedrich Wilmers. Du fällst den anderen nur noch zur Last, sie ekeln sich vor dir, und wenn sie es geschickt verbergen, ist es nur noch schlimmer. Er wollte sich nun einreden, dass es sein innigster Wunsch sei, endlich tot zu sein.

    Das fiel ihm nicht schwer.

    Zuerst kam der stechende Schmerz unter den Hacken wieder. Er versuchte, ihn einfach nicht wahrzunehmen, scheuerte dann aber doch mit den Füßen über das raue Bettlaken, obschon er wusste, dass er genau das nicht machen sollte. Er hatte sich an einigen Körperstellen schon wundgelegen, sie hatten es ihm gesagt, etwas dagegen getan, und zunächst hatte er das alles nicht so ernst genommen, sogar noch Witzchen darüber gemacht. Aber in den letzten Nächten war es dann unerträglich geworden, vor allem an den Füßen.

    Sein Blick ging zum Fenster. Wie mochte es nun draußen aussehen? Nass natürlich und ungemütlich. Trotz der bodenlangen weißen Gardine konnte er sehen, dass sie das Fenster verschlossen hatten, und er wusste, dass er nun das Sauerstoffgerät auf keinen Fall ausschalten konnte. Alleine der Gedanke, in einem völlig abgeschlossenen Raum zu sein, ließ ihn plötzlich nach Luft schnappen. Er musste sich zusammenreißen.

    Vor einer Woche hatte sie seine Frau zu ihm gebracht. Sie war selber schwer herzkrank, lebte aber noch in ihrer Wohnung, weil der Arzt sich geweigert hatte, sie pflegebedürftig zu schreiben. Wenn sie Glück hatte, kam sie ins Krankenhaus, bis sie endlich ein Pflegefall war. Aber so lange konnte er nicht mehr warten und wollte es auch gar nicht. Er wollte plötzlich lachen: Schließlich hatte er jetzt zum erstenmal in seinem Leben ein Einzelzimmer, und er würde es mit niemandem mehr teilen. Ein Einzelzimmer, das das Sozialamt bezahlte; denn wer konnte schon die dreieinhalbtausend Mark im Monat selber aufbringen? Das konnte auch niemand ernsthaft wollen. Für die, die hier wohnten, hatte das Geld seine Bedeutung weitgehend verloren.

    Nachts schien das Haus von einem sonderbaren Leben erfüllt. Es waren Geräusche zu hören, die tagsüber von der sinnlosen Hektik des Betriebs übertönt wurden, und in den endlosen Nächten hatte er mittlerweile eine wahre Meisterschaft darin entwickelt, die verschiedenen Geräusche zu identifizieren: Das leichte Glucksen in der Heizung, wenn die Pumpen das heiße Wasser durch die Röhren drückten, das Öffnen und Schließen verschiedener Türen, das leise Summen im Schwesternzimmer, wenn jemand die Nachtwache rufen wollte.

    Die Schmerzen in den Füßen wurden plötzlich bohrender, und nun begann auch das Zwicken im Rücken wieder. Vorgestern hatten sie ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er nun auch am Steißbein eine wunde Stelle hatte, sie hatten Salbe darauf geschmiert und ihm angeraten, sich möglichst oft auf die Seite zu drehen. Er hatte plötzlich Angst, die Geduld zu verlieren: Man konnte es ertragen, wenn eine Stelle des Körpers schmerzte. Wenn es überall zugleich wehtat, würde er es nicht länger aushalten. Und jeder noch so kleine Versuch, sich selber zu irgendeiner Seite zu drehen, würde augenblicklich den brodelnden Vulkan in seiner Lunge zum Ausbruch bringen. Den Tod konnte er sich mittlerweile sogar als einen guten Freund vorstellen; das Sterben aber nicht: die Vorstellung, eines Nachts völlig hilflos an seinem eigenen Schleim qualvoll ersticken zu müssen, war ihm immer noch ein Horror.

    Irgendwann fiel ihm dann der Journalist wieder ein, der morgen wiederkommen wollte, und mit aller Macht klammerte er sich nun an diesen Gedanken. Je stechender der Schmerz wurde, desto mehr versuchte er sich auf den jungen Mann zu konzentrieren, der morgen noch einmal kommen wollte. Vielleicht schafften sie es morgen erneut, ein paar Stunden gemeinsam zu verbringen. Er würde jedenfalls alles daran setzen.

    Obschon, was wollte dieser junge Mann eigentlich noch? Ursprünglich hatte der ihm gesagt, mit Hilfe von Zeitzeugen eine längere Reportage über die Nazizeit für die Zeitung schreiben zu wollen, und er hatte ihn stundenlang ausgefragt. Von fehlender Vergangenheitsbewältigung hatte der Mann geredet, als könne er sich wirklich ein Urteil darüber erlauben, und davon, dass die letzten Zeitzeugen langsam aber sicher verstarben. Es hatte ihm wirklich Spaß gemacht, sich mit dem Mann zu unterhalten, aber aus irgendeinem Grund hatte er alles das von Beginn an nicht ernst nehmen können. Sie hatten über Dinge geredet, die ja doch jeder kannte, über die Machtergreifung, die Zerstörung der Arbeiterorganisationen, Verfolgung, Versuche des Widerstands. Über all das hatte er dem jungen Mann aus der Perspektive eines einfachen Bergmanns auf der Zeche Consol berichtet. Und ihm selber war dabei eines immer klarer geworden: Das alles kannte doch jedermann seit Jahrzehnten, zumindest wenn jedermann es wissen wollte. Das Thema war ausgequetscht wie eine Orange, über die eine Dampfwalze hinweggerollt war. Und was man erzählen konnte, war ohnehin nie das, was wirklich passiert war. Das nahm man mit. Das letzte Hemd hatte zwar keine Taschen; aber das galt nur für das Geld.

    Wirklich erzählt hatte er dem jungen Mann letztendlich ohnehin etwas ganz anderes, und die Erinnerung daran erfüllte ihn plötzlich mit einer tiefen Zufriedenheit. Irgendwann war Opa Wilmers dann eingedöst.

    Es waren immer nur kurze, traumlose Phasen, in denen sich sein Bewusstsein plötzlich abschaltete, zu kurz sogar, um beim verhassten Erwachen die Orientierung verloren zu haben. Jedes Mal war alles schlagartig wieder präsent: der Schmerz, die Angst, dieser Raum, das Gurgeln des Sauerstoffgerätes, die Geräusche des Hauses.

    Und doch hatte sich nun etwas verändert.

    Die Tür war einen Spalt breit geöffnet, das Licht aus dem Flur lief in einem spitzen Winkel über die Zimmerdecke, die Gardine vor dem Fenster bewegte sich leicht. Irritiert sah Wilmers auf die Leuchtanzeige seines Weckers. Es war kurz nach Mitternacht.

    Warum war er plötzlich so aufgeregt? Fast wollte er es genießen, dass er plötzlich so aufgeregt war, aber das gelang ihm nicht. Und dann blieb es dabei: Es hatte sich irgendetwas verändert.

    Die Nachtwache hatte in den letzten Tagen immer erst gegen Morgen nach ihm gesehen. Natürlich nur aus einem einzigen Grund: Sie hatte sehen wollen, ob er noch lebte oder schon tot war. Sie würde wohl Ärger bekommen, wenn erst die Frühschicht den Tod eines Bewohners bemerkte. Es war aber erst kurz nach Mitternacht.

    Nervös drehte er den Kopf nach links und rechts, der Sauerstoffschlauch rutschte unter seiner Nase weg, schien sich plötzlich um seinen Hals zu schlingen und den dringend benötigten Sauerstoff aufzuhalten. Wer ist denn da?, brachte er mit Mühe heraus, und schon ließ der erste Hustenreiz den Körper verkrampfen.

    Dann war klar, dass sich etwas verändert hatte: Die Schnabeltasse mit Tee, die der Zivildienstleistende ihm jeden Abend auf den Nachtschrank stellte, war umgestoßen worden, und noch immer war das Tropfen der Flüssigkeit auf dem Boden zu hören. Da ist doch jemand!, rief Wilmers energisch, dann kam der nächste Hustenreiz, und augenblicklich war sein Mund voller Schleim. Es war ein Vulkan, der urplötzlich aus seinem brodelnden Inneren den aufgestauten Schleim nach oben presste und das Atmen unmöglich machte. Er musste die Nachtwache rufen und fingerte nach der Schelle, die irgendwo auf seiner Bettdecke liegen musste.

    Wilmers sah noch die abrupte Bewegung neben seinem Bett, dann war sein sehnlichster Wunsch mit einem Schlag erfüllt.

    Er war tot.

    Um viertel nach zwölf erschien im Schwesternzimmer des untersten Stockwerks ein alter Mann bei der Nachtwache, der behauptete, gerade einen Mitbewohner getötet zu haben. Schwester Ingrid - auch sie war examinierte Krankenschwester und hatte jahrelang in der Psychiatrie gearbeitet - lachte lauthals und überlegte sofort, welches pharmazeutische Mittel dem alten Mann wohl am besten verabreicht werden könnte, um ihn zu sedieren. So sagte man immer, wenn man wollte, dass jemand endlich den Mund hielt und schlief.

    Der Alte bestand aber hartnäckig darauf, dass die Schwester augenblicklich mit ihm in den dritten Stock fuhr und sich selber überzeugte. Da sie den alten Mann ohnehin wieder ins Bett bringen musste und außerdem aus Erfahrung wusste, dass man verwirrten alten Menschen nicht widersprechen sollte, redete sie nur beruhigend auf den alten Mann ein, nahm von dem Alten unbemerkt ein Röhrchen Valium aus dem Medikamentenschrank, setzte ihn schließlich in einen Rollstuhl und fuhr mit ihm in den dritten Stock.

    Sekunden später fand Schwester Ingrid gar nichts mehr zum Lachen.

    In der folgenden halben Stunde erwachte das Haus zu einem für die Tageszeit völlig ungewohnten Leben: Die Besatzungen zweier Streifenwagen erschienen als erste, die Kollegen von der Kripo nur wenig später. Schwester Ingrid informierte auch die Stationsschwester, dann die Heimleitung, und gegen kurz vor eins glich die Station im dritten Stock des Seniorenzentrums am Kussweg einem Tollhaus.

    Es ging drunter und drüber, es wurde ein unglaublicher Lärm gemacht. Und letztlich verband doch alle Anwesenden auch etwas in diesem Chaos: Niemand konnte fassen, was da geschehen war.

    Ein 80jähriger Mann, der seit fast zwei Jahren schon zusammen mit seiner Frau in dem Pflegeheim wohnte, hatte den 79jährigen Mitbewohner Friedrich Wilmers durch mehrere Hammerschläge auf den Kopf getötet. Er gab lediglich an, durch diese Tat eine uralte Rechnung beglichen zu haben. Und das Motiv war nur eines der vielen Details, die an diesem Abend im unklaren bleiben sollten. Es war schon kaum zu erklären, wie der als bettlägerig geltende Mann den Weg von seinem Zimmer bis zu seinem Opfer zurückgelegt haben konnte.

    Und schließlich wusste niemand mehr weiter. Konnte man einen solchen Mann überhaupt festnehmen? Und wenn ja, wie? Mitsamt Krankenbett ins Präsidium rollen? Hauptkommissar Hebemann, erst seit einem knappen Jahr Leiter der Gelsenkirchener Mordkommission, war jedenfalls am Ende mit seinem Latein. Der anwesende Arzt überflog die Krankenakte des Mannes, wechselte ein paar Worte mit der Stationsschwester und lachte dann: Ich glaube kaum, dass hier eine Fluchtgefahr besteht. Der haut Ihnen nicht mehr ab. Höchstens nach oben.

    Hauptkommissar Hebemann verstand nicht und bestand irritiert auf einer exakteren Klärung.

    Dieser Mann ist todkrank. Er wird in den nächsten Tagen oder Wochen sterben, präzisierte der Arzt.

    Dass die aber auch nicht warten können, bis sie dran sind!, sagte ein anderer Kripobeamter, ein riesiger blonder Kerl, der schon die ganze Zeit sehr offensichtlich mehr Interesse für Schwester Ingrid als für diesen ungewöhnlichen Fall gezeigt hatte. Aber auch über dieses Scherzchen konnte niemand lachen.

    Erst nach über zwei Stunden fiel das Haus wieder in die gewohnte Ruhe zurück; nur an Schlaf konnte kein Mensch denken.

    Die Bewohner ohnehin nicht. Sie waren nur ruhig, weil das von ihnen erwartet wurde. Es war schließlich immer so, wenn einer starb: Sie wollten verhindern, dass die anderen es mitbekamen, und weil sie sich dabei so anstrengen mussten, bekam man es natürlich immer mit.

    Aber in dieser Nacht war es tatsächlich ungewöhnlich laut gewesen.

    3

    Can Picafort war wirklich das Letzte!

    Börner hatte den Leihwagen an der breiten Hauptstraße nach Alcudia abgestellt, war durch ein schachbrettartig angeordnetes Sammelsurium nichtssagender Gebäude zur Abwicklung von Massentourismus gelaufen und ging nun die Strandpromenade entlang. Vor ihm lag der weite Bogen der Bucht von Alcudia, links und rechts umschlossen von hohen Bergen, deren Ausläufer weit ins Meer hinausragten und sich im Dunst verloren; strahlend blauer Himmel, türkisfarbenes Wasser, und das einzige, was störte, war dieses Can Picafort. Aber das tat es massiv.

    Der Strand war nur wenige Meter breit und soweit man sehen konnte mit sonnenhungrigen Touristen belegt. Eine kaum kniehohe Mauer trennte den Strand von der Promenade, die fast überall durch die Terrassen der zumeist riesigen, direkt ans Meer gebauten Hotels verstellt war. Scharen halbnackter Menschen saßen an kleinen Tischchen, tranken irgendetwas oder stopften in der Mittagshitze Berge von Essen in sich hinein und schauten dösig und gelangweilt in die wunderschöne Gegend. Aus den zum Meer hin offenen Bars und Restaurants dröhnten hemmungslos die Schlager der Saison und mischten sich auf der Promenade zu einem kaum erträglichen Lärm. Auf großen Schildern wurde auf deutsch und englisch angepriesen, was noch gegessen, getrunken und unbedingt noch erlebt werden musste. Gelegentliche Hinweise in der Landessprache gaben der Szenerie etwas Exotisches und sollten den Menschen wahrscheinlich nur das Gefühl vermitteln, tatsächlich Urlaub im

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1