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Später Besuch
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eBook359 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Warum hat Börner vor ein paar Jahren den Dienst bei der Kripo quittiert? Weil in einem spektakulären Rauschgiftfall der Mord an einem Schwulen vernachlässigt wurde? Börner weiß, dass auch sein ehemaliger Chef den wahren Grund kennt. Und als der ihn am Abend der Feier seiner Verabschiedung aus dem Polizeidienst besucht, hält man sich mit dem Austausch von Freundlichkeiten nicht lange auf. Börner ist nicht mehr der sensible, liebe Junge, der noch eine große Karriere vor sich hat, sondern ein Freibeuter, der auf Biegen und Brechen die Wahrheit ans Licht bringen will. Ein Verhalten, das ihn um ein Haar das Leben kostet.
Später Besuch ist der zweite Roman um den schwulen Ex-Kommissar Richard Börner.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum4. Jan. 2020
ISBN9783750218970
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    Buchvorschau

    Später Besuch - Thomas Hölscher

    1

    Es war Samstag, der 1. April 1989.

    Der seit einigen Stunden bereits andauernde Regen wollte sich einfach nicht als misslungener Aprilscherz herausstellen; diesen Eindruck machte eher die Umgebung: die Innenstadt von Gelsenkirchen.

    Zumindest empfand es Günter Bremminger so, als er kurz vor 22 Uhr die Kneipe am Wiehagen verließ, sich umsah und die Rückfront des Gelsenkirchener Hauptbahnhofs in sein Blickfeld geriet. Er hatte diese Stadt in der ganzen Zeit, die er nun schon hier wohnte, noch nie gemocht. Schalke 04 schon, aber sonst nichts.

    Wegen des Regens hielt er sich dicht an der Häuserwand, bog dann nach links in die Bochumer Straße und hatte wenig später die unter den Gleisen herführende Passage erreicht.

    Mein Gott! Wie sah es hier aus! Mit einem Anflug von Wehmut dachte er an das alte Bahnhofsgebäude zurück, das sie vor Jahren schon abgerissen hatten. Sie hatten überhaupt alles abgerissen und ihre Zerstörungswut Stadtsanierung genannt: das alte Hallenbad, den ganzen Bahnhofsvorplatz und vor allem das alte Rathaus, in dessem neugotischen Gemäuer später das Polizeipräsidium untergebracht und das ihm immer wie eine misslungene Kopie von Schloss Neuschwanstein vorgekommen war. Der Gedanke an das alte Präsidium machte ihn nun tatsächlich traurig. Natürlich, es war zu klein gewesen, unpraktisch, kalt, aber es war eben noch etwas gewesen. Was nun hier stand, war jedenfalls gar nichts.

    Skeptisch sah Bremminger sich um. Die hell erleuchtete Bahnhofshalle war wie ausgestorben; nur wenige Passanten, zumeist Ausländer, liefen teilnahmslos an ihm vorbei. Einige Penner, die es sich in einer Nische so gut es ging bequem gemacht hatten, sorgten dafür, dass dieser Bau überhaupt einen Zweck erfüllte, und Bremminger wünschte sich aufrichtig, dass die Bahnpolizei diese armen Teufel zufrieden ließ.

    Auch die Toiletten am Ausgang der Passage schien niemand zu benötigen. Nicht mal Schwule, dachte Bremminger mit einem flüchtigen Blick in den gekachelten Gang, aus dem es penetrant nach Desinfektionsmittel roch, und dann musste er plötzlich lachen: Er hatte zwar keine Ahnung davon, aber ein Schwuler, der sich zum Hauptbahnhof in Gelsenkirchen verirrte, war entweder verrückt oder schlecht informiert.

    Am meisten ärgerte ihn die Stadtbahn. In Gelsenkirchen war eine U-Bahn so überflüssig wie ein Kühlschrank am Nordpol. Hunderte von Millionen wurden da für ein Prestigeobjekt in den Sand gesetzt, und gleichzeitig wuchs das Heer der Sozialhilfeempfänger, für die die Stadt kein Geld mehr hatte. Das einzige, was diese nach Geschäftsschluss zumeist ausgestorbenen U-Bahnstationen wirklich brachten, waren Treffs für dubiose Elemente und damit einen Anstieg der Kriminalität. Und das musste Bremminger als Leiter des 1.K. der Gelsenkirchener Kripo schließlich wissen.

    Bremminger seufzte, und dann war er selber erstaunt, wie wehmütig dieser Seufzer geklungen hatte. Es würde wohl doch noch einige Zeit dauern, bis er sich damit abfinden konnte, nur noch Hauptkommissar a.D. zu sein. Bis zum gestrigen Tag war er noch ein richtiger Hauptkommissar gewesen, obschon ihm die Entlassungsurkunde schon vor ein paar Tagen im Rahmen einer kleinen Feier vom Polizeipräsidenten ausgehändigt worden war. Heute Abend hatte er mit den Kollegen seinen Abschied gefeiert; sie waren fast alle noch in der Kneipe geblieben, und Bremminger dachte mit Schrecken an die Rechnung, die er bekommen würde. Natürlich war er der Spielverderber gewesen, als er schon so früh gegangen war. Aber das war ihm gleichgültig gewesen; denn seit 19 Uhr hatte ihn überhaupt nur eines beschäftigt: Es waren eben nicht alle Kollegen anwesend. Einer fehlte.

    Er selber hatte ihn allerdings auch nicht eingeladen. Aus irgendeinem Grund hatte er es nicht gewagt. Vielleicht hatte er Angst gehabt vor einer endgültigen Absage. Aber schließlich hatte ja auch der Kollege Hebemann den ganzen Abend organisiert und der hatte angeblich allen Bescheid gesagt. Allen, das hatte Hebemann auf seine mehrfache Nachfrage immer wieder bestätigt. Natürlich, ich habe alle eingeladen. Auch die ehemaligen? Sicher, auch die ehemaligen. Auf Hebemann konnte man sich verlassen, und zweifelsohne hatte der auch genau gewusst, welchen der ehemaligen Kollegen er vor allem gemeint hatte.

    Wenn der Berg nicht zum Propheten kommen will, dachte Bremminger nun, dann muss der Prophet eben zum Berg gehen. Noch vor ein paar Stunden hatte er noch nicht so gedacht, sondern sich nur geärgert; aber nach etlichen Gläsern Bier war sein Entschluss gefasst gewesen.

    Unschlüssig sah er sich um. Gehen war leicht gesagt; zu Fuß war es noch fast eine halbe Stunde. Irgendwo in der Passage hatte er doch ein Hinweisschild auf einen Taxenstand gesehen. Aber dann hatte er es sich plötzlich schon wieder anders überlegt; zielstrebig ging er in den Regen auf dem Bahnhofsvorplatz. Zu Fuß hatte er schließlich noch eine halbe Stunde Zeit, sich die ganze Sache vielleicht doch noch einmal zu überlegen.

    Als er unter den Vordächern und Markisen der großen Kaufhäuser vor dem Regen Schutz suchte, regte er sich darüber auf, dass die Bahnhofstraße nach Geschäftsschluss so dich besiedelt war wie die Sahara. Am Neumarkt kam ihm der pompöse Eingang zur Stadtbahn völlig absurd vor, weil die grelle Beleuchtung erst recht darauf aufmerksam machte, dass hier nichts, aber auch gar nichts los war. Das Stadttheater am nördlichen Rand der Innenstadt hatte noch nie Gnade bei ihm gefunden. Mit Opern konnte er gar nichts anfangen. Erst als er die Grenzstraße in Schalke erreicht hatte, konnte er sich über nichts mehr aufregen.

    Nur über sich selber. Es war wohl besser, einfach zuzugeben, dass er ein mulmiges Gefühl hatte. Schließlich hatte er den Kerl seit mehr als drei Jahren nicht mehr gesehen, und wenn man ehrlich war, musste man außerdem zugeben, dass ihr letztes Zusammentreffen einen weiteren Kontakt eigentlich ausgeschlossen hatte.

    Nur wegen des nun noch heftiger einsetzenden Regens blieb Bremminger nicht stehen. Er überquerte die Ampel an der Kurt-Schumacher-Straße bei Rot und lief auf der Grenzstraße weiter. Die dritte Querstraße links, das würde er nie vergessen, war die Leipziger Straße.

    Über 30 Jahre war Bremminger bei der Polizei gewesen. Er hatte viele Kollegen erlebt, viele waren auch ganz gute Kumpel, aber die meisten waren vor allem eines gewesen: Beamte, die genau wussten, dass sie jeden Monat ihr Geld überwiesen bekamen, gleichgültig ob sie gute Polizisten oder faule Bürohengste waren. In den letzten 30 Jahren, so kam es ihm nun vor, hatte es nur diese einzige Ausnahme gegeben.

    Er selber hatte es bis zum Leiter des 1.K. gebracht und damit im Rahmen seiner Möglichkeiten sicherlich Karriere gemacht. Die jungen Leute hatten es heute viel schwieriger; die Ausbildung war verschult, Bücher waren wichtiger als die Praxis, und es gab vor allem zu viele, die Karriere machen wollten. Es stand zu befürchten, dass sie demnächst noch auf die Idee kamen, selber krumme Dinger zu drehen, nur damit sie die aufklären und sich profilieren konnten. Dass sie jetzt ausgerechnet den Hebemann zu seinem Nachfolger gemacht hatten, hatte auch ihn überrascht. Eigentlich hatte es ihn sogar geärgert. Hebemann war nämlich ein typischer Bürohengst. Für Bremminger hatte es bereits vor sechs Jahren nur eine Person gegeben, die er wirklich für geeignet hielt, sein Nachfolger zu werden. Diese Person hieß Richard Börner.

    Aber dann war diese Sache passiert, die er bis heute nicht verstehen konnte, für die er trotz aller Bemühungen auch nie eine plausible Erklärung hatte finden können: Börner hatte damals ohne ein Wort der Erklärung den Dienst quittiert. Es war tatsächlich genau so gewesen: Tage- oder sogar wochenlang hatte Börner weder mit ihm noch mit sonst einem Kollegen auch nur ein Wort gewechselt, und dann hatte er eines Morgens das Kündigungsschreiben auf dem Schreibtisch gehabt.

    Vielleicht sagt er mir ja heute Abend den Grund, dachte Bremminger und bog schnell in die Leipziger Straße ein.

    Und dann hielt er es für das Beste, seinerseits ohne Wenn und Aber von Beginn an mit der ganzen Wahrheit herauszurücken: Einen anderen Grund gab es gar nicht für seinen späten Besuch.

    Bremminger war ein ordentlicher Mensch. Wenn man sein Amt einem Nachfolger übergab, musste eben alles geklärt sein. Alles. Auch die unangenehmen Dinge.

    2

    Obschon es draußen schon lange dunkel geworden und das Licht in der Wohnung eingeschaltet war, konnte sich Börner nicht entschließen, die Rolläden vor den Fenstern herunterzulassen. Es störte ihn zwar, dass nun möglicherweise Leute von der gegenüberliegenden Häuserreihe in sein Zimmer sahen, aber das Gefühl, in einer von der Außenwelt abgeschlossenen Wohnung zu sitzen, war ihm unerträglich.

    Die Wohnung machte keinen sonderlich aufgeräumten Eindruck. Alle Türen standen offen, in allen Zimmern brannte Licht. In der Küche standen Berge von nicht abgewaschenem Geschirr, der Boden im Wohnzimmer war übersät mit Büchern, Notizblöcken und Zetteln. Auf dem Schreibtisch an der breiten Fensterfront konzentrierte sich dieses Chaos.

    Börner lag auf der Couch in der Ecke des Wohnzimmers. In der rechten Hand hielt er die Fernbedienung des Fernsehgerätes und schaltete von einem Programm zum anderen. Gerade hatte er einen amerikanischen Spielfilm gesehen, der ihn nicht interessiert hatte. Er machte einen hilflosen Eindruck, als er das Gerät ausschaltete und aufstand: Er wusste nicht, was er nun tun sollte; er fühlte sich müde, ohne jeden Antrieb. Die Unordnung in seiner Wohnung verstärkte dieses Gefühl noch.

    Eine ganze Zeit stand er vor dem Bücherregal, das fast die gesamte Wand des Wohnzimmers einnahm. Auf den Büchern lag eine dicke Staubschicht. Etwa in Augenhöhe lag über einer Reihe von Büchern ein Blatt Papier. Neugierig nahm er es aus dem Regal, und schon bevor er es genauer betrachtet hatte, war sein Interesse wieder erloschen

    Es war ein Papier mit Briefkopf: Kommissar Richard Börner, Leipziger Straße 54, 4650 Gelsenkirchen. Er zerriss das Papier in kleine Stücke. Noch vor dem Ende des Kommissarlehrgangs in Dortmund vor mittlerweile über sieben Jahren hatte er solche Briefbögen drucken lassen. Es war wirklich manchmal schwer, sich seine eigene Vergangenheit zu verzeihen! Die Karriere des Kommissars Richard Börner bei der Kripo in Gelsenkirchen hatte nicht einmal zwei Jahre gedauert.

    Er arbeitete immer noch in Dr.Klauseners Anwaltsbüro in Essen und hatte zu dieser Arbeit weniger Lust als je zuvor. Auch konnte er nach zehn Semestern Jura an der Uni in Bochum nur sagen, dass man Mühe haben musste, ein noch langweiligeres Fach zu finden. An den Tagen, die Dr.Klausener ihn in der Vorlesungszeit wegen des Studiums beurlaubte, besuchte er zumeist Vorlesungen und Seminare anderer Fachbereiche: Psychologie, Philosophie, Sprachen, das alles konnte man noch ertragen. Aber wozu eine Uni nun wirklich da war, das hatte er trotz seines kriminalistischen Spürsinns in fast fünf Jahren nicht herausbekommen.

    Demenstsprechend waren seine Studienleistungen. Das Staatsexamen lag in irgendwelchen unerreichbaren Fernen, und Dr.Klauseners gelegentliche Hinweise und Anmahnungen erreichten mit schöner Regelmäßigkeit das Gegenteil von dem, was sie wohl bezweckten: Börner hasste Klauseners väterliche Art, und schon mehrfach hatten dessen Belehrungen in den vergangenen Monaten dazu geführt, dass Börner, anstatt nach Bochum zu fahren, sich erst einmal richtig ausgeschlafen hatte. Er hatte sich längst mit dem Job eines kleinen Bürogehilfen in einer Anwaltskanzlei angefreundet. Und warum auch nicht? Geld verdiente er damit genug, und ob er nun Akten schleppte oder brilliante Plädoyers vorbereitete, das war doch völlig gleichgültig. So oder so war dieser ganze juristische Kram Zeitverschwendung, und er hatte sich einfach für die geringere Verschwendung seiner Zeit entschieden.

    Außerdem kam er nun auch mit den Kollegen ganz gut klar. Nach dem Fall Neubauer und seinen Eskapaden vor rund vier Jahren hatte er geglaubt, das Büro nie mehr betreten zu können, hatte befürchtet, für die anderen nur noch der schwule Psychopath zu sein, der einem bestenfalls leid tun konnte. Aber diese Einschätzung war völlig falsch gewesen. Die anderen hatten einen ganz unerklärlichen Respekt vor ihm gezeigt, weil er offensichtlich in ihren Horizont von Klatsch und Tratsch über Belanglosigkeiten und Beziehungskisten nicht einzuordnen war. Für die Kollegen war er sogar mittlerweile fast eine Art Autoritätsperson, die tun und lassen konnte, was sie wollte. Und genau das tat er auch.

    Trotz seiner Gleichgültigkeit dem Studium gegenüber saß er oft an seinem Schreibtisch, wollte etwas schreiben, hatte tausend Einfälle, aber nie kam etwas dabei heraus. Und wenn er doch etwas schrieb, war er zumeist betrunken, und spätestens am nächsten Morgen warf er alles in den Papierkorb.

    Nachdem er missmutig noch ein paar Buchtitel überflogen hatte, ging er in die Küche und nahm aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier. Es war die dritte heute Abend, und dann ärgerte es ihn, sich selber vorzuhalten, dass er nun schon wieder die dritte Flasche geöffnet hatte. Wie aus Trotz trank er die Flasche mit einem Mal leer, stellte sie in den Kasten zurück und nahm eine neue.

    Er wollte noch weg heute Abend. Weshalb hatte er überhaupt so lange zu Hause gesessen und gewartet? Es war besser, man erwartete gar nichts mehr. Dann konnte man auch nicht enttäuscht werden.

    Meistens saß er samstags Abends in einer Schwulenkneipe in Dortmund. Es war mittlerweile eine Art Stammkneipe für ihn geworden, wo der Wirt ihn mit Handschlag begrüßte und immer ein paar Leute saßen, die ihn kannten. Ihn interessierte weder der Wirt noch diese Leute.

    Nervös sah er auf die Uhr. Es war 20 nach 10. Der Zug ging um 22 Uhr 59, er musste sich umziehen. Er nahm noch einen Schluck aus der Bierflasche und stellte sie dann noch halb voll in den Kasten zurück. Er trank zwar nach wie vor wie ein Loch, aber samstagabends konnte der Alkohol auch hinderlich sein. Man musste dann zu oft pinkeln. Und wenn es hart auf hart kam, dann konnte es mit zuviel Alkohol im Blut bei aller aufgestauten Geilheit auch schon mal peinlich werden.

    An der Fensterscheibe konnte er sehen, dass es draußen immer noch regnete. Er würde mit dem Taxi zum Bahnhof fahren, hatte also noch etwas Zeit. Zufrieden nahm er die Bierflasche wieder aus dem Kasten und trank sie leer.

    Das Trinken war auch der Grund, weshalb er am Wochenende meistens mit dem Zug fuhr. Das war zwar hinderlich, wenn sich die ganze Sache nicht an Ort und Stelle erledigen ließ, aber zur Not nahm er in solchen Fällen ein Taxi. Billig war so etwas nicht gerade, er musste schon etwas Besonderes gefunden haben, um soviel Geld springen zu lassen. Meist ging er mit in irgendeine fremde Wohnung. Den Zeitpunkt der Trennung bestimmte er am liebsten selber, und wo er wohnte, das ging auch niemanden etwas an.

    Es gab noch einen Grund, weshalb er nie mit dem eigenen Wagen nach Dortmund fuhr. Vor zwei Jahren hatten sie ihn auf der B1 erwischt, und da hatte auch Dr.Klauseners gesammelte juristische Lügenkunst nichts mehr genutzt. Der Abend hatte 1500 Mark und für sechs Monate eine Bahnfahrkarte von Gelsenkirchen nach Essen gekostet.

    Börner stand auf und ging ins Schlafzimmer. In der Wohnung lief er fast nur in einem gammeligen Trainigsanzug herum; in der Schwulenkneipe kam man am besten mit einer verwaschenen Jeans und einer schwarzen Lederjacke zurecht.

    Es war halb elf, als er im Korridor neben dem Telefon stand und die Nummer der Taxizentrale wählte. In diesem Augenblick schellte es an der Wohnungstür.

    Börner hörte, dass der Ruf durchging. Er wollte jetzt nicht mehr gestört werden, wollte abends überhaupt nie gestört werden. Am anderen Ende der Leitung meldete sich die Taxizentrale, und dann schellte es zum zweitenmal. Wütend legte Börner den Hörer auf. Als er missmutig die Tür öffnete, stand Bremminger im Hausflur, sein ehemaliger Chef bei der Kripo.

    Für Sekunden trafen sich ihre Blicke, und Börner glaubte, Unsicherheit und Hilflosigkeit in Bremmingers Augen zu entdecken. Ohne ein Wort zu sagen, öffnete er die Wohnungstür ganz. Erst nachdem er Börner noch einmal angesehen hatte, so als müsse er sich über dessen Zustimmung immer noch erst Gewissheit verschaffen, betrat Bremminger die Wohnung.

    3

    Der Austausch der üblichen Höflichkeitsrituale dauerte nicht lange. Börner war viel zu überrascht, und Bremminger wusste, dass er irgendwann eine plausible Erklärung für seinen Besuch geben musste und genau das nicht konnte. Außerdem war auch er überrascht. Börner hatte sich in den letzten Jahren sehr verändert.

    Noch immer hatte er ihn in Erinnerung, wie der jeden Tag ins Büro gekommen war. Meistens zwar mit einer ziemlichen Fahne, aber letztlich doch wie ein lieber kleiner Junge, den man einfach gern haben und dem man helfen musste. Und selbst bei dieser unseligen Sache vor fast vier Jahren, als sich Börner in den Fall Neubauer eingemischt hatte und dabei fast draufgegangen war, hatte ihn gerade Börners offensichtliche Hilflosigkeit sofort dazu gebracht, alles für den Jungen zu tun. Alles.

    Und nun gab es diesen Jungen nicht mehr.

    Du hast dich sehr verändert, sagte Bremminger.

    Du dich gar nicht.

    Doch, rief Bremminger mit aufgesetzter Fröhlichkeit. Seit gestern bin ich Hauptkommissar a.D. Er betonte a.D.

    Glückwunsch!, sagte Börner und hängte seine Jacke zurück an die Garderobe. Oder was sagt man in solchen Fällen?

    Weiß ich auch noch nicht, gab Bremminger zu. Vielleicht eher Beileid.

    Dann forderte Börner ihn auf abzulegen und bat ihn ins Wohnzimmer. Nimm doch Platz.

    Noch einmal verschafften ihnen die üblichen Phrasen und Rituale eine kurze Verschnaufpause: Kann ich dir etwas anbieten? Und entschuldige bitte, dass die Wohnung so unaufgeräumt ist. Dann nahm Bremminger ein Bier, sagte, dass es bei ihm zu Hause auch oft so aussehe, Börner glaubte das natürlich nicht, sammelte scheinbar wahllos im Zimmer verstreute Gegenstände und warf sie kurzerhand durch die Schlafzimmertür auf sein Bett.

    Lange nicht gesehen, sagte er dann, nur um etwas zu sagen, und fand seine Bemerkung selber wenig geistreich, während Bremminger es schaffte, unverschämt lange mit dem Öffnen seiner Bierflasche beschäftigt zu sein.

    Es war nicht meine Schuld, antwortete Bremminger. Du hast damals nicht mehr mit mir reden wollen.

    Das stimmte allerdings. Er hatte es damals abgelehnt, noch einmal mit Bremminger zu sprechen. Es tut mir leid, sagte er leise und wusste sofort, dass das höchstens die halbe Wahrheit war.

    Mit Interesse hatte er zugesehen, wie Bremminger das ganze Glas mit einem Zug geleert hatte und es nun wieder füllte. Schon als Bremminger zur Türe herein gekommen war, hatte er dessen Alkoholfahne bemerkt. Nicht besonders stark. Wahrscheinlich war es ihm überhaupt nur aufgefallen, weil er Bremminger noch nie hatte trinken sehen. Ohne zu fragen stellte er eine neue Flasche neben Bremminger auf den Tisch.

    Tut es dir wirklich leid?

    Nein, sagte Börner, und obschon ihn die Frage überrascht hatte, klang seine Stimme entschieden.

    Warum sagst du es dann?

    Man sagt es halt.

    Bremminger lachte plötzlich los. Ach Richard, lass uns doch jetzt diesen ganzen Unsinn vergessen. Wieder trank er sein Glas mit einem Zug leer. Ich habe heute Abend meinen Ausstand gegeben und etwas getrunken. Aber ich bin schließlich von meiner eigenen Feier weggegangen, weil du nicht da warst.

    Und dann herrschte plötzlich eine Stille, die immer unerträglicher wurde, bis sie endlich ein Thema gefunden hatten, über das sie miteinander reden konnten. Sie sprachen plötzlich von früher, als wäre Börner immer noch Beamter der Gelsenkirchener Kripo. Dann nahm auch Börner noch ein Bier, Bremminger traute sich sogar ein paar Korn zu, weil er doch heute den ersten Tag als Pensionär erlebte. Zwischenzeitlich hatte Börner im Kursbuch nahchgesehen: Es fuhr noch ein Zug um 23 Uhr 17, und das war mittlerweile zu knapp; dann fuhr noch ein Zug um eine Minute nach Mitternacht, und da der ohnehin erst um kurz nach halb eins in Dortmund eintreffen würde, zog Börner es vor, vorsichtshalber seine Alkoholbestände zu überprüfen. Er kehrte zufrieden ins Wohnzimmer zurück. Was das anbelangte, konnte es ein langer Abend werden.

    Dann war endlich Schalke 04 Thema. Nun waren die Schalker also sogar in der 2.Liga schon auf dem vorletzten Platz gelandet! Und natürlich würden sie auch in Osnabrück morgen die Hucke vollkriegen! Nachdem sie Schalke 04 schließlich in sämtlichen Höhen und Tiefen durchdiskutiert und dabei noch einige Flaschen Bier vernichtet hatten, wiederholte Bremminger plötzlich sein aufrichtiges Bedauern darüber, dass Börner nicht zu seiner Abschiedsfeier erschienen war.

    Ich war doch gar nicht eingeladen. Und selbst wenn du mich eingeladen hättest, dann wäre ich nicht gekommen.

    Für einen Augenblick befürchtete Börner, die Endgültigkeit dieser Aussage könnte Bremminger verletzt haben; aber der schien das Spiel nun auf die Spitze treiben zu wollen. Ja sicher warst du eingeladen!, rief er, und seine Stimme sollte wohl Erstaunen darüber zum Ausdruck bringen, dass jemand eine Selbstverständlichkeit anzweifeln konnte. Börner sah Bremminger direkt an, aber nun gab selbst ihr kurzer Blickkontakt keinen Hinweis mehr darauf, dass Bremminger log. Und plötzlich spürte Börner, wie die Wut ganz langsam in ihm hochkroch.

    Ich habe dem Hebemann gesagt, er soll allen Bescheid sagen.

    Dem Hebemann? fragte Börner und sah Bremminger höhnisch grinsend an.

    Hat er dir etwa nichts gesagt?

    Hast du das etwa erwartet?

    Ja sicher, sagte Bremminger schnell und wich Börners Blick aus.

    Es war nun ganz offensichtlich, dass Bremminger nicht die Wahrheit sagte; vor allem wusste er, dass Börner sein Theaterspiel längst durchschaut hatte. Börner war bemüht, die Peinlichkeit der Situation zu beenden, und deshalb sagte er einfach die Wahrheit. Ich will dir sagen, weshalb Hebemann mich nicht eingeladen hat. Milewski wird ihn ganz einfach vor die Alternative gestellt haben: Entweder der Börner oder ich. Ist doch ganz klar.

    Ach was! Das siehst du wirklich ganz falsch.

    Das sehe ich ganz richtig. Börner musste sich zusammenreißen. Aber ich habe doch auch gar nichts dagegen, dass Milewski so denkt und Hebemann tut, was der will. Ich arbeite schließlich nicht mehr bei euch.

    Als Bremminger dann noch einen Versuch unternehmen wollte, Börners Behauptungen als bedauerliches Missverständnis vom Tisch zu wischen, ging plötzlich alles ganz schnell. Börner lief in den Korridor, und als er zurückkam, knallte er den Telefonapparat vor Bremminger auf den Tisch. In welcher Kneipe ward ihr?

    Bremminger war so überrascht, dass er spontan den Namen nannte, und in ein paar Sekunden hatte Börner die Rufnummer im Telefonbuch gefunden. Dann sah er auf seine Armbanduhr. Es ist jetzt kurz vor elf. Die sitzen natürlich noch da und lassen sich auf deine Kosten voll laufen. Du rufst jetzt den Hebemann an, tust so, als wenn du zu Hause wärst, und dann fragst du, warum er mich nicht eingeladen hat.

    Bremminger sah Börner entgeistert an. Du bist ja völlig verrückt!, meinte er schließlich und schob das Telefon ärgerlich zur Seite.

    Wenn du jetzt nicht anrufst, Günter, dann wäre es besser, du wärst heute Abend gar nicht erst gekommen. Börner nahm den Hörer ab und wählte die Nummer. Und wie ich dich kenne, willst du es doch selber auch genau wissen. Deutlich war das gleichmäßige Tuten des Apparates zu hören. Fassungslos nahm Bremminger den Hörer.

    Hebemann war tatsächlich noch da, und plötzlich war Bremmingers Fassungslosigkeit verflogen. Er bedankte sich bei dem Kollegen, weil der alles so toll arrangiert hatte, bat noch einmal um Verständnis dafür, dass er selber schon so früh habe gehen müssen; es sei aber in der letzten Zeit alles einfach zuviel gewesen für ihn, schließlich sei er nicht mehr der Jüngste. Und dann stellte er die Frage nach Börner.

    Je mehr sich Hebemanns Antwort ganz offensichtlich in die Länge zog, um so deutlicher konnte Börner die Veränderung in Bremmingers Gesicht sehen. Ohne noch ein Wort zu sagen, legte Bremminger schließlich den Hörer auf. Es tut mir leid, sagte er leise.

    Es braucht dir nicht leid zu tun. Ich habe doch gesagt, ich wäre ohnehin nicht gekommen.

    Bremminger nickte langsam und wirkte plötzlich sehr müde. Ja eben. Das habe ich auch gewusst.

    Nach diesem Vorfall wollte ihnen eine Rückkehr zu unverfänglichen Themen nicht mehr gelingen, und nur wenig später wollte Bremminger nach Hause. Börner half ihm in den Mantel und fragte, ob er ein Taxi rufen solle. Bremminger lehnte ab. Lass mal, ich muss noch einen Augenblick an die frische Luft.

    Hast du etwas dagegen, wenn ich dich noch ein Stück begleite?

    Bremminger hatte nichts dagegen; aber es war Börner nicht entgangen, dass Bremminger eine ganze Weile mit der Antwort gezögert hatte. Wie geht es Milewski denn eigentlich?, fragte er, als sie die Wohnung verlassen wollten.

    Ich glaube, ganz gut. Seine Frau ist schwanger. Siebter Monat.

    Ach, Ingrid ist mal wieder schwanger?

    Bremminger blieb in der geöffneten Tür stehen und sah Börner überrascht an. Wieso denn wieder schwanger? Ist doch das erste Kind.

    Ach nur so, sagte Börner schnell und zog die Wohnungstür zu. Es war dumm von mir. Vergiss es!

    Dann verließen sie das Haus.

    4

    An der Grenzstraße bogen sie nach links. Sie redeten kein Wort miteinander. Als sie die Bismarckstraße erreicht hatten, bogen sie wiederum nach links. In Höhe der Magdeburger Straße war eine Haltestelle der Straßenbahn. Ich kann auch mit der Bahn nach Hause fahren, sagte Bremminger und schaute auf den Fahrplan. Die Bahn war gerade weg, die nächste würde erst in einer halben Stunde kommen. Lass uns einfach ein Stück weiter gehen, schlug Börner vor, und Bremminger nickte zustimmend.

    Die Bismarckstraße erfüllt alle Klischees, die es über den Kohlenpott gibt. Scheinbar endlos zieht sich ein planloses Sammelsurium von Häusern, die

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