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Auf Biegen oder Brechen
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eBook410 Seiten5 Stunden

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Über dieses E-Book

In mehreren Städten des Ruhrgebiets kommt es innerhalb kürzester Zeit zu Morden an Schwulen. Vielleicht nur aufgrund der verschiedenen Zuständigkeiten der einzelnen Behörden tut sich der Polizeiapparat schwer, in Gang zu kommen. Nicht so Richard Börner, ein junger Mann, der kurz zuvor seinen Job als Kommissar bei der Kripo in Gelsenkirchen hingeworfen hat. Börner ist schwul, aber das ist für ihn nur ein Wort, für das es eine Bedeutung irgendwo zwischen Homophobie und exzessivem Ausleben noch zu finden gilt. Für seine Umgebung ist er mittlerweile eine Mischung aus liebem Jungen, Freibeuter und asozialem Element. Als die Polizei ein Phantombild des Täters veröffentlicht, verliebt Börner sich in dieses Bild und will diesen Menschen um jeden Preis finden, bevor die Polizei ihn fasst. Börner findet den Mörder, aber das hilft ihm nicht weiter. Ganz im Gegenteil.
Auf Biegen oder Brechen ist der erste Roman um den schwulen Ex-Kommissar Richard Börner.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum4. Jan. 2020
ISBN9783750218949
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    Buchvorschau

    Auf Biegen oder Brechen - Thomas Hölscher

    1

    Die Olpe ist eine Straße am südöstlichen Rand der Dortmunder Innenstadt. Trotz ihrer Nähe zur belebten Fußgängerzone ist die Straße tagsüber relativ ruhig. Nicht nur weil sie kein Grün aufweist, wirkt die Straße trist. Es gibt hier keine Geschäfte, nur einfallslose Wohn- und Bürohäuser. Lediglich abends herrscht in den Kneipen und Restaurants am Anfang der Straße, dort wo sie auf den Ostwall führt, reges Leben.

    Auch an diesem Morgen, Ende April, herrschte wenig Verkehr, da die Straße für die Zulieferer der großen Warenhäuser in der Nähe kaum eine Rolle spielt. Alles schien wie an jedem Morgen menschenleer.

    Aber das schien nur so.

    Und doch musste irgendetwas verantwortlich dafür sein, dass die Nachforschungen der Polizei letztlich ein nur unbefriedigendes Ergebnis brachten. Den grauen VW-Polo, der dort seit etwa 6 Uhr schon am Straßenrand parkte, hatte hinterher, als sich eine dichte Menschenmenge in der Straße drängte, niemand bemerkt. Dies ist um so erstaunlicher, als von Beginn an jemand in diesem Wagen gesessen und unablässig das siebenstöckige Wohnhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtet hatte. Es war ein Apartmenthaus, dessen Bewohnern auf einem großen Plakat neben dem Haus überdurchschnittlicher Wohnkomfort bei citynaher Wohnlage versprochen wurde. Nichts sollte zu wünschen übrig bleiben.

    Erst als die Tür des Hauses sich gegen kurz nach halb neun öffnete und ein kräftiger, gut aussehender Mann in mittlerem Alter das Haus in Richtung der rechts auf einem gänzlich betonierten Hof liegenden Garagen verließ, zog der junge Mann im grauen VW-Polo langsam die Klinke der Wagentür zurück, stieg ohne Hast aus und ließ die Tür des Wagens wieder zuschlagen. Er verschloss sie nicht.

    Der Mann aus dem Haus hatte inzwischen den mit Autos verstellten Hof erreicht und hatte den Schlüssel in das Schloss eines metallicfarbenen Porsche gesteckt, als jemand hinter ihm leise einen englisch klingenden Vornamen rief. Nicht laut und forsch, eher mit unterdrückter, schüchterner Stimme, als wolle er keinen anderen als eben diesen Mann wegen einer nicht für andere bestimmten Angelegenheit auf sich aufmerksam machen oder als müsse er sich Klarheit über die Identität des Angesprochenen verschaffen. Trotz allem aber war die Stimme entschieden genug, den Mann zu erreichen.

    Da er in Eile war und zuvor niemanden auf dem zur Straße hin offenen Hof gesehen hatte, drehte sich der Angesprochene hastig um. Dicht vor ihm, keine drei Meter entfernt, stand ein junger Mann, der ihn hilflos ansah. Was machst du denn hier? fragte der Angesprochene, ohne dabei die Hand von der inzwischen halb geöffneten Wagentür zu lassen.

    Ganz langsam zog der junge Mann die Hand aus seiner Jackentasche - erst dadurch fiel dem Angesprochenen überhaupt auf, dass der andere die eine Hand in der Jackentasche verborgen hatte - und richtete auf den Körper des Mannes neben dem Porsche eine Pistole. Den Schalldämpfer konnte der Mann noch erkennen, bevor ihn ein Schuss in den Unterleib traf und ihn wie ein Klappmesser in der Hüfte zusammenzucken ließ. Mit vor wahnsinnigem Schmerz und ungläubigem Entsetzen schier aus dem Schädel springenden Augen schlug der Mann vornüber auf den Hof aus Beton, blieb dort unter krampfhaften Zuckungen liegen, unfähig, den Schmerz durch einen erlösenden Schrei zu mildern. In diesem Augenblick passierte keine zehn Meter von dem Mann entfernt ein Kleintransporter den Hof.

    Der junge Mann bückte sich kurz zu dem auf dem Boden sich windenden Körper, schien zu warten, bis seine Augen die des anderen fixiert hatten, sagte leise etwas, doch immer noch so laut, dass er sicher sein konnte, der andere würde ihn verstehen, und beendete abrupt die Zuckungen des Körpers durch einen Schuss in den Kopf. Das Gesicht des Mannes war nicht mehr gut aussehend. Es war gar nicht mehr. Dann ging der junge Mann langsam vom Hof.

    Die augenblicklich rings um den leblosen Körper entstehende riesige Blutlache interessierte ihn nicht mehr. Erst wenige Minuten später interessierte sie einen anderen Bewohner des Hauses und veranlasste ihn, sofort die Polizei zu rufen.

    Als keine fünf Minuten nach dem Anruf ein erster Streifenwagen die Straße mit dem seltsamen Namen heraufgerast kam, hatte sich bereits eine Menschenmenge um die Leiche auf dem Hof gebildet.

    Die etwas später eintreffenden Beamten der Kriminalpolizei hatten sehr schnell das Gefühl, die in der Menschenmenge hektisch und halblaut geäußerten Vermutungen, Verdächtigungen und angeblichen Beobachtungen seien letztlich nur der Ausdruck des Unfassbaren, das keiner allein ertragen konnte und das doch irgendeine Erklärung haben musste. Wie konnte so etwas am helllichten Tag mitten in der Stadt passieren? Es war schließlich nicht normal, dass ein Mensch auf offener Straße erschossen wurde. Noch dazu auf diese Art und Weise: Von dem Kopf des Getöteten war praktisch nichts mehr übrig geblieben. Normal war somit nur, dass die Polizei die Menschenmenge ebenso energisch wie erfolglos

    zum Weitergehen aufforderte.

    Konkretes zum Tathergang konnte niemand sagen, und die Polizei begann nach der Feststellung der Identität des Ermordeten, sich durch die Befragung von Nachbarn ein Bild von dem Toten zu machen.

    Zu dieser Zeit war der graue VW-Polo längst verschwunden.

    Bei den polizeilichen Bemühungen kam nicht viel heraus: Der Tote war in der Versicherungsbranche tätig gewesen, nur ein paar Straßen weiter hatte er eine Agentur gehabt. Er hatte alleine gelebt, und keiner der übrigen Bewohner kannte den Mann genauer.

    Vielleicht hat er einem Kunden irgendeine völlig überflüssige Versicherung angedreht, dachte Hauptkommissar Diethelm; und der hat ihn dafür umgelegt. Bei dieser Vorstellung musste Diethelm grinsen. Möglich ist es doch, dachte er dann, als wollte er sich vor sich selber für sein blödes Grinsen rechtfertigen. Die Leute brachten sich doch heute wegen Lappalien um.

    Dann grinste Diethelm nicht mehr. Er tat das ohnehin fast nie. Er war Choleriker und bei den Kollegen äußerst unbeliebt und gefürchtet.

    2

    Börner war mürrisch.

    Zwar war diese Stimmung bei ihm keine Seltenheit, in den letzten Wochen und Monaten war sie aber schon fast zum Dauerzustand geworden. Nach dem Ausscheiden aus dem Polizeidienst vor mittlerweile fast einem Jahr hatte er eine ganze Zeit lang von seinen Ersparnissen gelebt; Anspruch auf irgendwelche finanziellen Zuwendungen hatte er nicht. Schließlich hatte er ja selber bei der Polizei die Brocken hingeworfen und geglaubt, auf die Arbeit generell und auf die Arbeit bei der Polizei erst recht verzichten zu können.

    Anfangs war er ganz begeistert gewesen: er hatte es den anderen gezeigt, und nun konnte er sich endlich nach einer für ihn geeigneten Beschäftigung umsehen.

    Er fand sie nicht. Er fand gar keine Beschäftigung.

    Ernsthafte Gedanken hatte er sich auch nie darüber gemacht und etwas Konkretes getan schon gar nicht. Zum Arbeitsamt zu gehen, empfand er als das Allerletzte. Wenn irgendwelche Bekannten ihn nach seinen weiteren Plänen gefragt hatten, hatte er jedes Mal lediglich gesagt, es werde sich schon etwas ergeben. Die anderen nahmen das zwar zur Kenntnis, aber offensichtlich glaubte ihm das keiner so recht. Jedenfalls hatte Börner immer dieses Gefühl gehabt, und deshalb mied er den Kontakt zu anderen mehr und mehr. Letztlich war er davon überzeugt, gar keine Bekannten mehr zu haben. Freunde ohnehin nicht.

    Es gab aber eine Sache, die ihm irgendwann klar geworden war: Offenbar fiel man als Arbeitsloser auf, und das wollte er auf keinen Fall. Über die armen Arbeitslosen gescheit und mitleidsvoll zu reden, das war eine Sache; es selber zu sein, das war eine ganz andere. Und plötzlich machte es ein schlechtes Gewissen, morgens so lange schlafen zu können, wie man wollte, wenn andere zur Arbeit gingen. Irgendwann kam man sich ausgestoßen vor, dann überflüssig und schließlich wie ein faules Schwein, das selber schuld war.

    Als es bei ihm soweit war, versuchte Börner, sich selber davon zu überzeugen, dass er sich nur auf seine kreativen Fähigkeiten, die er zu haben glaubte, konzentrieren müsste: Er wollte unbedingt schreiben. Wenn er sich selber nur hinreichend Zeit ließ, davon war er überzeugt, würde er irgendwann in der Lage sein, durch seine kreativen Fähigkeiten seinen Lebensunterhalt zu verdienen: Er brauchte also Zeit, viel Zeit.

    Nun hatte er Zeit, sehr viel Zeit, die mit vergeblichen Versuchen verstrich, irgendetwas zu Papier zu bringen. Sein Kopf war voll von Bildern und Ideen, und alle diese Bilder und Ideen hatten zu tun mit seinem Schwulsein. Er wollte Geschichten über das Schwulsein schreiben, um endlich einmal Klarheit über diese Sache zu gewinnen. Und da er nach wie vor zuviel Alkohol trank, kam es oft vor, dass er sich an Abenden stundenlang damit beschäftigte, Papier seitenweise zu beschreiben, um es am nächsten Morgen als das unerträgliche Gekritzel eines Besoffenen in den Papierkorb zu werfen. War das oft genug geschehen, nahm er sich vor, zumindest ein paar Tage keinen Alkohol mehr anzurühren. Das gelang ihm auch; aber in solchen Phasen fand er keine Ruhe mehr: Alles, was er tat kam ihm sinnlos vor, was er sich vorgenommen hatte, erschien ihm dann zuviel, er würde es niemals schaffen. Er war eben ein Versager. Er hatte soviel Zeit und verbrachte sie fast ausschließlich damit, sich selber Vorwürfe zu machen. Und wenn er das nicht mehr aushielt, besoff er sich wieder, und bereits nach ein paar Schlucken Alkohol war es ihm, als fiele er in ein unendliches Zeitloch, in dem man Ruhe finden konnte und in dem kein Plan unerfüllbar war.

    Der Morgen war jedes Mal schrecklich. Man musste dann einfach wegen des grauenhaften Katers morgens im Bett bleiben, und es war schwierig, dafür zu sorgen, dass wenigstens die Nachbarn nichts merkten. Eines Abends, als er sehr betrunken gewesen war, hatte er sich eine ganze Zeit im Spiegel betrachtet und gefunden, dass er gut aussehe. Er hatte dann in sein Tagebuch geschrieben, dass er gerne jemanden treffen wollte, der so war wie er selber. Er würde sich verlieben. Eine derartige Geschichte hatte er in Stichworten in sein Tagebuch notiert. Jemand läuft ziellos durch die Stadt, und plötzlich läuft er sich selber über den Weg. Dieser Jemand tut alles, um sein Ebenbild wiederzufinden. Den Schluss der Geschichte hatte er offen gelassen.

    Am nächsten Tag hatte er dann diese Seite aus seinen Notizen herausgerissen. Die ganze Vorstellung war ihm furchtbar peinlich gewesen; er hatte sie auf sein Betrunkensein geschoben, andererseits aber immer gewusst, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Schließlich wusste er doch aus Erfahrung, dass der Alkohol hemmungslos machte, auch was die Ehrlichkeit der eigenen Person gegenüber betraf.

    Nur ab und zu besuchte er Schwulenkneipen in Essen oder Dortmund. Meistens musste er sich schon vorher betrinken, weil er sich unsicher fühlte und gar nicht wusste, wie er sich dort verhalten sollte. Also betrank er sich auch in diesen Kneipen und wirkte auf andere abweisend und arrogant. Dennoch redeten ihn mehrfach Leute an, die ihn offensichtlich nett fanden. Er empfand sie in der Regel als irgendwie lästig; seinen Vorstellungen entsprachen diese Leute nie, und es lief alles immer nach dem gleichen Schema ab: Er nahm diese Leute mit zu sich, tobte seine Geilheit an ihnen aus und war froh, wenn sie gleich danach wieder gingen. Und schon nach kurzer Zeit befürchtete er, dass man ihn in diesen Kneipen durchschaut und als Säufer abgestempelt hatte, den niemand mehr ernst nahm. Um seine Hemmungen und Ängste zu überwinden und überhaupt noch rauszugehen, musste er von Mal zu Mal mehr trinken. Es machte ihn auch wütend, wenn die flüchtigen Bekannten ihn noch längere Zeit anriefen. Sie sollten ihn doch in Ruhe lassen. Er wollte an nichts mehr erinnert werden, was er irgendwann einmal getan hatte.

    Etwas anderes ließ ihn allerdings nach wie vor nie in Ruhe: dass er selber solche Leute, die ihm gefielen, nie ansprechen konnte. Männer, die er anhimmelte oder einfach geil fand - so wie seinen Ex-Kollegen Milewski -, mied er wie der Teufel das Weihwasser. Es war nicht nur die Furcht, abgewiesen zu werden. Er hatte einfach eine panische Angst vor solchen Männern. Die waren nur zum Anschauen. Da konnte man nur den kürzeren ziehen.

    Am Anfang des Jahres waren seine Ersparnisse fast aufgebraucht, und dann hatte Arbeit hergemusst, irgendeine Arbeit, nur sofort. Eine Zeit lang hatte er sich mit der Tatsache zu trösten versucht, dass er immer noch seinen Wagen verkaufen und in eine billigere Wohnung ziehen könnte. Er fand keine Arbeit, hatte nicht einmal Vorstellungen, wo er suchen sollte. Es gab Tage, an denen er sich kaum noch aus dem Haus wagte, und auch von dieser Angst befreite der Alkohol. Oft ging er angetrunken durch Schalke oder Bismarck; er wusste, dass hier in seiner unmittelbaren Umgebung die Arbeitslosigkeit besonders hoch war. Schon morgens standen Gruppen von Männern vor den Seltersbuden und tranken Bier, oder andere lagen in den Fenstern und stierten auf die Straße. Eine Zeit lang versuchte Börner, so etwas wie Solidarität mit anderen Menschen zu empfinden, die auch keine Arbeit hatten, aber natürlich schaffte er das nicht. Nur konnte er sich irgendwann einreden, dass die Situation nun einmal so schlecht war und man ohnehin nichts daran ändern konnte. Was sich änderte war, dass er nun mit besserem Gewissen saufen konnte.

    Er war unsagbar erleichtert gewesen, als zu Beginn des Jahres ein alter Bekannter der Eltern, der in Essen eine gut gehende Anwaltspraxis führte, ihm angeboten hatte, zunächst als Aushilfe in seiner Praxis zu arbeiten. Er sollte, so hatte der Bekannte der Eltern in einem persönlichen Gespräch gesagt, sich zum Sommersemester für Jura immatrikulieren. Bei seiner Vorbildung bei der Polizei habe er die besten Voraussetzungen für dieses Studium; er könne sich durch die Arbeit in der Praxis genügend Geld zum Leben verdienen, und was dann noch möglich sei, werde man nach Börners juristischem Staatsexamen sehen. Was der Mann gesagt hatte, vor allem, dass er, Börner, eine neue Perspektive brauche, hatte Börner natürlich überzeugt. Es konnte ihn ja auch nur überzeugen. Dennoch hatte er den Mann - einen Dr.Klausener - von Anfang an nicht gemocht. Schon weil er ein guter Bekannter der Eltern war und Börner wusste, weshalb er diesen Job bekommen hatte. Die Sorge seiner Eltern um ihn fand er unerträglich, und wenn er überhaupt einmal Kontakt zu ihnen hatte, ließ er sie jedes Mal merken, dass sie ihm auf den Geist gingen.

    Seit das Semester vor zwei Wochen begonnen hatte, war Börner an drei Vormittagen an der Uni in Bochum, ansonsten arbeitete er jeden Tag in dem Büro des Anwalts in Essen. Die Arbeit dort empfand er als das mit Abstand Langweiligste, was ihm je untergekommen war. Das Schlimmste aber war, dass es bei Rechtsanwälten offensichtlich als völlige Verrücktheit angesehen wurde, wenn es jemandem - aus welchen Gründen auch immer - um so etwas wie Wahrheit ging. Es ging um Taktiken und Strategien, die Leute vor einer Bestrafung bewahren sollten, wenn sie irgendeinen Mist gemacht hatten. Vor einer, wie Börner inzwischen glaubte sagen zu können, gerechten Bestrafung. Für ihn waren schon nach einem knappen Monat alle Rechtsanwälte selber Verbrecher. Er würde alles das auf keinen Fall lange mitmachen, aber im Augenblick brauchte er Geld, und das konnte er dort verdienen. Natürlich wusste er noch nicht, was er stattdessen machen wollte; aber diese Arbeit auf

    keinen Fall.

    Gereizt überflog er die Seiten der Tageszeitung. Auf der dritten Seite weckte das Bild eines gut aussehenden Mannes sein Interesse: Es ging um einen Mordfall in Dortmund, und dieser Mann war das Opfer. Er war auf offener Straße erschossen worden. Börner bedauerte das aufrichtig: Mit einem solchen Mann kann man doch Sinnvolleres tun, dachte er und grinste über seinen dämlichen Einfall. Vielleicht würde er das Bild ausschneiden. Mehr fiel ihm bei solchen Männern doch sowieso nicht ein.

    3

    Schon seit den frühen Morgenstunden stand vor der Spielhölle auf der Brückstraße am nördlichen Rand der Bochumer Innenstadt ein junger Mann, dessen Interesse offensichtlich einem auf der gegenüberliegenden Straßenseite gelegenen Herrenfachgeschäft galt. Er schien dieses Interesse auch gar nicht verbergen zu wollen; denn selbst als es gegen kurz nach acht leicht zu regnen anfing, blieb der junge Mann ruhig an seinem Platz stehen. Erst als ihm seine dunklen Haare völlig durchnässt in die Stirne fielen, zog er die Kapuze seiner kurzen Regenjacke über den Kopf.

    Gegen viertel vor neun waren auch die braunen Schnürschuhe des jungen Mannes völlig durchnässt. Der Betrieb auf der Straße begann nun lebhafter zu werden: Es waren vor allem Lieferwagen, die von hier in die untere Kortumstraße fuhren, um die dortigen Kaufhäuser zu versorgen. Die Kaufhäuser öffneten in der Regel erst um neun Uhr; relativ wenige Menschen passierten um diese Zeit die Straße, zumeist liefen sie dicht an den Häuserfronten entlang, um dem heftiger werdenden Regen zu entgehen.

    Es fiel auf, als aus dem der Spielhölle gegenüberliegenden Haus ein Mann trat. Er war mittelgroß, schlank, um die vierzig, hatte dunkle Haare, einen Vollbart und war modisch gekleidet. Auch er lief schnell in die zu dem Herrenfachgeschäft führende Passage, und es sah so aus, als wolle auch er dem Regen entgehen. Dann hantierte er ungeschickt mit einem Schlüssel an der Eingangstür des Geschäfts.

    Langsam verließ der junge Mann vor der Spielhalle seinen Platz. Bevor er die Straße überquerte, schaute er gewissenhaft nach links und rechts. Als er am Eingang der Passage stehenblieb, hatte der mit dem Türschloss beschäftigte Mann ihn immer noch nicht zur Kenntnis genommen. Leise und fragend nannte der junge Mann einen Namen, und es war nicht nur die in der Passage hervorragende Akustik, die seine Stimme klar und deutlich hörbar machte.

    Der Mann an der Ladentür hatte sie jedenfalls gehört und sich umgedreht; nicht erschrocken, eher gereizt, da sich das Schloss nicht öffnete und er in Eile war. Er musste heute Morgen in Sachen Mode nach Düsseldorf fahren; und da er sich schon verspätet hatte, wollte er jetzt nicht gestört werden. Ungehalten blickte er in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Und dann blickte er in den Lauf einer Pistole und ließ den Schlüssel zu Boden fallen.

    Anschließend fiel er selber: Ein Schuss hatte ihn in den Unterleib getroffen. Der rasende Schmerz ließ ihn schon fast besinnungslos langsam vornüber kippen, und da seine Hände das grausige Brennen aus seinem Leib reißen wollten, schlug sein Gesicht schutzlos auf die blanken Marmorfliesen der Passage. Die erheblichen Verletzungen und Entstellungen seines Gesichts - so sollte später der Bericht des Gerichtsmediziners feststellen - waren auf diesen Sturz zurückzuführen. Das an der unteren Begrenzung des Hinterhauptbeines schräg nach unten eindringende, das verlängerte Rückenmark zerfetzende und die Halswirbelsäule durchdringende Projektil hatte den Tod herbeigeführt. Den augenblicklichen Tod, wie es später heißen sollte. Dass der Schuss aus unmittelbarer Nähe auf den am Boden Liegenden abgefeuert worden war, das wurde sehr schnell festgestellt. Sieht ja fast aus wie 'ne Exekution, sagte Werner Schröer, ein junger Mann, der gerade auf der Fachhochschule in Dortmund den Kommissarslehrgang und in Bochum ein neunmonatiges Praktikum absolvierte. Die Haare sind versengt, und wetten, dass sich zwischen Kopfhaut und Schädelknochen eine Schmauchhöhle entwickelt hat?

    Bei seinen Ausführungen über die tödliche Schussverletzung sah er Hauptkommissar Schreiner herausfordernd an, und diesem wurde augenblicklich wieder klar, weshalb er dem Ende von Schröers Praktikum so entgegenfieberte. Er fand diesen aufgeblasenen Klugscheißer einfach zum Kotzen. Als Schröer auch noch hinzufügte, das käme durch die Saugwirkung infolge vakuumähnlichen Umstands im Pistolenlauf, musste Schreiner seine Hände ganz fest in die Manteltaschen stecken.

    Die Details der Tötung des Opfers waren in dem späteren Bericht des Gerichtsmediziners mit geradezu philologischer Akribie aufgeführt worden, und es drängte sich den Beamten der Kripo der Verdacht auf, dies solle darüber hinwegtäuschen, dass man über den Tathergang, das Motiv und den Täter eigentlich nicht das Geringste wusste. Der junge Mann tauchte in den Vernehmungsprotokollen der Kripo überhaupt nicht auf. Ihn hatte nämlich niemand registriert.

    Der Tote war von Passanten vor der Ladentür gefunden worden; eine zähflüssige Blutspur führte von seinem Kopf über die Fliesen der zur Straße leicht abfallenden Passage und zerlief im Regen, der sich in kleinen Pfützen auf dem Bürgersteig sammelte.

    Die ersten Ermittlungen der Beamten hatten letztlich kaum etwas gebracht. Der Mann war offensichtlich nicht beraubt worden; sämtliche Papiere und eine erhebliche Geldsumme befanden sich noch in seinem Mantel. Auch der Schlüsselbund lag noch vor der Ladentür.

    Verblüffend war auch, dass niemand die Schüsse gehört hatte. Eine Waffe von dem Kaliber hätte in der Passage einen Höllenlärm machen müssen. Der Täter musste einen Schalldämpfer benutzt haben.

    Der Ermordete hatte in dem Haus gewohnt, in dessen Erdgeschoss er ein Herrenbekleidungsgeschäft hatte. Die Nachbarn kannten ihn kaum. Der Mann war seit eineinhalb Jahren von seiner Frau geschieden. Das wussten rstaunlicherweise alle Nachbarn.

    Lediglich die Vernehmung der Ex-Frau des Ermordeten schien Hauptkommissar Schreiner etwas gebracht zu haben. Was, das wusste er allerdings selber nicht genau zu sagen: Sie hatten sich vor eineinhalb Jahren in beiderseitigem Einvernehmen scheiden lassen, weil sie beide das Gefühl hatten, sich in ihrer Entwicklung nur noch zu behindern. Kinder hatten sie nicht. Der Mann hatte den Laden weitergeführt, und die Frau hatte ihren Beruf als Lehrerin nie aufgegeben. Sie hatte durch seinen Tod keinerlei Vorteil, sie wusste nicht einmal, wer ihren Mann beerben würde. Feinde hatte er ihres Wissens nicht gehabt, aber sie kannte seinen jetzigen Bekanntenkreis nicht und legte ganz ausdrücklich auch keinen Wert darauf. Sie hatten kaum noch Kontakt zueinander gehabt, sie hatten zueinander gestanden wie zwei alte Bekannte. Man hatte dem anderen alles Gute gewünscht, aber es hatte keinen Grund gegeben, sich öfters zu treffen.

    Immer wieder überflog Schreiner am frühen Nachmittag seine Notizen von der Vernehmung der Frau. Seine Stimmung war schlecht. Das war es alles nicht, was er meinte. Man musste zwischen den wenigen Zeilen lesen. Die Frau hatte irgendetwas über ihren Ex-Mann nicht gesagt. Irgendetwas Wichtiges.

    Die Quintessenz der Berichterstattung in der lokalen Presse war das Erstaunen darüber, dass so etwas am helllichten Tag mitten in der Stadt unbemerkt passieren konnte. Für die meisten Leute bedeutete dieser Mord eine spannende Abwechslung bei der morgendlichen Lektüre der Zeitung. Als Zeitungsstory aber blieb dieses Geschehen den meisten Leuten völlig gleichgültig.

    Doch das sollte sich noch ändern.

    Nur vier Tage nach dem Mord auf der Brückstraße wurde an der Ruhr-Universität ein junger Mann erschossen. Die Ausführung der Tat ließ kaum einen Zweifel daran, dass dieses Opfer von der gleichen Person erschossen worden war, die auch den Mord in der Brückstraße verübt hatte. Der junge Mann war durch Schüsse in Kopf und Unterleib getötet worden. Die Untersuchung der Projektile aus beiden Mordfällen beseitigte schließlich alle Zweifel: Beide Morde waren mit ein und derselben Waffe verübt worden. Und bei dieser Waffe handelte es sich um eine Sig-Sauer, eine Waffe, mit der auch die Polizei in Nordrhein-Westfalen ausgerüstet ist. Das besagte natürlich gar nichts, es war nur ungewöhnlich.

    Ungewöhnlich, geradezu unfassbar, war vor allem aber etwas anderes: Der Täter hatte den Mord während einer Vorlesung in einem Hörsaal begangen, in dem fast 150 Menschen anwesend waren. Dass zunächst niemand die Tat bemerkt hatte, blieb Hauptkommissar Schreiner lange Zeit ein Rätsel, das man aber immerhin noch erklären konnte. Dass der Täter mit einer derartigen Dreistigkeit vorging, das machte ihm Angst. Zum ersten Mal wurde von einem Verrückten geredet.

    Allerdings konnten eine ganze Reihe von jungen Leuten nun eine sehr genaue Beschreibung einer Person geben, die neben dem Ermordeten gesessen und sich vor der Veranstaltung sogar mit ihm unterhalten hatte. Noch am gleichen Tag kamen zwei Beamte des Landeskriminalamtes aus Düsseldorf und fertigten mit dem Minolta-Verfahren ein Portrait dieses Mannes an, und schließlich waren sich alle Zeugen einig. Genau so hatte der junge Mann ausgesehen: Mitte 20, 170 bis 175 groß, in der Mitte gescheitelte dunkle Haare, halblang, die Ohren bedeckt, ein schmaler Mund und ein Oberlippenbart.

    Dieses Phantombild erschien am Donnerstag, dem 9.Mai 1985, zum ersten Mal in der Zeitung. Trotz der Saure-Gurken-Zeit beließ es die Presse bei der sachlichen Darstellung der polizeilichen Informationen: Es bestand der dringende Verdacht, dass der Mord auf der Brückstraße und der an der Uni zusammenhingen; das Foto zeigte den mutmaßlichen Mörder.

    4

    Essen ist die fünftgrößte Stadt der Bundesrepublik. Maßgeblich für eine solche Zuordnung ist allein die Einwohnerzahl. Außerdem nennt Essen sich gerne Herz des Ruhrreviers.

    Essen die Einkaufsstadt prangt einem auf riesigen Lettern entgegen, wenn man den Hauptbahnhof verlässt, und genau so sieht die Innenstadt auch aus. Alles ist auf die Sorte Mensch zugeschnitten, die sich auf ein Dasein als Konsument reduzieren lässt.

    Für das Herz des Ruhrreviers scheint das zu reichen. Es ist ein chaotisch zubetoniertes Herz, und der angebliche Stolz der Essener, das neue Rathaus, darf nicht nur für sich in Anspruch nehmen, das höchste in Deutschland zu sein. Es ist mit Sicherheit auch das hässlichste.

    Geht man donnerstags-, freitags- oder samstagsabends vom Eingang des Hauptbahnhofs nach rechts entlang des Bahndamms über die zumeist wie ausgestorben wirkende Hollestraße in Richtung Steelerstraße, so kann man fast sicher sein, dass 80 Prozent der Männer, die einem begegnen, Schwule sind, die zwischen dem Hauptbahnhof und den beiden Schwulenkneipen auf der Hollestraße und der Steelerstraße hin- und herpendeln.

    Es war ein ungewöhnlich warmer Samstagabend im Mai. Da für die meisten Menschen das Wochenende anscheinend in irgendeiner Weise die unerträglichen Arbeitstage vergessen machen muss, war auf den Straßen noch einiges los. Kurz vor Mitternacht kamen aus der Richtung Steelerstraße zwei nicht ganz nüchterne Männer langsam den Weg in Richtung Hauptbahnhof herauf. Sie gingen Arm in Arm, und unter jeder der den Bürgersteig beleuchtenden Neonlampen blieben sie stehen und küssten sich. Aber das schien niemanden zu interessieren.

    Wie sich nur wenig später herausstellen sollte, schien das aber nur so: Sie hätten gerade das auf der rechten Seite liegende Grundstück eines Autoverleihs hinter sich gelassen, als Bernd gesagt habe, er müsse mal. In Höhe der Tankstelle hätten sie dann beide in das den Bahndamm begrenzende dichte Gebüsch gepinkelt. Mittendrin habe dann plötzlich jemand Bernds Namen gerufen. Bernd habe nur kurz Ja gesagt, sei aber noch nicht fertig gewesen, und der Unbekannte habe nochmals Bernds Namen gerufen. Da hätten sie sich dann einen Spaß daraus gemacht, sich mit offener Hose umzudrehen und auf den Bürgersteig zu pinkeln.

    Der Unbekannte habe vor der weißgekachelten Wand der Tankstelle gestanden, dicht hinter ihm sei eine Lampe gewesen, so dass sein Gesicht nicht zu erkennen war. Auf jeden Fall sei er aber dunkelhaarig, habe einen Schnäuzer und sei ungefähr 1,70 groß. Er habe dann noch einmal Bernds Namen gesagt, oder eigentlich eher gefragt, so als habe er sich Sicherheit verschaffen wollen. Dann habe er aus der Tasche die Pistole gezogen und geschossen. Georg sei vornüber auf das Pflaster gekippt und habe grässlich gestöhnt. Ganz ruhig sei der Unbekannte zu ihm gegangen und habe ihn dann aus nächster Nähe in den Kopf geschossen.

    Das war zunächst alles, was der Überlebende der beiden Männer den Beamten der Kripo an Ort und Stelle erzählen konnte. Der Mann war völlig verstört, er konnte alles das nicht begreifen: Der Unbekannte hatte ihm selber gar nichts getan, es war, als wäre er für den Unbekannten gar nicht da gewesen. Er konnte auch nicht sagen, wie lange das alles gedauert hatte. Alles sei so schnell gegangen, aber dabei habe der Unbekannte sich nicht etwa beeilt oder sei irgendwie hektisch gewesen: Das sei überhaupt das Schlimmste gewesen, diese Ruhe des Mörders. Geflüchtet, oder besser weggegangen sei der Mann in Richtung Bahndamm; er sei in das Gebüsch gegangen und die Böschung hochgelaufen. Die Beamten des Erkennungsdienstes sollten später die Spuren des Täters im lockeren Boden der Böschung auch schnell finden; sie nahmen Abdrücke davon und wussten seither, dass der Täter die Schuhgröße 43 hatte. Mehr wussten sie nicht, denn oben war die Spur dann im Gewirr der Gleisanlagen des Hauptbahnhofs verschwunden.

    Es war, wenn man so will, ein Glücksfall, dass an diesem Samstagabend gerade dieser junge Beamte, Klaus Bergermann, K-Wache hatte. Er war vom 1.K., zuständig für Kapitalverbrechen, war mit seinen 28 Jahren einer der jüngsten Kommissare weit und breit - zumindest behauptete er das seit mittlerweile zwei Jahren - und war im vollen Bewusstsein seiner Verantwortung mit zitternden Knien zum Tatort gefahren, in der Hoffnung, dass die wichtigeren Kollegen, vor allem der Leiter des 1.K., auch an einem Samstagabend nicht unauffindbar sein konnten; eine Hoffnung, die von Minute zu Minute geringer wurde und den Berg heißer Kohlen, auf dem der junge Kommissar saß, wachsen ließ. Irgendwann wollte er selber in der Hierarchie der lebenslänglichen Ordnungshüter soweit oben stehen, dass das Fällen wichtiger Entscheidungen nicht mehr solche Magenbeschwerden verursachte.

    Und für sein Weiterkommen tat er viel: Deshalb wusste er, vielleicht als einziger, von den drei Morden in Dortmund und Bochum, wusste von den Besonderheiten dieser drei Morde und schloss deshalb sofort, dass der Psychopath wieder am Werk gewesen war. Aber das Fällen von Entscheidungen ist eine ganz andere Sache als das Informiertsein; und dafür glaubte er sich in der Hierarchie noch zu weit unten. In seiner bisherigen Laufbahn bei

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