Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

SKYDANCER: Niemand spielt eine Rolle
SKYDANCER: Niemand spielt eine Rolle
SKYDANCER: Niemand spielt eine Rolle
eBook256 Seiten3 Stunden

SKYDANCER: Niemand spielt eine Rolle

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Walter Müller ist ein Niemand. Ein farbloser Bankangestellter. Elias Lee ist charmant, gutaussehend und der Chef eines erfolgreichen Verlags.
Eine zufällige Begegnung am Flughafen beschert dem Bankangestellten Walter Müller das aufregende Leben von Elias Lee. Obwohl die beiden unterschiedlicher nicht sein könnten, scheint niemand den Identitätentausch zu bemerken. Auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser verwirrenden Situation entdeckt Walter, dass im Verlag seltsame Dinge vor sich gehen. Kann er, der biedere Bankangestellte, als Elias Lee dessen Probleme im Verlag lösen? Und wieso bemerkt niemand, dass er nicht der ist, für den ihn alle halten?
Michelle Reznicek ist Autorin und Artistin. In der Zeit zwischen Schreiben, Proben und Auftritten widmet sie sich den grossen Fragen des Lebens wie:
Was macht den Menschen einzigartig?
Der vorliegende Roman nähert sich dem Thema auf eine traumtänzerische Weise.
SpracheDeutsch
Herausgeberboox-verlag
Erscheinungsdatum17. Nov. 2021
ISBN9783906037455
SKYDANCER: Niemand spielt eine Rolle

Ähnlich wie SKYDANCER

Ähnliche E-Books

Action- & Abenteuerliteratur für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für SKYDANCER

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    SKYDANCER - Michelle Reznicek

    Prolog

    Jeden Tag gehen die Menschen aneinander vorbei. Jeder für sich. Eine gesichtslose Menge, die ineinander verschwimmt. Ein Meer von Stimmen und Lärm.

    Wenn man den gehenden Gestalten so zusieht, fragt man sich unvermittelt, worüber sie wohl nachdenken, wenn sie auf ihre Handydisplays starren oder mit einem leeren Blick durch die Welt gehen, scheinbar ein fernes Ziel vor Augen.

    Man fragt sich, ob sie je einmal aufschauen, um zu sehen, dass eine Welt um sie herum ist. Ob sie die Bewegungen um sich herum wahrnehmen?

    Es scheint, sie verfolgen schlafwandlerisch eine unsichtbare Linie auf dem Boden. Einen vorgezeichneten Weg. Wer bestimmt ihr Gehen? Wer gibt dem Chaos Sinn? Und was geschieht, wenn sie einmal aufsehen? Erwachen sie aus einem Traum? Erkennen sie? Werden sie erkannt werden? Mitten im Rauschen des Menschenseins, den tausend anderen?

    Es ist eine Welt voller Walter Müllers. Menschen wie jedermann. Kaum voneinander zu unterscheiden. Und dann gibt es sie, sie, die besonders sind – sie, die aufsehen. Er, der Elias Lee.

    Aufgetaucht

    aus dem Meer, der Walter Müller – Elias Lee.

    Ein Mann namens Walter Müller

    Saturday International Bank, verkündeten die grossen goldenen Lettern stumm über dem Eingang der Bank. Gleich hinter der Schiebetür befanden sich die lebhaft besuchten Schalter, und hinter denen, in einem etwas verborgenen, abgetrennten Bereich, war ein grosses Büro – in dem Treuhandabschlüsse und allerlei andere Transaktionen getätigt wurden.

    Wenn man das Gebäude von der anderen Seite, durch den Mitarbeitereingang, betrat, taten sich zwei Wege auf. Rechts hin zu den Schaltern, von denen meist nicht alle besetzt waren, und links hin zum separierten Grossraumbüro.

    Es waren sieben oder acht Büroboxen, die sich in dem grossen Raum befanden, alle fast identisch, mit ihrem dunklen Grau etwas eingeschränkt wirkend und sich nur durch vereinzelte Bilder unterscheidend, die der aktuelle Besitzer an die Trennwand gepappt hatte. Hier gingen die Bilder der Neugeborenen mit der Zeit über in die Bilder von Teenagern und Abiturienten. Haustiere wurden mit der Zeit ersetzt, und Bilder des vergangenen Urlaubs wechselten die Saison. Manchmal hingen da Bilder von Menschen mit Skiern und Sonnenbrille, mal Pyramiden. Eine Art Leinwand für das vorbeiziehende Leben.

    Nicht immer waren die Büroplätze alle besetzt. Manche von den Bankangestellten waren an den Schaltern, wenn jemand eine besondere Auskunft wünschte, oder sie waren in Besprechungen. Manche waren am Kopieren irgendwelcher Dokumente oder suchten Papier als Nachschub für das Kopiergerät, was beides nicht unbedingt nötig war, denn jedes Dokument war hier so oft kopiert und abgespeichert, dass es selbst mit Absicht kaum vernichtbar gewesen wäre.

    In der ersten Bürobox, in die man vom Korridor herkommend hineinblickte, sass ein junger Mann mit Brille, das Haar kunstvoll zerzaust. Sein Gesicht war nur vom Licht des Computerbildschirms erleuchtet, das sich in seinen Brillengläsern spiegelte, als wäre seine Brille selbst ein Bildschirm. In der gleichen Box, ihm vis-à-vis, sass eine Frau, fast in derselben, seltsam steifen Position verharrend.

    Gemeinsam sahen sie aus wie eine merkwürdige Variante der Werbung «Für Sie und Ihn». Doch niemand bemerkte diese Analogie.

    Ganz auf der rechten Seite des Grossraumbüros, etwas versteckt, befand sich eine ganz bestimmte Bürobox, in der ein Mann sass. Er war nicht besonders auffällig. Genauer gesagt, schien er ausgesprochen langweilig. In der Regel übersah oder bemerkte man ihn überhaupt nicht. Man hätte ihn gut und gern mit hundert anderen von der Strasse verwechseln können. Ehrlich gesagt, nicht einmal er selbst bemerkte sich wirklich. Er war etwas dicklich, hatte angegrautes, strähniges Haar und trug ein weisses Hemd, dass er aus irgendeinem Grund in eine ziemlich hässliche Gummizughose gestopft hatte. Seine Haut war käsig, und er wirkte kränklich. Man schätze ihn gerne auf Mitte fünfzig, dabei war er gerade erst vierzig geworden. Er war kein besonders angenehmer Mensch, auch kein unangenehmer, doch niemals der Mensch, auf den man gerade gehofft oder gewartet hatte. Er war ziemlich langweilig und generell langsam. Insgesamt ein Mann, den kaum einer wirklich sah und über dessen einzigen geschmacklosen Witz schon lange niemand mehr lachte. Seine Augen waren grau und glanzlos. Nur manchmal war da ein berechnender Blick. Distanziert und kühl irgendwie.

    Auf dem Schild auf seinem Schreibtisch stand sein Name: «Walter Müller». Was ebenso nichtssagend war wie ein ausgeschalteter Fernseher. Denn das Schild schien wenig aussagekräftig: Walter wurde fast genauso oft Werner genannt wie Walter. Oder Meier statt Müller. Walter selbst hatte schon längst aufgehört, das zu korrigieren. Es kam ihm nicht so wichtig vor, ob es nun Werner oder Walter war, Meier oder Müller. Ebenso gut hätte auf dem Schild Werner Meier stehen können. Es wäre nicht einmal gross aufgefallen. Einfache Namen verwechselte man nun mal leichter.

    Um achtzehn Uhr war Feierabend, und die Schalter schlossen. Die Mitarbeiter verabschiedeten sich voneinander und machten sich einzeln oder in kleinen Gruppen auf zu den Mitarbeiterparkplätzen, um nach Hause zu fahren.

    Um achtzehn Uhr zehn fuhr Walter seinen Computer herunter, ging aus der Tür und zu seinem Auto, das auf dem Parkplatz mit der Nummer 213 stand.

    Seit nun fast zwanzig Jahren stand sein Auto auf demselben Platz. Einmal, ganz am Anfang, hatte er einen anderen Parkplatz gehabt: die Nummer 18. Doch nur gerade mal zwei Wochen – dann wurde der Platz einem Kollegen zugeteilt.

    Ja, seit zwanzig Jahren arbeitete Walter Müller in dieser Bank. Seit zwanzig Jahren hatte er immer dasselbe getan: Er stand um sechs Uhr auf, fuhr zur Arbeit, sass an seinem Schreibtisch und tat seine Arbeit, die um achtzehn Uhr zehn in der Regel ihr Ende fand. Danach fuhr er nach Hause. Er stand immer im Stau, was seinen Arbeitsweg unverhältnismässig verlängerte, doch er dachte nicht darüber nach. Zirka um neunzehn Uhr fünfzehn kam er zuhause am Langustinen Weg 12 an. Er ging die drei Treppenstufen hinauf, knipste das Licht für aussen an und trat schliesslich in die Dunkelheit hinter der Tür.

    Seit zwanzig Jahren war es so. Jeden Tag, wie ein Uhrwerk. Doch niemand bemerkte es. Nicht einmal der automatische Terminkalender der Geschäftsleitung erinnerte daran, dass Walter Müller seit nunmehr genau zwanzig Jahren in dieser Bank arbeitete. Hätte jemand daran gedacht, wären seine Kollegen vielleicht mit einer Flasche Sekt aufgetaucht und hätten ihm gratuliert, ihnen war jede Unterbrechung des gewöhnlichen Alltags recht. Und wenn es nur dafür war, um auf zwanzig belanglose Jahre mit einem billigen Sekt anzustossen. Selbst Walter Müller bemerkte es nicht. Er legte sich genau um einundzwanzig Uhr achtzehn ins Bett, schloss die Augen und dachte an nichts.

    Doch der nächste Morgen hielt etwas Neues für Walter Müller bereit. Nach nunmehr zwanzig Jahren verlässlichen, präzisen Klingelns um sechs Uhr morgens blieb Walter Müllers Wecker stehen.

    Endgültig.

    Er verstummte so gründlich und für immer, dass Walter Müller erst mit zwei Stunden Verspätung die Augen aufschlug, als ein lauter Knall von der benachbarten Baustelle die Stille zerschlug.

    Mit dem vagen Gefühl, länger geschlafen zu haben als sonst, warf Walter einen Blick auf den Wecker, der noch immer vierundzwanzig Uhr drei anzeigte – die exakte Zeit, zu der er stehengeblieben war. Das Telefon, das nicht unweit vom Bett an einem Kabel hing, sprach allerdings eine andere Sprache.

    Sein Herz tat einen sehr schmerzhaften Schlag. Mit einem angestrengten Keuchen sprang Walter aus dem Bett. So schnell es sein untrainierter Körper erlaubte, packte er seine Kleider und seine Tasche. Gründlich und sehr schmerzhaft stiess er sich seinen Zeh an einem Stuhl, als er versuchte, so schnell wie möglich aus seinem Schlafzimmer zu kommen. In seinem Kopf wummerte nur eine Information: Er hatte verschlafen – und er hatte in den letzten zwanzig Jahren noch nie verschlafen!

    Stöhnend humpelte er die Treppe hinunter, riss die Haustür auf und rannte zu seiner Garage, ohne das Aussenlicht auszuschalten. Er schloss die Autotür auf. Der Gedanke, dass sein Auto sehr bald in den jährlichen Service musste, schoss ihm durch den Kopf, doch er verdrängte den lästigen Gedanken, drehte den Schlüssel herum und fuhr los.

    Pünktlich zum Mittagessen kam er bei der Arbeit an. Niemandem war seine Abwesenheit wirklich aufgefallen. Seine Kollegen amüsierten sich ein wenig über seinen panischen Gesichtsausdruck, besprachen aber dann weiter ihren Plan, heute zur Abwechslung für das Mittagessen zum Flughafen zu fahren. In der Regel assen sie alle gemeinsam. Ihre Mittagspause war sehr kurz und erlaubte keine langen Ausflüge. Aber heute hatten sie Zeit und Lust auf ein Abenteuer.

    Die Idee wegzufahren gefiel Walter nicht.

    Ihr Stammlokal lag auf der anderen Strassenseite. Eine mittelprächtige, keiner bestimmten Nationalität angehörende Beiz, die weder besonders gut noch besonderes schnell kochte, doch sie lag gleich gegenüber, und sie kannten die etwas ältere Bedienung beim Vornamen. Das Tagesgericht änderte täglich, und es gab einen kleinen Nachtisch dazu.

    Wenn einer von ihnen mal wieder Abwechslung wünschte, dann gingen sie – ein gewagtes Unterfangen – zum Chinesen, zwei Strassen weiter. Die Gerichte waren mehr oder weniger immer dieselben, und die Bedienung kannte sie bereits, doch sie war nicht gewillt, beim Vornamen genannt zu werden. Ausserdem war es dort immer zu laut, und niemand verstand so genau, was das Personal sagte. Nicht einmal dann, wenn sie deutsch sprachen.

    Wieso also wegfahren?

    Der Aushang mit der Information, dass sie an diesem Nachmittag freihatten, hing an der Eingangstür des Büros. Walters Blick fiel darauf. Er war schon eine Woche dort und verkündete jedem (der ihn las), dass sie an dem Nachmittag dieses Tages freihaben würden. Die Reparatur einer defekten Stromleitung verschaffte ihnen die freie Zeit und Walter die Erkenntnis, dass er vollkommen umsonst zur Arbeit gefahren war. Er hatte den Ausfall schlicht vergessen.

    Die Abenteuerlust ging weiter in der Belegschaft um, und bald fand er sich mit drei seiner Kollegen in seinem Auto auf dem Weg zum Flughafen wieder. Wie immer, wenn er überrascht wurde, reagierte er langsamer als sonst, daher war es ihm nicht eingefallen, einfach wieder nach Hause zu fahren. Ausserdem hätte seinen Kollegen dann eine Mitfahrgelegenheit gefehlt.

    Während der Fahrt zum Flughafen diskutierten sie, welches der vielen Restaurants sie im Flughafen besuchen wollten. Zur Debatte stand aktuell: McDonald’s, Fish and Chips, Thailändisch und, aus irgendeinem merkwürdigen Grund, Chinesisch. Als ob der eine Chinese was anderes servieren würde als der andere Chinese.

    Der Flughafen war natürlich rappelvoll. Ein Gewirr von Menschen, Kindern und Koffern, Shoppingbegeisterten und Flugpersonal, Kindergeschrei, lautes Lachen und laut hallende Flughafendurchsagen. Die Diskussion über das passende Restaurant war immer noch im Gang. Inzwischen waren die Hauptoptionen: Italienisch, Chinesisch und – mit einem einzelnen Fürsprecher – Griechisch, doch niemand wollte sich den käsegefüllten Weinblättern anschliessen. Überall war es überfüllt, und schliesslich warteten sie fast eine halbe Stunde auf einen kleinen Plastiktisch, der zu fünf verschiedenen Restaurants gehörte. Gespräche waren so gut wie unmöglich, während sie sich bemühten, sich gegenseitig nicht mit den Ellenbogen zu stossen. Walter sass da, hielt seine Plastikgabel und sein Plastikmesser krampfhaft fest und stocherte in italienischen Nudeln mit Käsesauce.

    Im Gewirr der lauten Stimmen und Geräusche war kein Gespräch richtig zu verstehen. Doch manchmal erhob sich ganz deutlich ein bestimmtes Wort über den Lärm hinweg. Ganz klar zu verstehen. Was war an diesem einen Wort so besonders, so einzigartig, dass es sich über alle hinweghob? Vielleicht waren diese Worte Teile grosser Fragen, grosser Fragen, die sich alle stellten. Vielleicht hörte man sie darum heraus.

    «Wer sind wir?»

    «Woher kommen wir?»

    «Wohin gehen wir?»

    «Wer bin ich?»

    «Bin ich einzigartig?»

    «Tschüss dann mal!», rief der erste von Walters Kollegen nach kaum zwanzig Minuten. «Ich muss noch wohin!», er grinste vielsagend und entfernte sich.

    Bald ging auch schon der nächste, und ehe es sich Walter versah, fand er sich alleine wieder an dem kleinen Tisch inmitten des Flughafenlärms. «Mach’s gut, Walter», sagte jemand.

    Langsam stand Walter auf und ging los in Richtung der Parkdecks. Er war erleichtert darüber, dass er mit seinem eigenen Auto gekommen war. Er durchquerte die Halle, eilte durch die Korridore und liess endlich den Lärm und das Gedränge hinter sich. Ein ziemlich grosser Mann ging mit einem ziemlich grossen Gegenstand in den Händen an ihm vorbei. Walter drehte den Kopf im Gehen, um zu sehen, was es war. Da prallte er mit voller Wucht in einen fremden Körper, der scheinbar aus dem Nichts gekommen war. Eine orange Flüssigkeit ergoss sich über sein weisses Hemd, und er fiel beinahe hin. Torkelnd gelang es ihm, Halt an einer Wand zu finden. Dann erst blickte er auf, um zu sehen, was überhaupt passiert war. Der Fremde, mit dem er kollidiert war, kniete nun auf dem Fussboden.

    Er trug einen sehr schicken schwarzen Anzug, der perfekt und tadellos auf seiner fast schon etwas zu schlanken Figur sass. Gerade stützte sich der Fremde auf seine ebenso schicke Tasche, um wieder aufzustehen. Unter den goldblond gesträhnten, glänzenden Haaren hervor blickten ein paar erstaunte, graublaue Augen Walter entgegen. Das Gesicht des Mannes war ebenso attraktiv wie seine übrige Erscheinung. Der makellose Teint wurde durch die graublauen, leuchtenden Augen, umrahmt von langen Wimpern, noch betont. Er sah aus, als wäre er gerade vom einem Laufsteg gefallen.

    Orangensaft und Café

    «Entschuldigen Sie bitte.» Er lächelte zerknirscht, stand wieder aufrecht und glättete seinen Anzug mit den Händen. «Ich habe Sie übersehen.»

    Seine Stimme klang klar und melodisch. Er wischte sich mit der schlanken Hand eine vorwitzige Locke aus der Stirn, die gleich wieder zurückfiel.

    «Ich war etwas in Eile. Mein Flug, Sie verstehen schon, am Ende ist man dann immer doch ein wenig zu spät.» Er liess ein schönes, perlendes Lachen hören.

    Ich erwiderte nichts.

    Er deutete auf mein Hemd. «Das tut mir wirklich leid. Ich schulde Ihnen wohl ein frisches Hemd», dann hob er die Hand und winkte leicht mit einem leeren Plastikbecher, « … und Sie mir einen Orangensaft», scherzte er.

    Zustimmend nickte ich, brummte etwas und wollte auch schon an ihm vorbeigehen, da fasste er meinen Ellenbogen.

    «Ach, herrje! So kann ich Sie doch nicht auf die Strasse lassen!» Seine Augen schauten erstaunt.

    Er musterte mich einen Moment eingehend, währenddessen ich mich immer unwohler zu fühlen begann. Es war, als würde jemand meine Haut mit Nadeln traktieren. Er überraschte mich mit dem Satz: «Ich habe ein Hemd im Koffer, das könnte ich Ihnen ausleihen.»

    Ich starrte ihn ungläubig an. «Ich …», räusperte ich mich, meine Stimme schien eingerostet, «… ich glaube nicht, dass mir das passen könnte», brachte ich schliesslich hervor.

    Vergnügt gluckste er, den Wink verstehend. «Wenn es Sie beruhigt, es ist von einem Freund von mir. Er hat eine etwas, sagen wir, stattlichere Figur. Es könnte Ihnen meiner Meinung nach gut stehen.»

    «Hatten Sie es nicht eilig?», versuchte ich mich herauszureden.

    «Auf meinem Handy habe ich gerade gesehen, dass mein Flug Verspätung hat – darum bin ich auch in Sie hineingerannt.» Er hob die andere Hand, um zu beweisen, dass er sein Handy in der Hand hielt. «Dumm von mir, gleichzeitig zu rennen und zu lesen», meinte er verschmitzt lächelnd. Sein Lächeln war so perfekt und kokett, dass ihm in diesem Moment jeder alles verziehen hätte. Niemand hätte ihm böse sein können.

    Eigentlich wollte ich mich schnellstmöglich aus dem Staub machen, doch er liess kein Nein gelten. Flugs hatte er mich herumgedreht, mir das Hemd, welches er bereits aus seiner schicken Tasche gezogen hatte, in die Hände gedrückt und mich damit in eine Herrentoilette geschoben. Ihm konnte man schlecht irgendetwas abschlagen, dachte ich, während ich nun doch das fremde Hemd anzog. Ich mochte es nicht. Es war aus einem edlen Stoff und anders geschnitten als meine eigenen Hemden. Unwillkürlich stellte ich mir den eigentlichen Besitzer vor und fand keine Gemeinsamkeiten mit mir.

    Wieder zurück, zupfte ich unentwegt an den Ärmeln des geborgten Hemdes herum und fühlte mich ziemlich unwohl darin.

    Der schöne Fremde hatte sich derweilen an die Wand gelehnt. Er hielt sein Handy in der Hand, als überlege er zu telefonieren. Seine Gepäckstücke standen um ihn herum, als warteten sie auf eine weltverändernde Rede. Wären sie fähig gewesen zu hören, wären sie gewiss nicht enttäuscht worden. Er war genau der Typ Mann, der die Welt veränderte.

    Als er mich aus der Toilette kommen sah, strahlte er mich an, als hätte er den ganzen Tag nur auf mich gewartet. Eine Eigenschaft, die andere an ihm lieben mussten.

    «Das Hemd steht Ihnen gut.» Er verstaute das Handy in seiner Tasche.

    Verlegen zupfte ich an meinen Ärmeln.

    Er streckte mir seine Hand entgegen. «Guten Tag übrigens, ich bin Elias Lee.»

    Das Licht des Tages fiel hinter ihm durch das Fenster, als würde es ihn persönlich bescheinen. Er war aussergewöhnlich, besonders, auf eine unbegreifliche Art. Seine Hand fühlte sich kühl an.

    «Walter Müller», stellte ich mich ebenfalls vor.

    «Kommen Sie. Nach diesem Schreck lade ich Sie auf eine Tasse Kaffee ein. Vom Orangensaft habe ich erst einmal genug – bis zu dem im Flugzeug natürlich.» Er lächelte selbstironisch.

    Wir setzten uns in das nächste Café. Ich mochte sie nicht, diese Kaffeeketten, mit den ewig langen Listen von Kaffeespezialitäten, die mich ganz benommen machten und bei denen man dann doch nicht wusste, wie man einen ganz normalen, schwarzen Kaffee bestellen konnte. In solchen Cafés sah ich immer nur junge geschwätzige Leute, die englisch sprachen, am Computer arbeiteten, oder Teenager, die aufgeregt tuschelten. Wenn ich je ein solches Café betreten hatte, dann nur um gleich wieder umzudrehen. Der Name dieser Kette wollte mir nie einfallen. Jetzt entdeckte ich ihn – spiegelverkehrt am Fensterglas. «Starbucks», hiess es da.

    Derweil stand Elias Lee in der Schlange am Tresen und bestellte. Er hatte gefragt, was ich wollte, und als ich ihm nicht antworten konnte, war er sofort dazu bereit, etwas für mich auszuwählen.

    Kaum dass er angestanden war, hatte man ihn auch schon zur Kasse vorgelassen, wo er einer Dame die Herkunft der Kaffeebohnen erklärte und damit Verkäuferin und Kunden gleichermassen unterhielt. Unter beifälligem Gelächter und mit einem gratis Muffin kam er einen Moment später zurück an unseren Tisch.

    «Ich hoffe, Sie mögen Lemon-Muffins?», lächelte er und stellte Kaffee und Muffin vor mich auf den Tisch.

    Während ich auf den Becher starrte, den er mir gebracht hatte, setzte er sich. Obwohl er mir erklärt hatte, was er mir bestellen würde, konnte ich mich nicht mehr daran erinnern. Das Getränk sah jedenfalls aus wie Kaffee – schlammbraun.

    «Walter?»

    Überrascht zuckte ich zusammen und blickte auf zu Elias Lee, der mir gegenübersass und das Kinn auf seine gefalteten Hände stützte.

    «Woran denken Sie?»

    Ich konnte mich nicht erinnern, wann man mir diese Frage zuletzt gestellt hatte. Zugleich ärgerte ich mich über sie. Schliesslich ging es niemanden etwas an, woran ich dachte. Doch etwas an seinem Blick, an seinen grauen, fast kühlen Augen, gemahnte mich, nicht unhöflich zu reagieren.

    «An nichts», sagte ich platt. «Ich habe vergessen, welchen Kaffee Sie mir

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1