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Obscurus: Am Rand der Wirklichkeit
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eBook425 Seiten6 Stunden

Obscurus: Am Rand der Wirklichkeit

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Über dieses E-Book

Willkommen am Rand der Wirklichkeit...

Als Thomas Holden das verblichene Foto einer jungen Frau in seinem Briefkasten vorfindet, ist er sofort fasziniert von der fremden Schönen, die aus einem anderen Jahrhundert zu stammen scheint.

Immer mehr zieht ihn das Foto in den Bann, er wird von Visionen und Kopfschmerzen geplagt, bis er schließlich einen Mann trifft, der ihm anbietet, die Fremde kennenzulernen. Thomas willigt ein, obwohl er davon überzeugt ist, dass die Frau schon lange tot ist.

Zu spät bemerkt er, dass er einen teuflischen Handel eingegangen ist, der nicht nur ihn selbst, sondern alle Menschen, die ihm etwas bedeuten, in Lebensgefahr bringt. Die dunklen Geheimnisse seiner eigenen Vergangenheit ziehen ihn immer tiefer in einen Strudel aus Rache und Tod.

Thomas muss sich entscheiden: Ist er bereit, seine eigene Seele zu opfern, um eine andere zu erlösen?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Aug. 2016
ISBN9783738080490
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    Buchvorschau

    Obscurus - Marc Wulfers

    Prolog: Die leise Angst

    Er erwachte mitten in der Nacht und spürte kalten Schweiß auf seiner Stirn. Sein Blick irrte im Raum umher, bis er schließlich in den Schatten die vertrauen Formen erkannte. Es ist nichts, dachte er. Nur ein Traum. Er ließ sich in die Kissen zurücksinken und lauschte den Atemzügen der Frau, die neben ihm lag. Sie war in Ordnung, ihr ging es gut. Und ihm ging es auch gut. Doch da war etwas, das diesen Gedanken störte und dafür sorgte, dass er nicht mehr einschlafen konnte. Früher hatte er selten nachts geschlafen. Er hatte nachgedacht, sich das Hirn zermartert und Talisker getrunken, bis er morgens verkatert mit dem Kopf auf seinem Schreibtisch aufgewacht war.

    Aber das war vorbei. Menschen änderten sich, mussten sich ändern, wenn sie überleben wollten. Bei ihm hatte vor allem eines diese Veränderung ausgelöst: Verantwortung. Er wurde wieder gebraucht, und das hatte eine Saite in ihm zum Klingen gebracht, die lange Zeit verstummt war. Zuerst war es nur ein leiser, unsicherer Ton gewesen. Doch mit der Zeit war er kräftiger geworden und hatte schließlich eine Konstanz erreicht, die nur in seltenen Momenten unterbrochen wurde.

    In Momenten wie diesem. Etwas klopfte leise an die Tür und begehrte um Einlass. Er wusste, was es war. Vor einiger Zeit hatte er es selbst ausgesperrt, in der Hoffnung, es zu vergessen. Aber Menschen vergessen selten etwas. Sie verdrängen es nur, so gut es eben geht.

    Er wurde sich der Tatsache bewusst, dass er wieder grübelte. Das war nicht gut, überhaupt nicht gut. Er drehte sich zu der Frau, legte einen Arm um sie und schloss wieder die Augen. In nicht einmal drei Stunden würde er aufstehen müssen. Das hieß, falls ihn das Baby nicht vorher weckte. Das Baby, dachte er, als hätte er seinen Namen vergessen. Seine Hand zitterte leicht, als er damit sanft über die Wange der Frau strich.

    Als er aus dem Haus trat, fühlte er sich gut. Die Sonne schien und es würde ein warmer Tag werden. Die Schatten der Nacht waren hinweggefegt und er verschwendete keinen Gedanken mehr daran. Er hatte seine Frau umarmt, wie jeden Morgen, bevor er zur Arbeit ging. Und er hatte David auf den Armen gehalten. David hatte etwas vor sich hingebrabbelt und ihn dann ernst angesehen. Natürlich hatte das Gebrabbel keinerlei Sinn ergeben, aber die Ernsthaftigkeit, mit der David es äußerte, war verblüffend. Das war ihm bei seinen beiden Töchtern nie aufgefallen. Er dachte an Joan und Tracy, die er am Wochenende wieder in seine Arme schließen konnte. Er war mit ihnen und mit seiner Ex-Frau ins Reine gekommen.

    Als er den Stadtpark durchquerte, hatte er ein Lächeln auf dem Gesicht. Das Leben kann nicht besser, nicht schöner sein, dachte er. Er beobachtete ein paar Hunde, die einem kleinen Ball hinterherjagten. Ein Jogger lief an ihm vorbei und er lächelte ihn an, ohne dass es erwidert wurde. Aber das störte ihn nicht.

    Er überquerte die Dixon Street und sah vor sich die Stadtbibliothek, vor der er einen Augenblick stehen blieb. Erinnerungen wollten sich in seine Gedanken stehlen, aber er kämpfte dagegen an. „Nein", flüsterte er und lief dann mit festem Schritt an dem Gebäude vorbei.

    Im Büro legte er seinen Aktenkoffer auf dem Schreibtisch ab und setzte sich dann in den Bürostuhl. Er sah aus dem Fenster und lächelte. Das Leben kann nicht besser sein, dachte er wieder.

    Am späten Nachmittag kam Jenny, die Sekretärin, in sein Büro, um ihm ein Päckchen zu bringen.

    „Das wurde gerade für Sie abgegeben, Dale."

    Er nahm seinen Blick nicht vom Monitor, sondern sagte geistesabwesend: „Danke, Jenny. Legen sie es da drüben auf den Tisch."

    Jenny tat es und verließ dann eilig das Büro. Früher war er Polizeiinspektor gewesen, doch nachdem das Baby gekommen war, hatte er sich von seiner Frau überreden lassen, diesen Beruf aufzugeben. Das Baby war nicht der einzige Grund, aber es war leichter, sich das einzureden. Was er nun tat, war zwar nur ein langweiliger Bürojob, aber man wusste wenigstens, was man zu tun hatte, alles war vorgegeben und fußte auf reiner Logik; und das Geld, das er verdiente, reichte aus, um seine kleine Familie zu versorgen. Im Grunde hantierte er nur mit Zahlen. Zahlen waren feste Größen und unumstößliche Tatsachen. Je länger er mit ihnen arbeitete, desto sicherer schien ihm auch sein Leben vorzukommen. Als ließe sich das Leben berechnen. Aber ein Teil in ihm wusste, dass man das nicht konnte. Eine leise Angst lauerte ständig in seinem Herzen und wenn er sich ihrer bewusst wurde, arbeitete er umso verbissener, bis ihm nur noch Zahlen im Kopf umherschwirrten.

    Gegen achtzehn Uhr schaltete er den Computer aus und rief seine Frau an, um ihr zu sagen, dass er heim käme, wie jeden Tag. Danach stand er auf, nahm seinen Aktenkoffer in die Hand und wollte das Büro verlassen. Doch unvermittelt blieb er mitten im Raum stehen und betrachtete das Päckchen, das auf dem kleinen runden Tisch lag, der eigentlich keinen Zweck erfüllte. Er stellte den Aktenkoffer auf den Boden und ging hinüber, um das Päckchen zu öffnen. Als er es in Händen hielt, fühlte es sich schwer an. Er hatte keine Ahnung, was darin sein mochte. Der Absender sagte ihm nichts. Dort stand lediglich: R. Huntington, Clifton. Keine Straße oder Postleitzahl. Diese leise Angst stahl sich wieder an die Oberfläche.

    Er drängte sie beiseite. Dann setzte er sich auf die kleine Ledercouch und atmete tief durch, bevor er das Päckchen öffnete.

    Beim Abendessen saß er abwesend am Tisch.

    „Alles in Ordnung, Dale?", fragte seine Frau besorgt.

    Er versuchte sie anzulächeln. „Ja. Mach dir keine Gedanken. Ich bin nur müde."

    Sie blickte ihn eine Zeitlang skeptisch an. Es war schwer, sie anzulügen. „Okay. Ich mache nur noch David fertig, dann können wir uns hinlegen. Vielleicht habe ich etwas, das dich deine Müdigkeit vergessen lässt." Sie zwinkerte ihm zu und nahm dann David auf den Arm, um mit ihm ins Bad zu gehen.

    In dieser Nacht lag er wieder wach und starrte an die Decke. Er dachte an das Päckchen und dessen Inhalt. Das eine war ein Brief gewesen. Das andere sah wie ein Manuskript aus. Im Büro hatte er nur den Brief gelesen. Doch das hatte ihm schon gereicht. Ein Satz daraus ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie werden wissen, was zu tun ist. Er schloss die Augen und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Doch es gelang ihm nicht. Schließlich stand er auf und ging in sein Arbeitszimmer. Er schloss die Tür ab, machte die Schreibtischlampe an und holte den Stapel Papier aus seinem Aktenkoffer. Sein Herz klopfte schneller und seine Hände zitterten leicht, aber schließlich begann er zu lesen.

    Tür eins: Das Foto

    Ich erhielt das Foto am 16. Dezember 2002. Es war Montag und die Woche vor Weihnachten. Zwar hatte ich kaum Geschenke zu besorgen und blieb von den hektischen Einkäufen verschont, aber dennoch steckte mich das typisch hysterische Verhalten der Leute kurz vor Weihnachten an.

    Ich arbeitete in der Stadtbibliothek von Meltray. Ich war kein Bibliothekar, aber dank Mary Stoleham arbeitete ich seit knapp einem Jahr dort, und so wie es damals aussah, würde ich das auch noch eine Weile tun.

    An jenem Morgen war ich zu spät zur Arbeit gekommen. Das hatte den Grund, dass mein Kater (der auf den Namen Igor hörte) irgendetwas mit dem Magen hatte und in der Nacht in sämtliche Ecken meiner Wohnung gekotzt hatte. Auch auf meinem Bettvorleger lag ein schöner Haufen, in den ich fast getreten wäre, als ich schlaftrunken meine Beine aus dem Bett schwang. Also musste ich meine Morgenplanung verwerfen und machte erst einmal die ganze Schweinerei weg. Als ich zur Bibliothek kam, war es nach acht Uhr (normalerweise öffneten wir um acht Uhr). Der kleine Parkplatz vor dem Gebäude war leer, die Lichter hinter den Fenstern brannten nicht und eine kleine Menge wütender Menschen drängte sich am Eingang. Dazu kam noch, dass es schneite, und das schien die Laune der Meute nicht gerade zu bessern. Ich ging auf den Eingang zu und wappnete mich gegen ihre Angriffe. Die meisten Leute kannte ich. Da war Mr. Veltore, der pensionierte Grundschullehrer, in einen dicken braunen Mantel gehüllt, sein kahler Kopf glühte rot, so dass er aussah wie eine kleine, etwas unförmige Stehlampe. Er musterte mich durch seine Hornbrille, als ich näher kam. Er brauchte nichts zu sagen, ich konnte in seinen Augen lesen, was er dachte. Typisch, einfach typisch! Ich friere mir hier den Hintern ab und der Kerl traut sich auch noch, in aller Seelenruhe herüberzuschlendern, als hätte er seinen Spaß daran. Nun, Veltore kannte mich schon seit der Grundschule und seine Meinung von mir war noch nie besonders hoch gewesen.

    Ich sah Rita Marlowe, die sich mit einer Frau unterhielt, die ich nicht kannte. Etwas abseits stand ein Junge mit einem Rucksack, der rauchte. Das war Benny Smith, der vermutlich noch seine Hausaufgaben machen musste, bevor er zur Schule ging. Das heißt, eigentlich machte ich seine Hausaufgaben. Er ging in die neunte Klasse, war nicht gerade eine Leuchte, aber ansonsten ganz in Ordnung. Wir hatten eine Abmachung: Ich half ihm bei den Hausaufgaben, lernte mit ihm, damit er die neunte Klasse irgendwie schaffte, und er gab mir jede Woche ein Päckchen Zigaretten dafür. Als er mich sah, hob er eine Hand und winkte halbherzig. Ich winkte zurück. Es standen noch ein halbes Dutzend andere Leute vor dem Eingang und auf den letzten paar Metern zu ihnen legte ich mir die Worte zurecht, die ich sagen würde, bevor sie mir ihre Vorwürfe entgegen brachten.

    Mr. Veltore wollte seine Fistelstimme gerade erheben, als ich laut und an alle gewandt sagte: „Entschuldigen Sie bitte, dass wir heute später öffnen. Ich werde Sie in Kürze hereinlassen. Nur noch einen Moment Geduld." Ich wartete ihre Fragen nicht ab, sondern kramte den Schlüssel aus meiner Jackentasche, schloss die Haupttür auf und schlug sie hinter mir wieder zu. Von draußen vernahm ich empörtes Gemurmel, aber das war mir einerlei. Zuerst musste ich herausbekommen, was eigentlich los war. Wo waren Martha Timbey und Claudia Hertz, die sonst die Pünktlichkeit in Person waren?

    Ich tastete nach dem Lichtschalter neben der Tür und einen Augenblick später wurde die kleine Eingangshalle von gelbem Licht erhellt, das die billige Kopie eines Lüsters spendete, der in der Mitte der Decke hing. Die Wände waren normalerweise weiß, aber jetzt mit Weihnachtsschmuck behangen: mit lustigen Pappweihnachtsmännern, Rentieren, Schneemännern etc. Ich fand, es sah grauenhaft aus. Aber Martha Timbey bestand nun einmal darauf; wie ein Betrunkener darauf besteht, noch ein Glas Bier zu bekommen, obwohl er es kaum noch halten kann und klar ist, dass er es fallen lassen wird. So sahen auch die Wandbilder aus, die ich gebastelt hatte. Nächstes Jahr würden andere an den Wänden hängen, da war ich mir sicher. In der Mitte der Halle stand ein künstlicher kleiner Weihnachtsbaum, mit Lametta und silbernen und goldenen Weihnachtskugeln behangen. Ebenfalls schrecklich. Ich hätte ihn fast umgerannt, als ich schnellen Schrittes durch die Halle ging und in die Betrachtung der Wände versunken war. Ich erklomm die drei Stufen, die zum eigentlichen Eingang der Bibliothek führten, und schloss die zweiflüglige Eichenholztür auf. Sie führte in den großen Saal, der gewissermaßen das Herz der Bibliothek war. Ich machte auch hier das Licht an und ließ meinen Blick obligatorisch durch den Raum gleiten. Es schien alles in Ordnung zu sein. Bücherregale liefen etwa fünfzehn Meter in Reih und Glied durch den Raum, einen Gang in der Mitte lassend. Davor standen ein paar Tische mit Stühlen. Und davor der Tresen, mit Computer, Telefon und Karteikarten.

    Die Bibliothek war ein zweistöckiges Gebäude, grau verputzt und keine Schönheit. Hier unten war der öffentliche Teil und oben das Magazin und Räume für die Mitarbeiter. Eigentlich hatten wir einen recht großen Bestand, aber wenn man bedachte, dass dies die einzige Bibliothek in ganz Meltray war, war der Bestand doch nicht so gigantisch.

    Ich brauchte nicht nachzusehen, ob Mrs. Timbey und Claudia oben waren. Erstens, weil ich wusste, dass sie nicht da waren, und zweitens, weil das Telefon am Tresen mich aus meinen Gedanken aufschreckte. Ich ging hinüber und meldete mich förmlich, wie immer, auch wenn ich schon wusste, wer am Apparat war, noch bevor ich abnahm. „Stadtbibliothek Meltray, Thomas Holden am Apparat, was kann ich für Sie tun?"

    „Guten Morgen, Mr. Holden, sagte eine rauchige und verkratzte Stimme. Es war Martha Timbey. „Mr. Holden, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. Ich bin krank und kann heute nicht kommen. Herbert hat die Grippe und ich habe mich wohl bei ihm angesteckt.

    „Das tut mir leid, Mrs. Timbey."

    „Wie dem auch sei. Ich weiß nicht, wann ich wieder da sein werde. Der Arzt hat mir geraten, im Bett zu bleiben. Und in meinem Alter, Sie wissen ja... Glauben Sie, dass Sie und Claudia ein paar Tage ohne mich auskommen werden?"

    „Ja, natürlich. Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Timbey", sagte ich.

    „Vielleicht bin ich zur Weihnachtsfeier am Donnerstag wieder da. Falls nicht, Claudia weiß, was zu tun ist."

    „Wir werden das schon machen. Das Wichtigste ist, dass Sie sich erst einmal ausruhen und wieder zu Kräften kommen. Alles andere bekommen wir schon hin."

    „Na gut", sagte sie, nicht ohne die Spur eines Zweifels in der Stimme. Mrs. Timbey war eine alte, etwas schrullige Frau und außerdem die Leiterin der Bibliothek und das seit etwa drei Millionen Jahren. Sie achtete immer darauf, dass alles so lief, wie sie es wollte. Selbst, wenn es sich nur um eine kleine Weihnachtsfeier für ein paar Kinder handelte, musste alles perfekt sein.

    „Ich wünsche Ihnen gute Besserung, Mrs. Timbey. Und machen Sie sich keine Sorgen."

    Wir verabschiedeten uns und ich legte auf. Dann schaltete ich den Computer an und suchte im Leserverzeichnis die Nummer von Claudia heraus. Aber nach dem zehnten Klingeln legte ich den Hörer wieder auf die Gabel. Im Moment musste ich den Laden alleine schmeißen.

    Ich ging ins obere Stockwerk, in unser kleines Büro, drehte die Heizung auf, hängte meine Jacke an den Haken und legte die Tüte, in der mein Frühstück und Mittagessen verstaut waren, auf meinem Schreibtisch ab. Sehnsüchtig sah ich zur Kaffeemaschine hinüber, die auf einem kleinen Abstelltisch stand. Ich hätte dringend noch einen Kaffee gebraucht und außerdem noch eine Zigarette. Aber es ging nicht, ich musste die Meute einlassen, die sich unten gegen die Haupttür drängte. Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, mir trotzdem in aller Ruhe einen Kaffee zu kochen, nur damit sich Mr. Veltore noch mehr ärgern konnte, weil er sich seinen kleinen pummeligen Arsch abfror. Aber ich dachte an Benny Smith, der um neun in der Schule sein musste. Es war zwanzig nach acht.

    Ich ging nach unten und ließ die Meute ein.

    Etwa um halb zehn war es in der Bibliothek wieder ruhig. Ich saß am Tresen, vor mir eine Tasse Kaffee, und las im National Geographic einen Artikel über die Urvölker Lateinamerikas. Eigentlich war es verboten, innerhalb der Bibliothek zu essen oder zu trinken, aber nachdem ich schon Mr. Veltore hatte ertragen müssen, der sich mal wieder vollkommen daneben benommen hatte, war mir das völlig egal. Den Kaffee hatte ich mir verdient und Martha Timbey war schließlich nicht da. Claudia auch noch nicht, was das betraf. Ich betrachtete zum hundertsten Mal den Spruch, der auf meiner Tasse in knallgelben Buchstaben und einer comicartigen Schrift stand: same shit, different day! Das war gewissermaßen mein Mantra und jedes Mal, wenn ich aus dieser Tasse trank, umspielte ein kleines Schmunzeln meinen Mund. Mr. Veltore hatte sich als erster an den Tresen gedrängt und grimmig darum gebeten, dass ich ihm bis fünfzehn Uhr alle Bücher übers Stricken heraussuchte, die wir dahatten. Ich fragte ihn freundlich, ob das sein neuer Zeitvertreib wäre. ‚Ja, natürlich. Und Weihnachten gibt’s Ostereier und ich verkleide mich als Hase, nachdem ich mir ein schönes Kostüm gestrickt habe. Die Bücher sind natürlich für meine Frau, Mr. Holden. Das wissen Sie genau‘, hatte er mit seiner Fistelstimme zum Besten gegeben. Dann war er, mit hochrotem Kopf, aus der Bibliothek gestürmt, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Ich musste aufpassen, dass ich nicht lachte. Mr. Veltore war ein Meister unfreiwilliger Komik. Ein kleiner Mann, der immer rot im Gesicht war, eine Glatze hatte und durch eine Hornbrille schielte. Er ließ sich von seiner Frau (eigentlich mehr ein Drache, der zufällig ein halbwegs menschliches Aussehen hatte) herumkommandieren und ließ seinerseits seinen Unmut darüber an anderen aus. Oder versuchte es zumindest.

    Rita Marlowe wollte wissen, ob wir das neue Buch von Danielle Steel schon hatten. Ich sagte ihr, dass das der Fall wäre, dass aber die Neuanschaffungen erst nächste Woche zum Verleih freigegeben würden, weil sie noch nicht eingearbeitet waren. Ich versprach ihr, es auf jeden Fall für sie zurückzulegen, so dass sie sich das Buch gleich nächsten Montag mitnehmen konnte.

    Es war das übliche Prozedere. Ich nahm Bücher, CDs, Schallplatten, Kassetten, Videos, DVDs zurück und verlieh welche. Das Telefon klingelte in regelmäßigen Abständen. Leute wollten ihre Leihfristen verlängern, fragten, ob wir dies und jenes hätten und gaben Vorbestellungen auf. Ich stellte die zurückgegebenen Medien auf den Wagen, fuhr mit ihm durch die Regale und sortierte alles wieder ein.

    Zwischendurch half ich Benny Smith bei seiner Hausaufgabe. Er hatte einen Aufsatz über Moral schreiben müssen. Verlegen hatte er mir sechs Blätter gezeigt, auf denen seine große und unförmige Schrift grässlich anzusehen war. Wir saßen an einem der Tische und ich las den Aufsatz schnell durch. Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, was ich von seinen Gedanken, geschweige denn von seinen mit Füller durchgestrichenen Worten und den Tintenklecksen hielt. Von den Fettschmierern, die auf jedem Blatt verteilt waren, möchte ich gar nicht reden. Ich holte einen Block, schrieb innerhalb von fünfzehn Minuten vier Seiten und reichte sie ihm wortlos. Ich hatte mich bemüht, seine Gedanken zu beherzigen und nicht allzu ordentlich zu schreiben, aber der Lehrer, den Benny hatte, würde so oder so nicht darauf achten. Benny sah mir erleichtert ins Gesicht. „Danke, Thomas. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun sollte. Er griff in eine seiner Jackentaschen und schob mir dann das Päckchen Lucky Strike über den Tisch zu. „Und ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun sollte, sagte ich. Er lachte verlegen und stand auf. „Ich muss los."

    „Gut, alles klar. Lies es vorher noch mal, nur zur Sicherheit. Und viel Glück."

    Er stolperte tollpatschig aus der Tür und war kurz darauf verschwunden.

    Ich nahm gerade einen weiteren Schluck Kaffee, als ich die Haupttür zuschlagen hörte und kurz darauf das Geklapper von Claudias Schuhen vernahm. Mir kam es immer so vor, als hätte sie die lautesten Schuhe der Welt. Daran konnte man sie jedenfalls immer erkennen, wenn man sie noch nicht sah. Ich nahm die Tasse vom Mund und stellte sie so versteckt wie möglich hinter den Stapel Strickbücher, die ich für Veltore herausgesucht hatte. Nicht, dass Claudia sich aufgeregt hätte, ich tat es automatisch, als wäre es eine Art Reflex.

    Ihre Erscheinung erhellte sofort die Bibliothek. Das lag nicht etwa daran, dass sie eine besonders schöne oder auffällige Frau gewesen wäre (ich konnte mir kaum vorstellen, dass sich jemals ein Mann auf der Straße nach ihr umdrehte), sondern viel mehr an ihrer Art. Sie war einunddreißig Jahre alt, eine große und stämmige Frau, mit immer guter Laune. Ihre laute und kräftige Stimme hallte mir augenblicklich entgegen, als sie mich sah. „Morgen, Thomas! Na, wie geht’s, wie war dein Wochenende?"

    „Ereignisreich, wie immer", sagte ich. Ich mochte Claudia und verstand mich gut mit ihr. Außerdem war sie eine Freundin von Mary Stoleham und hatte sich bei Martha Timbey dafür eingesetzt, dass ich in der Bibliothek arbeiten konnte.

    „Ja, so siehst du aus", sagte sie, indem sie näher kam und sich vor dem Tresen aufbaute. In ihrem roten Anorak und den aschblonden langen Haaren, die ihr weit bis über die Schulter hingen, sah sie aus wie die kleine Schwester des Weihnachtsmannes.

    „Mrs. Timbey hat vorhin angerufen, sagte ich. „Sie ist krank, hat die Grippe.

    „Die Ärmste."

    „Ja. Und was hast du bis jetzt getrieben, Claudia? Ich dachte schon, du würdest auch nicht kommen. Ich habe versucht, dich –"

    „Ich hatte einen Termin beim Frauenarzt. Ich habe Mrs. Timbey Bescheid gesagt. Hat sie dir nichts gesagt am Telefon?"

    „Nein. Und ich habe auch nicht gefragt. Aber ich bin froh, dass du jetzt da bist. Ich hatte heute schon das Vergnügen, einen Auftrag für Veltore auszuführen."

    „Das alte Ekel, platzte sie heraus. Das brachte mich zum Lachen. Dafür war Claudia immer gut. Sie hatte so eine Art an sich, die Dinge beim Namen zu nennen. Sie verzog das Gesicht so, als ob sie in einen Madenhaufen fassen müsste. „Was wollte er denn diesmal?

    Ich hielt ihr das oberste Buch von dem Stapel entgegen, die ich für das „alte Ekel" herausgesucht hatte. Es hieß Stricken für Anfänger und der Umschlag zeigte das Bild von fröhlichen Kindern, die mit lachenden Gesichtern ihre Stricknadeln schwangen und im Kreis um einen Tisch saßen, während eine alte gruselige Frau ihnen über die Schulter blickte. „Was ist denn das?, fragte Claudia. „Wird es dem Alten etwa zu langweilig, andere Leute unfreundlich zu behandeln, oder ist das sein neuer Fetisch?

    „Ist angeblich für seine Frau, sagte ich. „Er kommt um drei und holt sie sich ab.

    „Gut, das übernehme ich, wenn du nichts dagegen hast. Und der Tresen gehört ab jetzt auch mir." Sie lief zur Tür, dann hörte ich ihre Schuhe die Treppe hochklappern. Als sie wieder nach unten kam, ohne Jacke, setzte sie sich hinter den Tresen und war an diesem Platz genau richtig. Ich nahm meine Kaffeetasse und ging nach oben. Dann schnappte ich mir einen Stapel neuer Bücher aus dem Magazin, ging ins Büro und arbeitete sie ein.

    Bis zum Nachmittag hatten wir kaum Leserverkehr. Das änderte sich ab zwölf schlagartig. Mir kam es so vor, als käme die ganze Stadt zu uns. Ich hatte alle Hände voll damit zu tun, Bücher herauszusuchen, einzusortieren, alte Männer und Frauen zu den entsprechenden Regalen zu führen, Neuanmeldungen entgegenzunehmen und fiese kleine Kinder davon abzuhalten, Verstecken und Hasche zwischen den Regalen zu spielen. Claudia ging es nicht anders.

    Veltore kam pünktlich um drei und holte sich seine Bücher ab. „Bitte sehr, Mr. Veltore, sagte Claudia. „Ich wünsche Ihnen viel Spaß damit. Stricken ist nicht so schwer, wie es den Anschein hat. Sie lächelte auf ihn hinunter und er schaute wie ein Kaninchen zu ihr auf. „Die sind für meine Frau", sagte er und rang sichtbar um Fassung. Dann warf er mir einen hasserfüllten Blick zu.

    „Einen Monat können Sie die behalten. Wenn Sie sie länger brauchen, rufen Sie einfach an. Aber das wissen Sie ja, nicht, Mr. Veltore?"

    „Ja", knurrte er und machte sich schnell auf den Weg zum Ausgang.

    „Und grüßen Sie Ihre Frau", rief Claudia ihm hinterher. Veltore beschleunigte seinen Schritt und ein paar Sekunden später hörten wir, wie er die Haupttür mit einem lauten Krachen zuschlug. Ich schaute Claudia an und sie mich. Sie verzog das Gesicht wieder so, als müsste sie in einen Madenhaufen fassen, und wir mussten beide ein Lachen unterdrücken. Dann hielt ich Rebecca unter den Scanner und reichte das Buch über den Tresen an eine kleine dünne Frau, die hastig im Raum umherblickte, als wäre sie paranoid. „Bis zum neunzehnten Januar", sagte ich.

    Um vier Uhr schlossen wir die Bibliothek. Dann gingen wir zum Hinterausgang und rauchten auf dem Hof eine Zigarette. Wir sprachen den Ablauf für die Kinderweihnachtsfeier am Donnerstag durch und unterhielten uns über unsere Lieblingsfilme. Claudias war Die fabelhafte Welt der Amelie, meiner Vertigo. Dabei fiel mir ein, dass ich noch einen Film für diesen Abend heraussuchen musste. Ich war mit Mary Stoleham verabredet. Wir wollten uns einen gemütlichen Abend bei ihr machen.

    Als ich um fünf Uhr aus dem Haupteingang der Bibliothek trat und mich von Claudia verabschiedete, war ich guter Stimmung. Das änderte sich schlagartig, als ich auf dem Heimweg merkte, dass ich verfolgt wurde.

    Ich entfernte mich von der Bibliothek, überquerte die Dixon Street (auf der der übliche Feierabendverkehr dahinrollte) und ging durch das gusseiserne Eingangstor in den Stadtpark hinein. Mittlerweile hatte es wieder zu schneien begonnen und ein rauer Wind blies mir Schneeflocken ins Gesicht, die sich wie kleine spitze Nadeln anfühlten. Über den weiten Rasenflächen des Parks lag eine noch dünne Schneeschicht, die aussah wie Puderzucker auf einem Kuchen.

    Ich zog die Schultern etwas nach oben und lief mit gesenktem Kopf den Hauptweg entlang. Nach einiger Zeit war der Verkehr der Dixon Street verstummt und nur der eisige Wind schnitt an meinen Ohren entlang. Der Park war menschenleer. Ich blickte nach vorne. Der Hauptweg war eine Art Allee, beiderseits des Weges mit Kastanien bestanden, die im Sommer prachtvoll grün und im Herbst geheimnisvoll vielfarbig waren. Jetzt kam es mir fast so vor, als stünden übergroße Gerippe mir Spalier, die mit knochigen Armen nach mir griffen, wenn der Wind sie durchfuhr.

    In regelmäßigen Abständen kam ich an den Lichtkreisen der Laternen vorbei und zählte unbewusst jede einzelne, während ich im Geiste bei Mary Stoleham weilte. Als ich die zwölfte Laterne gerade hinter mir gelassen hatte, glaubte ich, hinter mir ein Husten zu hören und fuhr zusammen. Ich unterdrückte den Drang, mich wie ein verängstigtes Reh umzublicken, und beschleunigte stattdessen meinen Schritt. Mein Herz tat dasselbe. Als das zweite Mal das Husten hinter mir ertönte, rau und irgendwie unnatürlich, als käme es nicht von einem Menschen, sondern von einem tollwütigen Tier, verspürte ich den Drang, einfach loszustürmen und wegzulaufen. Ich kann nicht erklären, warum ich diese irrationale Angst verspürte. Schließlich wäre es ja vermessen gewesen, anzunehmen, dass ich der einzige Mensch war, der den Weg durch den Stadtpark nahm.

    Statt wegzulaufen, wie ein kleines Kind, blieb ich im Lichtkegel der nächsten Laterne stehen und drehte mich um. Ich sah nichts. Im Abschnitt zwischen dieser und der vorigen Laterne lag ein Reich aus Dunkelheit und Schatten. Der Wind, der Schneeflocken durch die Luft wirbelte, machte das Erkennen auch nicht einfacher. Adrenalin durchfuhr meinen Körper und ich geriet einen Moment lang in Panik. Der Augenblick ging vorüber und ich lief, ohne, dass ich es bewusst gewollt hätte, langsam den Weg zurück. Ich kam ins Halbdunkel zwischen den Laternen und fühlte mich dort seltsamerweise ein wenig sicherer. Das heißt, bis ich die Spuren sah. Spuren von großen Schuhen, die direkt neben meinen verliefen, deren Größe sich dagegen wie die eines Zwerges ausnahm. Ich hatte das deutliche Gefühl, beobachtet zu werden. Ich blickte mich hastig um, sah aber nur die kahlen Kastanien und die Rasenflächen, die sich ins Dunkel zogen. Wenn mich tatsächlich jemand verfolgte, so hatte er keine Möglichkeit, sich schnell irgendwo zu verstecken. Außer natürlich hinter den Stämmen der kahlen Bäume.

    Ich spielte für einen Moment mit dem Gedanken, einfach umzukehren und zur Dixon Street zurückzulaufen. Aber dann fiel mir noch etwas anderes ein. Vielleicht erlaubte sich irgendein Witzbold auch nur einen Scherz mit mir. Wenn ich zurück rannte, wäre ich dem Arsch auf den Leim gegangen. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass das nicht stimmte, aber der Gedanke half mir irgendwie.

    Ich setzte mich wieder in Bewegung und zwang mich dazu, nicht zu schnell zu laufen. Dabei warf ich verstohlene Seitenblicke zu jedem Baum, an dem ich vorbeikam und zählte weiter unbewusst die Laternen. Das Gefühl des Beobachtetwerdens nahm nicht ab, aber das Husten ertönte nicht mehr und ich sah auch nichts. Ich dachte schon, ich hätte mir alles nur eingebildet, als ich an Laterne neunzehn plötzlich wieder die Fußspuren sah. Sie begannen einfach im Nichts. Ich lief, trotz der Panik, die wieder in mir aufkeimte, ruhig weiter und wandte meinen Blick stur geradeaus. Durch die Schneeflocken, die mir der kalte Wind ins Gesicht trieb, musste ich fast ununterbrochen zwinkern. Nur noch vier Laternen, sagte ich mir. Noch vier Laternen und es ist vorbei. Mit der Zeit vernahm ich wieder den Lärm von Straßenverkehr. Das Tor am anderen Ende des Parks wurde größer und größer und schließlich stand ich davor und blickte wie im Traum auf den Verkehr der Churchill Street. Ich stand da, als wagte ich nicht, einen Fuß aus dem Park zu setzen. So, als hätte die Kälte meine Beine einfrieren lassen. Dann sah ich nach unten. Die Fußspuren führten bis zum Ausgang des Parks und bogen dann nach links ab. Natürlich, dachte ich, wie könnte es auch anders sein?

    Ich ging weiter, bog nach links ab und lief eine Weile die Churchill Street entlang, meinen Blick auf die Spuren gerichtet. Eine alte Frau ging an mir vorüber und blickte mich grimmig an. Irgendwann vermengten sich die Fußspuren mit denen anderer Leute und ich verlor sie. Dennoch wusste ich eines mit Sicherheit: Sie würden, könnte ich sie weiterverfolgen, direkt zu dem Haus führen, in dem ich wohnte. Was würde mich dann dort erwarten, wer würde mir auflauern und was wollte er von mir?

    Letzten Endes lauerte mir niemand auf. Stattdessen hatte ich einen weißen Briefumschlag in meinem Briefkasten. Ohne Adresse, Absender, Briefmarke und Poststempel. Ich wusste, dass mein Verfolger ihn eingeworfen hatte. Er musste nicht lange vor mir hier gewesen sein. Aber ich wusste ebenso gut, dass er jetzt verschwunden war. Als ich den weißen Briefumschlag in der Hand hielt und vor den Briefkästen stand, zitterten meine Hände.

    Ich saß an meinem Küchentisch, noch in Jacke und Straßenschuhen, und hielt den Umschlag in den Händen. Igor strich um meine Beine, reckte das Köpfchen nach oben und miaute. „Ich weiß, mein Kleiner, sagte ich. „Kriegst ja gleich was. Er sah mich wütend an, ein vorwurfsvolles Maauuu! ertönte und er ging beleidigt aus der Küche.

    Ich hatte mich beherrschen müssen, den Brief nicht sofort aufzureißen. Ich dachte, dass es besser war, wenn ich saß. Jetzt hielt ich den Umschlag in den Händen und versuchte, mich wieder zu beruhigen. Mit einem kleinen Messer, das ich sonst zum Gemüseschneiden benutzte, öffnete ich langsam den Umschlag. Dann förderte ich eine Fotographie zutage. Kein Brief, sondern nur diese eine Fotographie.

    Meine Hände begannen wieder zu zittern, als ich sie mir ansah. Sie zeigte das Gesicht einer Frau und war schwarz-weiß. Die Frau schaute direkt in die Kamera und hatte ein ernstes, fast trauriges Gesicht, das von langem glattem Haar eingerahmt wurde. Ihre Gesichtszüge waren so exakt, dass ich innerlich erschauerte. Ihr Alter schätzte ich auf Mitte zwanzig.

    Sie war wunderschön.

    Ich blickte lange in ihre Augen, und mir war, als könnten sie mich ebenfalls sehen. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich so dasaß, aber ich weiß noch, dass ich ein wenig traurig darüber war, dass ich die Farbe ihrer Augen nicht wusste. Nur mit Mühe gelang es mir, mich von dem Foto loszureißen. Dann sah ich mir die Beschaffenheit des Fotos genauer an. Es schien schon sehr alt zu sein. Der Rand war gezackt, wie bei Briefmarken; die Rückseite war gelblich verfärbt und... Dort stand etwas, in einer alten Schrift, die ich nicht lesen konnte. Ich nahm an, dass es ein Name war. Ihr Name? Vielleicht. Ich versuchte lange Zeit, die Buchstaben zu entschlüsseln. Aber es gelang mir einfach nicht. Ich legte das Foto vor mir auf den Tisch und betrachtete wieder diese fremde Frau, die aus einer anderen Zeit stammte. Sie ist schon längst tot, hörte ich eine kalte Stimme in mir sagen. Und auf einmal fühlte ich mich aufgrund dieses Gedankens völlig niedergeschlagen. Natürlich war sie tot. Ich dachte daran, wann und zu welchem Zweck das Foto gemacht worden war. Wer war der Fotograph gewesen? Warum sah die Frau so ernst und traurig aus? In welchen Verhältnissen hatte sie gelebt? Wann war sie gestorben und woran? Wer hatte das Foto nach ihrem Tod besessen? Und vor allem, warum hatte ich es bekommen? Diese letzte Frage erinnerte mich wieder an meinen Heimweg. Warum hatte mich jemand ein Stück verfolgt, war dann zu meinem Haus gegangen und hatte mir den Umschlag in den Briefkasten geworfen? Ich fand keine Antworten auf diese Fragen.

    Ich stand auf und ging in den kleinen Flur meiner Wohnung. Dort zog ich Jacke und Schuhe aus und betrachtete mich dann im Spiegel, der gegenüber der Eingangstür hing. Ich hatte irgendwo einmal gelesen, dass man keinen Spiegel direkt gegenüber der Wohnungstür aufhängen sollte, da sonst die positive Energie, die man beim Betreten der Wohnung mit hereinbrachte, sofort wieder nach draußen abgestrahlt wurde. Humbug, dachte ich, heute war ich ängstlich, als ich die Wohnung betrat. Was schadet es also?

    Mein Spiegelbild zeigte einen mittelgroßen, hageren Mann mit Dreitagebart und kurzen, etwas zerzausten Haaren. Schlafringe waren unter den graugrünen Augen zu erkennen und eine große Sorgenfalte, die sich senkrecht über meine Stirn zog. Ich kam mir unendlich alt vor. Ich war erst zweiundzwanzig,

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