Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Anele - Der Winter ist kalt in Afrika: Roman
Anele - Der Winter ist kalt in Afrika: Roman
Anele - Der Winter ist kalt in Afrika: Roman
eBook563 Seiten8 Stunden

Anele - Der Winter ist kalt in Afrika: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

309 Seiten.
Philipp, Ende dreißig und "Single in Beziehung", steckt tief in der Midlife crisis, doch im Grunde ist es mehr als das. Rationalisierungen in seiner Firma zwingen ihn dazu, den ganzen Tag nur noch mit Däumchen-drehen zu verbringen. Zusätzlich zeigt seine Freundin Babsi, der ihre Karriere mehr bedeutet als alles andere, absolut kein Verständnis für die Probleme, die ihn beschäftigen. In dieser Situation bringt ihn der zufällige Kontakt mit einer Entwicklungshilfe-Organisation auf die Idee, eine Entscheidung zu treffen, die ihn alle Brücken hinter sich abbrechen und etwas völlig Neues beginnen lässt. Doch gerade da taucht jemand aus seiner Vergangenheit wieder auf ...

Der Roman beschreibt Philipps Erlebnisse auf einer Reise, die in Wien, seiner Heimatstadt, ihren Ausgang nimmt und ihn in ein fernes Land im Süden Afrikas führt, wo er Leid und Tod, aber auch unzerstörbare Hoffnung und Lebensfreude kennen lernt. Es werden die Geschichten der Menschen erzählt, die ihm dabei begegnen und für sein eigenes Leben von entscheidender Bedeutung sind.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum30. Juni 2014
ISBN9783847634409
Anele - Der Winter ist kalt in Afrika: Roman

Ähnlich wie Anele - Der Winter ist kalt in Afrika

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Anele - Der Winter ist kalt in Afrika

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Anele - Der Winter ist kalt in Afrika - Marian Liebknecht

    Teil 1

    WIEN

    1.

    Der Wecker läutete. Es war gerade halb sechs geworden. Mit einem ungelenken Griff, der das halbe Nachtkästchen leerräumte, brachte Philipp ihn zum Schweigen. Draußen war es noch dunkel. Halb im Schlaf suchte er mit seinen Fingern das Kabel, arbeitete sich langsam zum Schalter vor und schaffte es schließlich, die Nachttischlampe neben seinem Bett zum Leuchten zu bringen. Langsam setzte er sich auf. Seine Augen fühlten sich zugewachsen an wie bei einer dieser Amphibien, die in ihrem Leben noch kein Licht gesehen hatten.

    Wie spät war es gestern wieder geworden? Seine Freundin Babsi hatte ihm in ihrer unverwechselbaren Art ohne Umschweife am Telefon die Tatsache hingeknallt, dass sie ihre Verabredung für den Abend wegen eines geschäftlichen Termins nicht einhalten könne und er sie heute Nachmittag anrufen solle. Es war eines jener Telefonate, bei denen sich ihm sämtliche Muskeln vom Bauchnabel abwärts verkrampften und er es doch nicht schaffte zu sagen, was er wollte, wohl weil er gar nicht wusste, was das war.

    Wie immer an solchen frustrierenden Abenden hatte er sich daraufhin mit jeder Menge Chips und Bier vor den Fernseher gepflanzt, bis halb drei allen möglichen Schwachsinn angesehen und zwischendurch ziellos hin- und hergezappt. Und jetzt, nach dem Aufwachen, lag diese bleierne Schwere über seinem Schädel.

    Langsam brachte er seine verklebten Augen soweit, das Zimmer ringsherum wahrzunehmen, wenngleich sein Körper die Tatsache, dass nun der Tag zu beginnen hatte, noch nicht akzeptieren wollte.

    Schließlich zwang er sich, aufzustehen und setzte sich – zwischendurch lautstark gegen den Schrank krachend – Richtung Bad in Bewegung. Die lauwarme Dusche, die sich wie Lebenselexier über seinen Leib ergoss, tat ihm gut und half ihm, seine Gedanken einigermaßen zu ordnen.

    In den hellen Momenten des gestrigen Abends war ihm Einiges durch den Kopf gegangen, das ihn schon länger beschäftigte. Es betraf nichts Bestimmtes, nur sein ganzes Leben. Im Moment hatte er das Gefühl, alles lief schräg, in seiner Beziehung ebenso wie in seiner Arbeit. Hier Spannungen und Frustrationen, dort Leerläufe, erstarrte Routine und das Gefühl, nur eine Nummer auf einer Liste, ein Blatt in einem Ordner zu sein.

    Dem entsprechend tendierte er im Moment ganz allgemein zu ständig brodelnden Grübeleien, vor allem dann, wenn es ihm an geeigneter Ablenkung mangelte. Telefonate wie jenes mit Babsi bildeten in dieser Grundstimmung den geeigneten Katalysator, der das Fass zum Überlaufen brachte und Abende wie den gestrigen produzierte, an denen sich seine Gedanken so lange drehten, bis die nebenbei einverleibte Menge an Bier es ihm unmöglich machte, aus dem Kreisverkehr seiner krausen Überlegungen noch eine Ausfahrt zu finden.

    Immer wieder verspürte Philipp in letzter Zeit die Sehnsucht, einfach auszusteigen, was immer unter diesem Begriff zu verstehen war, doch bisher hatte er noch nicht einmal den Mut gehabt, genauer darüber nachzudenken. Wohl deshalb, weil es bequemer war, einfach in seinen Gewohnheiten zu verharren, zwei- bis dreimal die Woche mit Babsi auszugehen, die Abende dazwischen vor dem Fernseher zu verbringen und sich über nichts den Kopf zerbrechen zu müssen.

    Im Grunde war er nie ein Typ gewesen, der dazu tendiert, ernsthaft über sein Leben nachzudenken. Es war auch nicht seine Sache, Entscheidungen zu treffen, sie wurden üblicherweise für ihn getroffen und er nahm zähneknirschend zur Kenntnis, was das Leben für ihn bereit gehalten hatte. Anders ausgedrückt könnte man sagen, er ließ sich treiben.

    Erst in den letzten Wochen gab es immer wieder diese Krisen, diese verwunschenen Stunden der einsamen Gedankenwirbel, denen letztlich nichts anderes zu Grunde lag als der Wunsch, sein Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen.

    An diesem Morgen blieb er länger als gewöhnlich unter der Dusche. Der behagliche Schwall heißen Wassers, der seinen die Wärme des Bettes noch vermissenden Körper hinunter lief, schien ihn nicht freigeben zu wollen. Schließlich überwand er aber den Widerstand und stieg heraus auf den kalten Fliesenboden des Badezimmers.

    Zehn Minuten später verließ er in seiner Berufskleidung – Anzug, Krawatte und darüber ein Übergangsmantel – das Haus. Sobald er ins Freie trat, schlug ihm eine Kälte entgegen, mit der er zu dieser Jahreszeit noch nicht gerechnet hatte. Es war einer jener Herbsttage in Wien, an denen das Wetter einen starken Schub Richtung Winter macht und mit unerwartet frostigen Temperaturen aufwartet. Philipp atmete tief durch und genoss es, die Luft wie prickelndes Eis im Rachen und in der Lunge zu spüren, raffte aber im selben Augenblick seinen Mantel enger zusammen, da er am Körper fror.

    Wie an jedem Arbeitstag schritt er zweihundert Meter die Straße entlang zur Frühbar an der Ecke. Beim Eintreten genoss er die behagliche Wärme, die ihm entgegen wallte und bestellte sich Kaffee und ein Sandwich. Während des Frühstücks ließ er seinen gestrigen Arbeitstag Revue passieren. Sein Chef hatte ihm angekündigt, heute früh mit ihm etwas besprechen zu wollen, was an sich nichts Ungewöhnliches war, allein die Art, wie er es gesagt hatte, hatte in Philipp Vorahnungen geweckt, von denen er nicht wusste, ob er sie ernst nehmen oder zum Teufel jagen sollte. In jedem Fall hätte er die Unterredung lieber schon hinter sich gehabt.

    Philipp arbeitete in seinem Job als Kreditreferent einer Bank mitten in Wien schon mehr als fünfzehn Jahre. Er prüfte die Bonität der Kreditwerber und genehmigte Kredite entweder selbst oder holte sich in Zweifelsfällen die Genehmigung seines Chefs. Der hielt sich bei seiner Entscheidung praktisch immer an das, was Philipp ihm riet. Durch die vielen Jahre, die er nach anfänglichen kleinen Karrieresprüngen nun schon dieselbe Arbeit machte, war eine Routine in ihm gewachsen, die die Arbeit zwar erleichterte, aber auch dazu führte, dass er keinerlei Herausforderung mehr darin sah. Bei normalem Fortgang der Ereignisse hatte er auch punkto Karriere kaum mehr etwas zu erwarten.

    Zu allem Überfluss kursierten in der Bank Gerüchte über bevorstehende Rationalisierungsmaßnahmen, der Hauptgrund für das Magendrücken, das die heutige Besprechung in ihm hervorrief, aber auch eine der Ursachen für seine allgemein gedämpfte Laune.

    Er aß den letzten Bissen seines Sandwiches, zahlte und ging wieder hinaus auf die Straße. Es war noch immer ziemlich kalt, der Atem dampfte, aber durch den Hochnebel, der sich im Herbst oft tagelang wie eine Decke über der Stadt ausbreitete, lugte da und dort bereits ein Stück blauer Himmel, was zumindest für heute Einiges an Sonne erwarten ließ.

    Im Tageslicht, das langsam die Dunkelheit der Nacht verdrängte, sah man die Häuser mit ihren historischen Fassaden, die der Straße, in der Philipp lebte, den so typischen altösterreichischen Charme verlieh. Von der etwa dreihundert Meter entfernten Haltestelle brachte ihn die Straßenbahn zu seiner Bank in der Innenstadt. Obwohl die U-Bahn schneller war, liebte er es, in diesen alten, polternden Waggons zu sitzen, die in Wien noch immer eingesetzt wurden.

    In der Arbeit angekommen, bedachte er seinen Zimmerkollegen mit einem kaum wahrnehmbaren Handzeichen, das dieser aus Erfahrung als Morgengruß interpretierte. Gleichzeitig entledigte er sich seines Mantels, schaltete den Computer ein und ging zum Kaffeeautomaten, wo er sich einen Cappuccino herunterließ.

    Zurück am Arbeitsplatz hatte Thomas – so hieß sein Gegenüber – bereits eine Nachricht für ihn.

    „Frau Ziegler hat angerufen. Der Chef wartet schon seit einer halben Stunde auf dich. Ich würd’ mir an deiner Stelle nicht mehr allzu viel Zeit lassen", sagte er.

    Philipp wunderte sich über diese seltsame Eile schon am frühen Morgen.

    „Was ist denn los? Heute können sie es wohl kaum erwarten. Kann man nicht einmal seinen Kaffee in Ruhe trinken?" Er nahm einen Schluck aus dem Pappbecher, schnappte sich einen Block samt Kugelschreiber und machte sich damit auf den Weg zu seinem Chef.

    Im Vorzimmer erwartete ihn bereits Frau Ziegler, die Chefsekretärin.

    „Na, schon da?" sagte sie schnippisch, meinte es aber nicht ganz ernst.

    „Wie ist er denn aufgelegt? Mir scheint, heute drehen ja alle durch." entgegnete Philipp.

    „Irgend was ist im Busch. Keiner erzählt was, aber ich bin ja nicht blind. Übrigens, Sie werden ein bisschen warten müssen, unser Oberster ist gerade reingestürmt und es hat nicht so ausgesehen, als ob es in zwei Minuten erledigt wäre", antwortete Frau Ziegler.

    „Na, dann kann ich ja wieder gehen", bemerkte Philipp.

    „Das würd' ich mir allerdings noch mal überlegen. In der Früh, als Sie noch nicht da waren, wäre er beinahe explodiert, hat dauernd gefaselt, warum man eigentlich Termine vereinbart."

    „Aber er weiß doch, wann ich in der Früh komme, sagte Philipp, nicht im Traum daran denkend, sich zu rechtfertigen, „Haben Sie wenigstens Kaffee? Ich hab’ nicht einmal die Zeit gehabt, meinen zu trinken, so eilig haben’s heute alle.

    „Ich werd‘ schauen, was sich machen läßt." Frau Ziegler verschwand Richtung Kaffeeküche und kehrte nach zwei Minuten zurück, ein Tablett mit Filterkaffee, einem Beutel Zucker und einem Kännchen Milch in den Händen. Philipp bedankte sich, schüttete Zucker und Milch in den Kaffee und nahm einen Schluck.

    „Ist was Wahres an dem Gerücht, dass die bei uns mit der Heckenschere reinfahren wollen, ein paar Abteilungen einsparen oder so?", fragte er.

    „Und Sie glauben, wenn’s so wäre, wüsste ich’s?" erwiderte Frau Ziegler, bei der man allerdings nie ganz sicher sein konnte, ob sie nicht mit etwas hinter dem Berg hielt.

    „Na, als Sekretärin bekommt man ja so einiges mit", bemerkte Philipp im Versuch, vielleicht doch etwas heraus zu bekommen.

    „... und lebt davon, dass sich der Chef in jeder Hinsicht auf einen verlassen kann, besonders, was Verschwiegenheit betrifft." Frau Ziegler ließ sich heute auf nichts ein.

    Im nächsten Moment ging die Tür auf und der Generaldirektor verließ schnellen Schrittes die Abteilung, nachdem er sich bei Frau Ziegler auf seine gezwungen freundliche Art verabschiedet hatte.

    „Ist ein echter Gentleman, unser Oberster" schwärmte sie, seine berufsmäßige Freundlichkeit für bare Münze nehmend.

    Sein Chef, Erich Hoffmann, sah aus der Tür und rief: „Ist er schon da?"

    Frau Ziegler nickte nur kurz und blickte zu Philipp, worauf er von Erich wahrgenommen wurde.

    „Guten Morgen, Philipp, komm rein. Frau Ziegler, können wir zwei Kaffee haben, bitte, ... du trinkst doch Kaffee."

    Erichs gute Laune und sein entschlossenes Auftreten wirkten ebenso aufgesetzt wie das Benehmen des Generaldirektors. Philipp wusste, wenn er sich so gab, dann hatte es mit dem obersten Chef wieder einmal größere Auseinandersetzungen gegeben.

    Erich war einer der „alten Hasen" in der Bank, die den Betrieb von der Pike auf kennen gelernt hatten. Er wusste, wie der Laden lief und ihm konnte keiner was vormachen. Seit sieben Jahren war er Leiter der zentralen Kreditabteilung, nachdem er in diesem Bereich groß geworden war. Aber gerade weil er mit allem so verbunden war, hatte er Schwierigkeiten, mit dem derzeitigen Generaldirektor klar zu kommen, der vor eineinhalb Jahren als Quereinsteiger seinen Job angetreten und seitdem das Institut mit eiserner Hand geführt hatte. Unmittelbar mit Beginn seiner Tätigkeit hatte er das zentrale Controlling zur führenden Abteilung ausgebaut und seither waren es einzig und allein die Kennzahlen, die die Unternehmensstrategie vorgaben. Was auf Grund dessen als unrentabel entlarvt wurde, wurde gnadenlos geschleift. Erich war es bisher – vor allem auf Grund seiner Kenntnis aller Abläufe in der Bank – gelungen, die Kreditabteilung aus solchen Rationalisierungsprozessen heraus zu halten, was ihn sehr viel Substanz gekostet hatte. Hinter vorgehaltener Hand ging das Gerücht, er sei in psychiatrischer Behandlung, da er den Druck in der Firma nicht mehr aushalte. Eine seiner großen Schwächen war tatsächlich schon immer die nur unzureichend ausgebildete Fähigkeit gewesen, seinen Mitarbeitern Unangenehmes mitzuteilen und dieses auch durchzuziehen. Ein Mangel, der ihn zwar als Gutmenschen auswies, ihm selbst aber das Leben unnötig schwer machte. Er war in einer Zeit groß geworden, in der es so gut wie immer aufwärts gegangen war und niemand sich mit dem Problem zu beschäftigen gehabt hatte, was mit alteingesessenen Mitarbeitern geschehen solle, die nicht mehr gebraucht wurden.

    „Danke, Philipp, dass du gekommen bist, zunächst einmal, wie geht es dir?"

    „Danke, es geht." Durch Erichs angestrengte Freundlichkeit, die eigentlich gar nicht zu ihm passte, wuchs in Philipp das Gefühl, dass diesmal ein ganz dicker Hund auf ihn wartete und dabei schon die Zähne fletschte.

    „Ich will gleich zur Sache kommen, setzte Erich fort, „wie du vielleicht auch schon mitbekommen hast, gibt es derzeit in der Bank einige Umstellungen, die zu einer neuen Unternehmensstruktur führen sollen. Leider ist diesmal auch die Kreditabteilung ganz massiv betroffen. Eine von der Generaldirektion in Auftrag gegebene und vom Controlling gemeinsam mit einer Beraterfirma durchgeführte Analyse hat ergeben, dass bei entsprechenden Umstellungen der Abläufe, Einsatz bestimmter zusätzlicher Software und Aufgabe nicht notwendiger Prüfschritte die Kreditabteilung mit wesentlich geringerem Personaleinsatz auskommen kann. Kurz gesagt, wir können den Job auch mit zwei Drittel der Leute erledigen.

    Philipp fühlte, wie es heiß in ihm aufstieg. „Was bedeutet das?"

    Erich sprach weiter: „Keine Angst, Philipp, ich habe die verbindliche Zusage des Generaldirektors, dass wir uns von keinem Mitarbeiter trennen werden. Kündigungen sind definitiv ausgeschlossen. So kategorisch und entschieden, wie der das sagte, hatte es eher den Anschein, dass er sich damit selbst beruhigen wollte. „Aber es wird natürlich Veränderungen geben. Es sind derzeit 53 Mitarbeiter in der Kreditabteilung. Der Endbericht der Analyse spricht davon, dass 35 Mitarbeiter für die Aufgabenerledigung genügen. Die Controlling-Abteilung hat bereits einen Entwurf ausgearbeitet, wie auf Grund dieser Ergebnisse weiter vorzugehen ist. Es wurde zunächst entschieden, welche Mitarbeiter in der Abteilung bleiben sollen. Dabei hat natürlich das Alter eine große Rolle gespielt. Da auf die verbleibenden Mitarbeiter eine ganze Reihe von Schulungsmaßnahmen warten und außerdem der ganze Bereich neu organisiert werden soll, hat man die jungen Mitarbeiter in diesem Bereich bevorzugt. Ich will dich nicht länger auf die Folter spannen, dein Tätigkeitsbereich wird sich ändern.

    Nachdem Philipp sich das Ganze bisher sprachlos angehört hatte, konnte er nicht länger an sich halten:

    „Ich verstehe nicht ganz. Die Jungen, die weniger Erfahrung haben, werden in der Kreditabteilung bleiben. Ich bin jetzt schon ewig dabei, kenne alles wie meine Westentasche und soll meine Sachen packen? Ich meine, ich bin doch noch nicht fünfundfünfzig."

    „Jetzt warte doch erst einmal ab, wie es weiter geht. Was heißt überhaupt „Sachen packen? Ich und auch die Führung weiß, was du für die Firma wert bist, aber heute werden die Entscheidungen nur noch nach den Zahlen getroffen. Mir gefällt die Entwicklung auch nicht, aber wir müssen sie akzeptieren. Sieh‘ es doch einmal so, Philipp: Du kennst unser Geschäft in allen Facetten und bist deshalb nicht nur im Kreditwesen, sondern auch in allen anderen Bereichen unseres Unternehmens enorm wertvoll. Und genau dieses Potenzial, das in dir steckt, soll genutzt werden, wahrscheinlich besser als bisher. In der Controlling-Abteilung wurde die Idee geboren, einen Pool von erfahrenen Mitarbeitern zu schaffen, die für anspruchsvolle Aufgaben herangezogen werden sollen, sozusagen eine Gruppe von Bearbeitern für besondere Angelegenheiten. Sie sollen direkt der Generaldirektion unterstellt sein. Finanziell wird sich für die Mitarbeiter, die in dieser Gruppe arbeiten, nichts ändern. Erst in einem zweiten Schritt ist eine Harmonisierung der Bezüge angedacht, um zu große Gehaltsdifferenzen innerhalb dieser Organisationseinheit zu vermeiden.

    Erichs abstraktes Geschwafel trieb bei Philipp den Puls in die Höhe. „Also ist aufs Erste nur meine bisherige Arbeit weg, das Geld verliere ich erst später. Also ganz ehrlich, Erich, kannst du das, was du hier tust, überhaupt noch vor dir selbst verantworten? Früher hast du diese Abteilung praktisch selbständig geführt. Aber seit wir unseren neuen Musterknaben da oben haben, bist du anscheinend nur noch ferngesteuerter Befehlsempfänger." Philipp hatte mit Erich immer schon offen gesprochen und nie mit seiner Meinung hinter dem Berg gehalten. Sie waren schließlich beide schon mehr als fünfzehn Jahre in der Bank und hatten eine Zeit lang sogar nebeneinander gearbeitet. Von seinem fast schon beleidigenden Ton war er allerdings selbst überrascht und erwartete eine scharfe Reaktion. Demgegenüber ließ ihn die Miene seines Chefs erkennen, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Fast bereute er jetzt seinen Ausbruch.

    „Philipp, wir wissen beide, dass sich in der letzten Zeit bei uns die Dinge in einem Ausmaß verändert haben, das niemand für möglich gehalten hätte. Aber ich glaube, persönliche Anwürfe helfen uns in dieser Situation nicht weiter. Du weißt selbst, dass ich für die Dinge, die heute bei uns passieren, nicht verantwortlich bin und auch keine Sympathie dafür habe. Wir müssen uns aber damit abfinden, dass die Zeiten, als wir von Jahr zu Jahr größer wurden, schon lange vorbei sind. Von Osteuropa haben wir eine Zeit lang profitiert, seit der Wirtschaftskrise hat es uns nur noch viel weiter hineingerissen. Man kann über das derzeitige Management denken, was man will, Philipp, aber im Grunde versucht es nur, die Existenz der Bank zu retten.

    Aber zurück zu deiner neuen Tätigkeit. Wir haben an Dezember gedacht. Ab diesem Zeitpunkt wirst du im dritten Stock arbeiten, in der derzeitigen Revisionsabteilung." Er hielt kurz inne, so als wolle er prüfen, welche Wirkung seine Worte auf Philipp hatten. Dieser nutzte die Pause aus.

    „Was soll dieser neue Pool eigentlich machen? Im Grunde ist das Ganze doch nur eine Zwischenlagerung von Leuten, die nicht mehr gebraucht werden. Und irgendwann wird sich einer da oben fragen, wieso diese seltsamen Gestalten, die keine richtigen Aufgaben haben, eigentlich noch beschäftigt werden. Und du weißt ja wohl selbst, dass es normalerweise kein Problem ist, unerwünschte Leute weg zu kriegen, auch wenn sie noch so gute Verträge haben."

    Erich wirkte sehr nachdenklich. „Jetzt mal nicht den Teufel an die Wand. Du weißt selbst genau, dass es bei uns in mehreren Filialen Personalengpässe gibt. Außerdem gibt es auch Bereiche in der Bank, die ausgebaut werden sollen. Dann könnte es durchaus sein, dass erfahrene Leute wie du gefragt sein werden. Ich würde das Ganze nicht nur negativ sehen. Änderungen bergen auch immer Chancen in sich und wenn auf einer Seite eine Tür zugeht, tut sich auf einer anderen vielleicht wieder eine auf."

    „Also ehrlich, Erich, kannst du mir sagen, wann in den letzten beiden Jahren in unserer Bank erfahrene Leute gesucht wurden. Wir bauen doch permanent ab. Dass es die Kreditabteilung erst jetzt trifft, ist ohnehin nur dir zu verdanken, dass wissen alle. Aber bitte, erzähl‘ mir keine Märchen, oder belügst du dich auf diese Art selber?" Erichs Versuche, die Sache in positiverem Licht darzustellen, erzielten bei Philipp die gegenteilige Wirkung.

    „Na gut, fuhr Erich fort, „ich kann dir nicht vorschreiben, wie du die Sache zu sehen hast, ich kann dir nicht einmal garantieren, dass das alles, was du jetzt befürchtest, nicht irgendwann einmal eintreten wird. Aber was ich dir garantieren kann, ist, dass derzeit keinerlei Pläne bestehen, sich von Mitarbeitern der Kreditabteilung – in welcher Form immer – zu trennen. Philipp war klar, dass sein Chef das keinesfalls garantieren konnte, was wusste er schon, was in den Schubladen der Generaldirektion für Szenarien ausgearbeitet wurden. Aber er billigte ihm zu, dass er in einer Art Realitätsverweigerung selbst daran glaubte. Wahrscheinlich brauchte er diesen Glauben, um das alles durchziehen zu können.

    „Na gut, war’s das, oder kommt noch was?" fragte Philipp.

    „Im Wesentlichen war es das, Philipp, wir werden allerdings noch ein paar Mal reden müssen, wenn es dann an die Umsetzung geht. Irgendwann in den nächsten Tagen wird Herr Mag. Hecht vom Controlling an dich wegen des exakten Zeitplans für die Änderungen herantreten. Er ist der Leiter dieses Projekts und hat für eine geordnete Übergabe zu sorgen. Ich ersuche dich, mit ihm in jeder Weise zusammen zu arbeiten, damit alles reibungslos über die Bühne gehen kann. Außerdem wirst du in einer Übergangsphase ohnehin noch sehr stark in der Kreditabteilung mitarbeiten. Ich hoffe, dass ich wie bisher auf deine Einsatzbereitschaft zählen kann."

    „Zu viel Begeisterung würde ich mir nicht erwarten", erwiderte Philipp.

    „Ich erwarte mir, dass du deine Arbeit korrekt erledigst", schloss Erich das Gespräch, etwas kälter und formeller, als Philipp es nach dem sehr offenen Schlagabtausch zuvor erwartet hatte, aber wie sollte er als Vorgesetzter auf die letzte Bemerkung auch reagieren.

    Nach einem kurzen Gruß verließ Philipp das Zimmer, verabschiedete sich auch bei Frau Ziegler und ging zurück an seinen Schreibtisch.

    An diesem Tag kam er kaum zum Arbeiten. Sein Zimmerkollege Thomas – offenbar einer jener, die in der Kreditabteilung blieben, da er noch nicht zum Gespräch eingeladen war – fragte ihn sofort nach dem Verlauf der Besprechung und Philipp hielt es für richtig, ihm zu sagen, was er wusste. Um etwa drei Uhr nachmittags machte er dann Schluss und ging durch die Innenstadt zu Fuß nach Hause, etwas, das er sehr gern tat, wenn er Zeit zum Nachdenken brauchte.

    2.

    Philipp liebte das herbstliche Wien. Er war schon eine Weile die Ringstraße entlang spaziert, deren Häuserfronten in der Oktobersonne klarer und gestochener hervortraten als während des Sommers.

    Als er in den Volksgarten kam, der trotz des bereits recht kühlen Wetters noch immer sehr frequentiert war, leuchtete ihm das farbenfrohe Laub der Bäume wie eine aus Braun- und Rottönen bestehende Staffelei entgegen, auf der ein Maler die verschiedensten Farbmischungen ausprobiert hatte. Vor dieser Kulisse entspann sich reges Treiben. Mütter mit ihren Kindern, Studenten, Pensionisten und anderes Volk genoss so wie Philipp die wärmenden Sonnenstrahlen, immer im Bewusstsein, dass dies einer der letzten schönen Tage vor der grauen und feuchten Trostlosigkeit des Novembers sein konnte.

    Wie die Farben des Herbstes mischten sich in Philipps Geist die Eindrücke des Tages zu seltsamen, immer neuen Kombinationen, von denen er nicht loskam. Vor allem wollte er sich eine Strategie zurecht legen, wie er auf diesen ganzen Rationalisierungs-Unsinn in der Bank, der ihn seiner Meinung nach frontal vor den Kopf stieß, reagieren sollte. Um den Grad seiner Verbitterung zu verstehen, muss erwähnt werden, dass bei Philipp eine bestimmte Eigenschaft im Übermaß vorhanden war, nämlich das Bedürfnis, gebraucht zu werden. Es war bei ihm so ausgeprägt, dass für ihn durch die Ankündigung seines Chefs, ihn in eine Art „Zwischenlager der Hoffnungslosen" zu stecken, jede Sinnhaftigkeit seines weiteren Verbleibs in der Bank verloren ging. Es wäre für ihn demütigend gewesen, nur deshalb in der Bank bleiben zu können, weil dem Management eine Auflösung seines Vertrages wegen des Kündigungsschutzes zu mühsam erschien. Doch so sehr er sich auch den Kopf zerbrach, ihm fiel nichts besseres ein als abzuwarten, wie sich das Ganze weiter entwickeln würde.

    Als er zu Hause angekommen war, fühlte er sich durch den Spaziergang in der frischen Luft, die wegen des stetigen Windes in Wien sauberer war als in den meisten anderen Großstädten, wieder etwas besser. Der frustrierende Tag in der Bank war dadurch etwas in die Ferne gerückt und er war von diesem ungewissen Drang, auf das alles reagieren zu müssen, einigermaßen befreit. Da es noch nicht allzu spät war, beschloss er, sich für eine Stunde hin zu legen, bevor er sich mit Babsi auf dem Stephansplatz treffen wollte.

    Mit einem Ruck riss es Philipp aus dem Schlaf. Er wusste im ersten Moment nicht, ob es Morgen oder Abend war. Draußen war es bereits dunkel. Plötzlich schoss ihm durch den Kopf, dass er die Verabredung mit Babsi verschlafen hatte. Hastig griff er nach seiner Armbanduhr, die neben dem Bett lag. Sie zeigte Viertel vor Sechs. Das bedeutete, dass sich noch alles ausgehen konnte, wenn er sich nur beeilte. Er machte sich deshalb in aller Kürze im Badezimmer frisch, zog sich an und ging aus dem Haus. Mit der Straßenbahn fuhr er bis zur Oper.

    Babsi erwartete ihn schon am Beginn der Kärntnerstraße vor einem „Starbucks Coffee"-Laden, der gerade renoviert wurde. Er sah sie schon von weitem, unruhig von einem Fuß auf den anderen hüpfend und sich die Hände reibend, weniger vor Kälte als vor Ungeduld, wie es schien. Obwohl er sich sehr beeilt hatte, war er zehn Minuten zu spät. Als er bei ihr ankam, entschuldigte er sich und gab ihr einen Kuss.

    „Puh, heute ist es kalt. Nett, mich hier zehn Minuten stehen zu lassen. Bitte gehen wir gleich irgendwo rein und trinken etwas, ich erfriere sonst. Ich habe gehört, weiter vorne soll ein Italiener neu eröffnet haben, den könnten wir ausprobieren. Ich hab‘ seit Mittag nichts gegessen." Während des Schwalls ihrer Worte sah sie ihn gleichzeitig vorwurfsvoll und bittend an.

    Babsi war nicht wirklich eine Schönheit. Sie war mittelgroß, schlank und hatte bis knapp unter den Hals reichendes, blond gefärbtes Haar. Ihre echte Haarfarbe kannte Philipp nicht und war auch noch nie auf die Idee gekommen, sie danach zu fragen. Ihre Gesicht war außergewöhnlich fein gezeichnet, was ihr eine attraktive Ausstrahlung verlieh, der man sich nur schwer entziehen konnte. Das und ihr impulsives Temperament war es, das Philipp vor allem an ihr liebte, da es mit seiner ruhigen, gesetzten Art gut harmonierte, manchmal allerdings auch sehr anstrengend war.

    „Wir können hingehen, wo du willst. Ich habe heute keine bestimmten Absichten", erwiderte er auf ihren Vorschlag, dachte sich dabei aber, dass er sicher nichts essen werde, da ihm nach dem heutigen Tag der Appetit vergangen war.

    Sie schlenderten die von Schaufenstern, Reklamelichtern und Straßenlampen hell erleuchtete Kärntnerstraße hinunter, die um diese Zeit trotz der Kälte voller Menschen war und bogen beim Stephansplatz in den Graben ein, während Babsi ohne Unterbrechung von ihren Erlebnissen der letzten Tage erzählte. Sie war diplomierte Betriebswirtin und arbeitete in einer florierenden Unternehmensberatungsfirma, die meistens auch nach Dienst eines ihrer Hauptgesprächsthemen war, weshalb Philipp über sämtliche in der Firma kursierenden Gerüchte bestens informiert war.

    „Gestern hat sich Fred wieder einmal aufgeführt, als ob er der Chef wäre. Er glaubt anscheinend, er wird Nachfolger vom Alten, der nächstes Jahr in Pension geht, aber Mike, sein Stellvertreter, hat mir erklärt, dass der gar nicht dran denkt, Fred für die Position auch nur in Betracht zu ziehen. Ich freu‘ mich schon darauf, sein Gesicht zu sehen, wenn er erfährt, dass er sich seine verblödeten Hoffnungen in die Haare schmieren kann. Der braucht wirklich einmal einen kräftigen Arschtritt, damit er wieder auf den Boden runter kommt." Babsi war wieder einmal beim Thema.

    „Und hat er dir auch gesagt, wer für den Abteilungsleiter vorgesehen ist?" Philipp fragte immer nach, wenn es um Babsis berufliche Angelegenheiten ging, auch, wenn er sich – wie heute – überhaupt nicht dafür interessierte.

    „Das hat er mir natürlich nicht gesagt, aber wenn Fred aus dem Rennen ist, bieten sich ohnehin nur zwei an, die es werden können, Wolfgang oder ich. Wir sind die beiden dienstältesten. Wolfgang produziert außer heißer Luft zwar so gut wie nichts, aber er kann sich gut verkaufen und vor allem bläst er jeden mickrigen Erfolg, den er verbuchen kann, von Erbsen- auf Elefantengröße auf. Ich bin gespannt, ob Mike und Dr. Strasser auf ihn reinfallen."

    Philipp konnte dem Gedanken, dass Babsi Abteilungsleiterin werden könnte, zumindest heute absolut nichts Positives abgewinnen, da er seit dem Gespräch mit Erich seine eigene berufliche Zukunft in den düstersten Farben vor sich sah. Irgendwo tief drinnen war Philipp Traditionalist, auch wenn er es nie zugegeben hätte. Der Mann hatte das Einkommen zu sichern und die Frau war für den Haushalt zuständig, so gehörte es sich, so hatte er es in seiner eigenen Kindheit mitbekommen. Bewusst würde er solche Ansichten nie vertreten, wäre auch niemals auf die Idee gekommen, aus Babsi ein Hausmütterchen machen zu wollen, was ohnehin nicht möglich wäre. In Situationen wie jetzt wirkte aber die Kindheit nach und machte die Vorstellung, von Babsi ausgehalten zu werden, weil sein eigener Job den Bach runter ging – und sollte es auch nur für kurze Zeit sein – , vollkommen unerträglich für ihn.

    Nach etwa zehn Minuten erreichten sie das Lokal. Babsi bestellte sich eine Pizza Capricciosa und dazu schwarzen Tee, eine etwas ungewöhnliche Zusammenstellung, aber das hatte ihr noch nie etwas ausgemacht. Philipp nahm einen Cappuccino. Er musste sich noch längere Zeit alle möglichen Erlebnisse der letzten beiden Tage anhören und fragte auch immer, wenn die Erzählung es erforderte oder Babsi es von ihm zu erwarten schien, freundlich nach, was dann so klang wie „Und was hat er darauf gesagt? oder „Tatsächlich, das hat er sich gefallen lassen?. Als ihr Mitteilungsbedürfnis etwas nachließ, da sie alle Ereignisse der letzten Zeit zu ihrer Zufriedenheit aufgearbeitet hatte, rückte Philipp mit seinem Problem heraus. Einerseits wollte er ihr reinen Wein einschenken, da sie ja immerhin zusammen waren, andererseits schloss er nicht ganz aus, von ihrem Rat profitieren zu können.

    „Ich muss dir was sagen, Babsi, begann er zögernd, „ich werde vielleicht meinen Job verlieren. Babsi sah ihn verwundert an und er erzählte ihr die ganze Geschichte, wie sie ihm sein Chef heute in der Firma mitgeteilt hatte, so detailliert wie möglich. Merkwürdiger Weise schien das Ganze, so wie er es schilderte, für Babsi nicht wirklich ein Problem zu sein.

    „Ist vielleicht gar nicht so schlecht, entgegnete sie, „offensichtlich brauchen sie dich nicht mehr, können dich aber wegen deines Kündigungsschutzes nicht rausschmeißen. Überleg’ doch, in was für einer idealen Position du bist. Irgendwann werden sie dich wegen einer einvernehmlichen Lösung oder so was kontaktieren. Dann hast du sie in der Hand und holst alles raus, was möglich ist. Wenn du clever bist, geben sie dir einen ‚Golden Handshake’ mit dreifacher Abfertigung. Und zwei Monate später beginnst du bei einer anderen Bank. Mit deiner Erfahrung im Kreditbereich kann das doch kein Problem sein.

    Das Statement von Babsi war für Philipp einigermaßen überraschend. Eigentlich hatte er erwartet, bedauert oder bemitleidet zu werden. Wenn es auch auf eine gewisse Weise tröstlich war, dass jemand die ganze Sache so positiv sah, sträubte sich sein Innerstes doch mit aller Macht gegen eine solche Sicht der Dinge.

    „Das sagst du so leicht, weil es dich nicht betrifft. Aber du würdest genauso reagieren wie ich, wenn du mir nichts dir nichts erfahren würdest, dass die Firma, in der du seit 20 Jahren gearbeitet hast, dich wegwirft wie einen alten Waschlappen, wenn sie dich nicht mehr braucht", erwiderte er mit vorwurfsvollem Ton.

    „Jetzt bleib‘ aber am Boden. Babsi ließ sich in ihrer Einstellung zu seinem „Problem nicht beirren. „Sie haben deine Abteilung verkleinert, das kommt vor. Du bist einer von denen, die nicht mehr gebraucht werden, auch gut. Was willst du jetzt? Trübsal blasen? Dich im Selbstmitleid baden und einreden, dass die ganze Welt furchtbar gemein zu dir ist und alle gegen dich sind? Merkst du nicht, wie krank das in Wirklichkeit ist? Diese übertriebene Loyalität, verbunden mit falschen Erwartungen nach Wertschätzung, Anerkennung und Dankbarkeit für die geleistete Arbeit ist der Grund dafür, dass die mit den meisten machen können, was sie wollen", bemerkte sie mit Nachdruck.

    „Also, ich bin total gerührt, wie mitfühlend du bist. Es ist doch wohl selbstverständlich, dass man die Nerven wegschmeißt, wenn man merkt, dass es den, für den man sich täglich den Arsch aufreißt, einen Scheißdreck interessiert, was man eigentlich tut. Wenn es nach mir ginge, würde ich gleich morgen alles hinschmeißen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du wirklich so denkst." Philipps Reaktion überraschte ihn selbst. Normalerweise vermied er jede Auseinandersetzung mit Babsi, weil er wusste, dass sie bei solchen Gelegenheiten sehr verletzend werden konnte. Aber diesmal ließ ihn seine sonstige Selbstbeherrschung im Stich. Als er geendet hatte, hatte er kurz das Gefühl, er müsste sich ducken, um aus der Schusslinie von Babsis gerade vorbereiteter Retoursalve zu kommen.

    „Wen willst du mit dieser Kriecher-Scheiße beeindrucken? ‚Die Arbeit muss einem Sinn geben! Man muss merken, dass man dadurch etwas bewirkt!’ Soll ich dir wirklich meine Meinung dazu sagen? Diesen Mist kannst du dir in den Arsch stecken. Solche Sprüche zeigen nur, dass du überhaupt nichts kapiert hast. Du bist einer von denen, die sich voll pinkeln lassen und dann auch noch Danke sagen. Siehst du nicht, dass es keinen in deiner Bank auch nur einen Deut schert, wie’s dir geht oder was mit dir passiert? Wenn's nach denen geht, kannst du unter irgend einer Brücke verrecken."

    Philipp unterbrach sie todesmutig: „Das stimmt so nicht. Es gibt Leute in der Bank, für die es sich zu arbeiten lohnt. Erich, mein unmittelbarer Chef, zum Beispiel, leidet genau so unter der jetzigen Situation wie wir alle und hat versucht, die Kreditabteilung aus allem raus zu halten, so gut es ging. Natürlich ist es ihm nicht gelungen. Man sagt in der Firma, er braucht psychische Betreuung, weil er es nicht auf die Reihe kriegt, dass seine ganze Arbeit den Bach runter geht."

    Babsi ließ sich nicht beeindrucken. „Na Bravo, du kommst mir genau mit dem Richtigen. Für den lohnt es sich wirklich zu arbeiten. Und was hat er getan, als sie deine Abteilung zusammen geschnitten haben? Nichts, auf seinem fetten Hintern ist er gesessen, aber dafür geht er jetzt zum Psychiater! Soll ich dir erzählen, wie es bei uns zugeht?"

    Jeder Versuch, sie daran zu hindern, wäre wohl aussichtslos gewesen.

    „Ob einer gute Arbeit leistet, ist in meinem Laden so ziemlich das letzte, was einen interessiert, vor allem, wenn es um Beförderungen geht. Das einzige, worauf es ankommt, ist, ob du dich gut verkaufst, ob du die anderen blenden kannst, ob es dir gelingt, deine Konkurrenten im Job überzeugend schlecht zu machen. Wenn du darin gut bist, dann hast du Chancen bis zum Geschäftsführer. Wenn ich mir nur Mike ansehe, dieses intrigante Arschloch, dabei kann er nicht einmal .….."

    Sie wurde vom Kellner unterbrochen, der den Tee und den Cappuccino brachte und bei dieser Gelegenheit die in der Mitte des Tisches stehende Kerze anzündete.

    Durch die Unterbrechung kam Philipp wieder zu Wort. „Das stimmt doch so nicht, Babsi. Was du sagst, hat sicher etwas für sich, aber meiner Meinung nach führt der Erfolg immer über gute Arbeit. Wenn man dazu auch clever ist und Chancen zu nutzen weiß, dann ist das natürlich zusätzlich von Vorteil, aber das Gerede, dass die Dümmsten die besten Positionen haben, weil sie nur die richtige Ellbogentechnik haben, ist doch Schwachsinn, und zumindest genau so einseitig, wie du es gerade von meiner Einstellung behauptet hast."

    Seine letzte Äußerung trug nicht dazu bei, Babsi zu beruhigen.

    „Ich habe deine Einstellung nicht als einseitig bezeichnet. Ich halte sie schlicht und einfach für naiv und hirnlos. Das ist genau die Einstellung, die sich jeder Chef von seinen Mitarbeitern wünscht, damit sie brav arbeiten und nur keine Ansprüche stellen. Philipp, ich will mich nicht mit dir streiten und dich auch nicht beleidigen, aber meiner Meinung nach gibt es zwei Arten von Menschen auf der Welt, die, die kapiert haben, nach welchen Regeln das Spiel, bei dem wir alle mitspielen, läuft, und die, die in ihrer eigenen Welt leben, von Sinn und so weiter faseln und in Wirklichkeit keine Ahnung haben, was wirklich passiert. Das Schöne für die erste Gruppe ist, dass sie mit der letzteren machen kann, was sie will, wenn sie es nur richtig anstellt. Ich weiß, dass ich zur ersten Gruppe gehöre, aber so, wie du redest, bist du der perfekte Vertreter der zweiten."

    „Na und wenn, dann gehöre ich eben dazu. Meine Arbeit bedeutet mir was, ja, ich gebe es zu. Für dich ist alles nur ein Machtspiel, bei dem die gewinnen, die am Wenigsten durch so unnötige Skrupel wie Moral oder Gewissen behindert sind. Wenn es das ist, was du anstrebst, dann viel Erfolg! Dann bist du eine von denen, die den Hals nie vollkriegen, um sich mit fünfzig zu fragen, wofür sie eigentlich gelebt haben." Philipp entwickelte bei dieser Diskussion einen Enthusiasmus, der sogar Babsi überraschte.

    „Kannst du mir sagen, was du heute hast, kannst du plötzlich keine Kritik mehr vertragen? Wenn du die Wahrheit nicht erträgst, dann frag mich nicht, wie ich über etwas denke. Mir scheint, du möchtest deine Aggressionen gegen die Firma jetzt an mir auslassen. Aber da täuschst du dich. Ich bin sicher nicht dein Mülleimer", entgegnete Babsi.

    Philipp hätte nicht gedacht, Babsi einmal gekränkt zu sehen, aber heute hatte er es tatsächlich geschafft. Obwohl er sich vollständig im Recht fühlte, wollte er doch keinen offenen Streit mit ihr.

    „Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt, man wird doch wohl noch diskutieren dürfen, sagte er, um die Situation zu entschärfen, „so kenne ich dich gar nicht.

    „Ich kenne dich auch nicht so, wie du dich heute gegeben hast. Du wolltest meine Meinung, und die hast du bekommen. Du weißt, dass ich dir immer offen die Wahrheit sage. Wenn du das nicht ertragen kannst, darfst du mich eben nicht fragen." erwiderte Babsi.

    Noch immer sprach aus jedem Wort und auch aus Babsis Miene deutlich, dass sie sich verletzt fühlte. Sie war es bei Philipp nicht gewöhnt, einzustecken und merkte deshalb gar nicht mehr, wie viel sie austeilte. Er ging auf die letzte Bemerkung nicht mehr ein. Die Pizza kam und machte dem Dialog ein Ende. Philipp bestellte bei dieser Gelegenheit ein Glas Chianti. Nach der erzwungenen Unterbrechung hatte keiner von beiden Lust, das Gesprächsthema von vorher wieder aufzunehmen. Nach dem Essen blieben sie noch eine Weile sitzen, zahlten schließlich und gingen dann wieder die Kärntner Straße hinunter. Meistens kam Babsi nach solchen Abenden noch mit zu Philipp, aber heute hatten beide keine Lust dazu. Philipp begleitete sie noch zu ihrer Wohnung, was für ihn einen Umweg von ungefähr fünfundzwanzig Minuten bedeutete, aber er war froh, noch ein Stück allein in der kalten klaren Luft gehen zu können. Dabei konnte er über alles noch einmal nachdenken. Bei der Oper stieg er in die Straßenbahn, die ihn zurück in seine Straße brachte. Als er sich an diesem Abend ins Bett legte, fühlte er sich so allein wie schon lange nicht mehr.

    3.

    Am Samstag traf Philipp sich mit seinem Freund Bernhard, mit dem er schon zusammen das Gymnasium besucht hatte. Er war der Einzige von damals, mit dem er noch regelmäßigen Kontakt pflegte. Der aktive Teil von beiden war meist Bernhard. Üblicherweise meldete er sich, worauf eine Zeit lang über alte Zeiten geredet und schließlich ein Treffen vereinbart wurde, bei dem es einmal ins Kino, dann wieder ins Kaffeehaus, oft auch ins Theater oder eben sonst wohin ging, wo gerade etwas Interessantes los war.

    Diesmal hatte Bernhard sich etwas Besonderes ausgedacht. Er hatte seit Kurzem ein Kind in Afrika. Nicht sein eigenes, sondern eine dieser Patenschaften, bei denen man regelmäßig einen bestimmten Betrag - im Grunde lächerlich wenig - einzahlt. Sozusagen als Gegenleistung nimmt man Anteil an der Entwicklung des Kindes, bekommt Briefe, zunächst von einem Projektarbeiter und später vom Kind selbst. Wenn man will, kann man seinem Schützling irgendwann auch einen Besuch abstatten, allerdings nur einmal – es soll keine persönliche Bindung entstehen, das ist nicht Sinn der Sache.

    Insgesamt gesehen erfüllten diese Patenschaften ihren Zweck recht gut. Sie brachten regelmäßiges Geld für jene, die es dringend benötigten, und der Pate hatte ein Gesicht, dem er seine Spenden zuordnen konnte. Das Geld verlor sich nicht in einem anonymen Topf, der einem das Gefühl gab, das meiste versickere irgendwo in der Verwaltung. Wer möchte schon die Beschaffung von Klopapier für die Büros irgend einer riesigen Organisation finanzieren. Nein, jeder möchte sehen, wie aus dem Geld, das er sich Monat für Monat abspart und überweist, das Pflänzchen eines kleinen, aber beständigen Glücks heranwächst, für das man sich zumindest mitverantwortlich fühlen kann. Diese Sehnsucht ist es, die mit einer solchen Patenschaft gestillt wird.

    Heute fand eine Veranstaltung jener Organisation statt, über die Bernhard zu seiner Patenschaft gekommen war. Sie hieß „D.C.". Es sollte über die Verwendung der Spendengelder berichtet werden. Daneben gehörte es immer auch zum Zweck dieser Veranstaltungen, neue Paten für Kinder zu werben. Das vor allem war auch das Ziel, das Bernhard mit dem Vorschlag, dorthin zu gehen, verfolgte. Er wollte Philipp ebenfalls als Paten für D.C. gewinnen, da er von der Idee, die den Patenschaften zu Grunde lag, begeistert war. Philipp hatte sich zunächst nicht besonders angetan gezeigt, willigte dann aber ein, mitzugehen, da er ein gewisses Interesse an diesen Dingen nicht ganz verleugnen konnte. Von Babsi hatte er seit dem Treffen in der Pizzeria nichts mehr gehört und auch er selbst hatte kein Bedürfnis gespürt, sie anzurufen. Solche Phasen einer ungeklärten kurzzeitigen Entzweiung hatte er mit ihr schon zwei- oder dreimal mitgemacht. Die letzten paar Male hatte es sich dann immer wieder dadurch eingerenkt, dass Babsi wegen irgend etwas Nebensächlichem angerufen hatte, mit dem unvermeidlichen Ergebnis einer bald darauf folgenden Verabredung. Diesmal dauerte diese Situation allerdings schon recht lange. Was Philipp dabei am meisten zu denken gab, war, dass ihm das Ganze vollkommen gleichgültig war. Erst vor Kurzem war ihm zu Bewusstsein gekommen, dass er volle zwei Tage so gut wie gar nicht an Babsi gedacht hatte. Sonst hatte er sich während solcher Phasen der Trennung immer irgendwie schuldig gefühlt und hin- und herüberlegt, ob er nicht etwas Falsches gesagt oder getan hatte. Diesmal fehlten solche Selbstzweifel gänzlich.

    Sie waren inzwischen am Schottentor angekommen und gingen noch ein paar hundert Meter bis zur Universität, wo das Treffen stattfinden sollte. Am Haupteingang leuchtete ihnen ein Schild entgegen, das den Weg zum Veranstaltungssaal wies. Beim Betreten des Gebäudes aus dem späten neunzehnten Jahrhundert trat Philipp ein Geruch nach Holztüren und alten Büchern in die Nase. Er fühlte sich unwillkürlich in seine Schulzeit zurückversetzt und dachte an Hefte, frisch gespitzte Bleistifte und seine Lehrer von damals, die ihm das Leben schwer gemacht hatten.

    Nach ein paar weiteren Hinweisen erreichten sie schließlich den Saal. Obwohl sie eine Viertelstunde zu früh eingetroffen waren, war schon alles vorbereitet. An der hinteren Wand hingen mehrere Bilder, die das Leben in einem afrikanischen Land zeigten, Menschen bei der Arbeit, Schulkinder, Vieh, Getreidefelder und weitere sehr beredte Motive. Ebenfalls an der Wand, gleich neben dem Eingang, stand ein Tischchen mit Salzgebäck, einem Krug Wasser und irgendwelchen ziemlich exotisch aussehenden Süßspeisen.

    Sie brauchten nicht lange zu warten und ein freundlich lächelnder Schwarzafrikaner kam federnden Schrittes auf sie zu. Er mochte ungefähr 45 Jahre alt sein, hatte ausgesprochen ebenmäßig geschnittene Gesichtszüge und einen gepflegten Bart. Er erinnerte Philipp an den ehemaligen UNO-Generalsekretär. Der Afrikaner begrüßte die beiden sehr freundlich in stark akzentbehaftetem, aber sonst einwandfreiem Englisch und stellte sich ausführlich vor. Er hieß Moses und kam aus Swasiland. Ungefragt begann er zu erzählen, dass er dort zehn Jahre als Lehrer gearbeitet hatte. Als ein groß angelegtes Projekt der Organisation in Swasiland gestartet wurde, hatte er den Lehrerberuf aufgegeben und begonnen, in diesem Projekt mitzuarbeiten. Jetzt stellte er sozusagen den Kontaktmann von D.C. in Swasiland dar, der die Projekte auch mit der Regierung abzustimmen hatte, was, wie er sagte, nicht immer leicht war.

    Danach wandte er sich direkt an Philipp, fragte, woher er komme und aus welchen Beweggründen er hier sei. Philipp, dadurch etwas überrumpelt, wusste im ersten Moment nicht, was er sagen sollte, da er im Grunde ja nur als Begleiter von Bernhard da war. Aber er musste schließlich antworten.

    „I am from Vienna and I am very interested about your project."

    Noch während er sprach, kam ihm sein Englisch wesentlich schlechter als jenes des Afrikaners vor und der Satz, den er von sich gegeben hatte, schien ihm so banal, dass er am liebsten in den Boden versunken wäre. Sein Gegenüber zeigte sich dennoch sehr erfreut über die Aussage und gab seiner Freude darüber

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1