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An Tagen Des Ewigen Nebels
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eBook388 Seiten5 Stunden

An Tagen Des Ewigen Nebels

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Über dieses E-Book

Ausgerechnet am Tag seiner Beurlaubung vom Dienst lernt der Berliner Kriminalhauptkommissar Alan Klettberg die attraktive Journalistin Hannah Barchfeld kennen und verliebt sich in die geschiedene, zehn Jahre jüngere Mutter von zwei Kindern.
Schon bald registriert er, dass seine neue Freundin, eine aufgeschlossene und selbstbewusste Frau, kaum über ihre Vergangenheit spricht. Das ändert sich, als Hannah und Alan ein Wochenende im Ferienhaus von Alans Freunden an der Ostsee verbringen. Aufgewühlt erinnert sich Hannah daran, dass in ihrer Kindheit mit ihren Eltern schon einmal in diesem Haus gewesen zu sein. Sie hofft jetzt, mehr über das Schicksal ihrer Eltern zu erfahren, die sie seit ihrem zehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte und öffnet sich. Dabei erfährt Alan von ihr, dass sie in der DDR bei Adoptiveltern aufwuchs und ihre Mutter im Gefängnis saß, während ihr Vater, Offizier beim Ministerium für Staatssicherheit, in den Westen geflohen war.
Alan nutzt seine unverhoffte Freizeit und seinen Kontakt ins Landeskriminalamt um Hanna zu helfen. Schon seine ersten Recherchen deuten an, dass Hannahs düstere Vergangenheit bis in die Gegenwart reicht.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum13. Feb. 2020
ISBN9783750224698
An Tagen Des Ewigen Nebels

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    Buchvorschau

    An Tagen Des Ewigen Nebels - Ulrich Paul Wenzel

    Hintergründe zum Buch

    Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR wurde am 8. Februar 1950 gegründet. Der Aufbau erfolgte unter der Anleitung sowjetischer Offiziere nach dem Vorbild der sowjetischen Geheimpolizei. Die Aufgaben und Zuständigkeiten des MfS wurden nie klar definiert. Es war keinen gesetzlichen Beschränkungen unterworfen. Seit der Gründung wuchs die Zahl der Mitarbeiter ständig an. Im Oktober 1989 arbeiteten 91.000 Personen hauptamtlich für das MfS. Nahezu alle Mitarbeiter des MfS waren SED-Mitglieder. Zentrale Aufgaben des MfS in den 1950er Jahren waren der Kampf gegen die Republikflucht und das Vorantreiben der Kollektivierung der Landwirtschaft. Nach dem Mauerbau wurden die Überwachung des Reiseverkehrs und die Passkontrolle vom MfS übernommen. Aufgrund der zunehmenden Verbindungen der DDR zum Westen in den 1970er Jahren wurde der Kontroll- und Unterdrückungsapparat ausgebaut. Die Kontakte von DDR-Bürgern mit dem Westen wurden nun verstärkt überwacht. Das Netz der inoffiziellen Mitarbeiter (IM) wurde erheblich erweitert. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre lag die Zahl der IM bei 180.000.

    Nach der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc in Polen 1981 schottete das MfS die DDR auch nach Osten hin ab. Zu Beginn der 1980er Jahre gab es kaum einen Bereich des gesellschaftlichen Lebens in der DDR, den die Stasi nicht in der einen oder anderen Weise überwachte. Bei Fluchthelfern und Überläufern aus den eigenen Reihen schreckte das MfS auch vor Entführung und Mord nicht zurück. Zuletzt kamen auf 62

    Einwohner der DDR ein MfS-Mitarbeiter. Trotzdem gelang es dem MfS in den späten 1980er Jahren nicht, die Gründung von Oppositionsgruppen zu verhindern. Am 7. November 1989 musste der Leiter des MfS, Erich Mielke zurücktreten. Im Dezember 1989 besetzten Bürger der DDR die MfS-Bezirksdienststellen, um die einsetzende Vernichtung der Akten zu verhindern. Am 14. Dezember 1989 ergeht die Anordnung zur Auflösung des MfS.

    „Irgendeiner ist immer dabei,

    von der ganz leisen Polizei.

    Irgendeiner macht immer 'nen Strich,

    und wenn's Du nicht bist, bin's – ich."

                                                                                Kurt Demmler

    1

    Ostberlin, DDR, November 1984

    Als er am Tor stoppte und seinen Dienstausweis aus dem geöffneten Fenster des Wagens hielt, musterte ihn der Posten des Wachregimentes Feliks Dzierzynski mit demselben misstrauisch prüfenden Blick wie an all den Tagen, an denen er mit dem Auto erschien. Er nickte kurz, während sich die Schranke hob und steuerte den blauen Wartburg auf eine der um diese Zeit vielen freien Parkflächen im Innenhof. Wie die meisten seiner Kollegen wohnte er gerade mal einen Katzensprung vom Ministerium entfernt und benutzte das Auto nur dann, wenn er etwas Besonderes zu erledigen hatte oder flexibel sein musste. Heute war solch ein Tag. Sein letzter Arbeitstag.

    Sein Blick wanderte noch einmal auf die Uhr am Ar­maturenbrett, dann stieg er aus und steuerte mit festen Schritten den grauen Plattenbau am Ende des Hofes an. Fast acht Jahre lang habe ich hier gewirkt, resümierte er mit einem Anflug von Melancholie. Für den Erhalt des Weltfriedens, den Aufbau des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden, die unerschütterliche Freundschaft zur Sowjetunion. Für all diesen Scheiß, an den er lange Zeit fest geglaubt hatte. Er schüttelte den Kopf, als wäre ihm das ganze Ausmaß dieser Verlogenheit erst an diesem Tag richtig bewusst geworden. Dabei spürte er schon lange die untrüglichen Anzeichen von Zweifel in sich, den Vertrauensverlust. Er hatte mit zunehmender Zeit immer mehr Fragen gehabt, doch das Regime hatte keine oder die falschen Antworten. Es waren vor allem die Widersprüche und Inkonsequenzen des täglichen Lebens, die starren Mechanismen, der Umgang mit den Bürgern, die einmal große Hoffnungen in diesen Staat gesetzt hatten und immer mehr enttäuscht wurden. Die noch lange nach Kriegsende geglaubt hatten, im fortschrittlicheren, menschenwürdigeren Teil Deutschlands zu leben. Die schlussendlich jedoch registrieren mussten, dass den indoktrinierenden Parolen des Partei- und Staatsapparates keine Taten folgten.

    Mit diesem Staat hatte auch er ein Übereinkommen gehabt, ihm sich verpflichtet gefühlt. Aus Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen, verbunden mit der Hoffnung, dass sich irgendwann einmal die Überlegenheit des Sozialismus zeigen und bei den Bürgern ankommen würde.

    Ihn fröstelte, als er die Treppe zur dritten Etage hinaufstieg. Auf dem langen, nur schwach beleuchteten Flur, der tagsüber die ganze Vitalität dieser Behörde widerspiegelte, war es still wie auf dem Zentralfriedhof in Friedrichsfelde um Mitternacht. Mit einem nachdenklichen, fast verachtenden Blick streifte er das kleine weiße Schild mit seinem Namen und Dienstrang an der Tür des Raumes 341, das ihn einst mit so viel Stolz erfüllte.

    Bis zum Major habe ich es gebracht, resümierte er bitter. Das ist nicht der große Wurf, den er sich einmal erträumt hatte, aber immerhin. Er trat ein und schloss leise die Tür. Nachdem er die Verdunkelungsvorhänge sorgfältig zugezogen hatte, schaltete er die Schreibtischlampe an. Er hatte nie eine persönliche Verbindung zu diesem funktional eingerichteten Büro entwickelt, das von Holzimitat und beige-braun gemusterten Tapeten dominiert wurde. Weder private Bilder noch andere persönliche Gegenstände schmückten diesen Raum, noch nicht einmal eine Pflanze. Es hätte auch nicht mit dem gezwungenen Lächeln des Staatsratsvorsitzenden ins Nirgendwo korrespondiert, das unzählige Amtsräume und HO-Gaststätten des Landes verunstaltete.

    Er atmete tief durch. Wenn alles nach Plan läuft, ist hier morgen die Hölle los! Der Supergau im Zentrum der Macht. Der Alte würde rasen. Er stellte sich seinen obersten Dienstherren inmitten der wichtigsten Mitarbeiter vor, wie er mit seiner brachialen Kampfrhetorik das Desaster erklären würde. In diesem Moment spürte er das Unbehagen. Sie werden mich jagen, überlegte er. Bis ans Ende der Welt! Mit Schaudern erinnerte er sich an die Feier vor einigen Monaten in der Kantine. Mielke, merklich angetrunken, rühmte sich noch einmal des kurzen Prozesses, den sie dem armen Werner Teske gemacht hatten. Sein Todesurteil wegen angeblicher Spionage blieb als nachhaltiger Eindruck zurück. Es wüde auch sein Schicksal sein, da war er sich sicher.

    Noch in Gedanken setzte er sich ein letztes Mal an seinen Schreibtisch und starrte auf das graue Telefon. Es muss jetzt alles nach Plan laufen, überlegte er, sonst haben sie mich am Arsch und der Alte könnte eine weitere Erfolgsmeldung verkünden. Er nahm den Bleistift, der neben der Schreibtischlampe lag und begann ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zu drehen. Dass die Freundschaft mit Alfi, seinem Kollegen, zu Ende gehen würde tat ihm aufrichtig leid. Aber das war das Geschäft, das waren die Mechanismen, auf die er sich nun einmal eingelassen hatte. Sie hatten gut und erfolgreich zusammengearbeitet, unzählige Stunden auch privat miteinander verbracht, aber das zählte jetzt nicht mehr. Er fragte sich, wie Alfi reagieren würde. Alfi war ein harter Hund und dieses Szenario würde ihm mit Sicherheit gar nicht gefallen. Eine spätere Begegnung mit ihm wäre kein Zuckerschlecken geworden, aber dazu sollte es nicht mehr kommen.

    Er hatte die Akten im Bodenbereich des Schrankes hinter einer Wand von Ordnern deponiert. Der Bleistift, den er senkrecht zwischen den Stapel mit den Papieren und der Rückwand des Schrankes eingeklemmt hatte, befand sich in seiner ursprünglichen Stellung. Das bedeutete, dass niemand sich an den brisanten Ordnern zu schaffen gemacht hatte. Nach einen Blick auf die Schreibtischuhr, holte er die Minox aus der untersten Schublade heraus und überprüfte den Film. Es waren 48 Seiten, die er in der nächsten Stunde ablichten und anschließend auf Mikrofilmen aus dem Haus transportieren musste. Der Vorschrift, die die Mitnahme von Akten strengstens verbot, wollte er sich nicht ausgerechnet an seinem letzten Arbeitstag widersetzen.

    Nachdem er die Schreibtischlampe ein- und anschließend die Raumbeleuchtung ausgeschaltet hatte, begann er mit seiner Arbeit. Er hatte die Akte Igor aufgeschlagen und war gerade dabei, die Minox in Stellung zu bringen, als es an der Tür klopfte. Obwohl er auch mit dem Besuch eines Kollegen rechnen musste, fuhr er zusammen. Hastig ließ er die Minox in der Schreibtischschublade verschwinden. Im selben Moment öffnete sich die Tür und die hünenhafte Gestalt von Bernhard Fuchs tauchte auf.

    »Na Genosse Major, so spät noch bei der Arbeit?«, fragte Fuchs mit seiner markanten heiseren Stimme. »Ich habe dich vorhin über den Hof kommen sehen und dachte, ich schau mal rein. Was machst du noch um diese Zeit?«

    Bernhard war skrupellos. Ein fanatischer Verfechter des harten Kurses gegen die subversiven Kräfte, zu denen er alle zählte, die nicht bedingungslos hinter dem System standen. Er war erst vor wenigen Monaten aus der Hauptabteilung II in die HVA gewechselt und machte keinen Hehl daraus, dass er das Ende seiner Karriereleiter noch lange nicht erreicht hatte.

    »So spät ist es doch noch nicht, Bernhard.« Er zwang sich zu einem gleichgültigen Gesichtsausdruck. »Ich bearbeite nur ein paar Unterlagen. Habe morgen einen wichtigen Termin.«

    Fuchs kam näher. Die stahlblauen Augen in seinem aufgeschwemmten, blassen Schweinegesicht, auf dem sich kaum eine Bartstoppel zeigte, sandten eine klirrende Kälte aus. »Und ich dachte, du schaust dir heute Abend den BFC im Fernsehen an. Du guckst doch sonst immer alle Spiele.«

    Diesmal nicht, Genosse Fuchs, dachte er grimmig, genau deswegen bin ich jetzt hier. Bei Europapokalspielen des BFC, das wusste er, saßen die meisten Mitarbeiter zu Hause vor den Fernsehgeräten und das Dienstgebäude war weitaus weniger stark bevölkert als an normalen Tagen. Einige Kollegen werden sogar im Jahnsportpark dabei sein und morgen Vormittag mit stolzgeschwellter Brust über den einmaligen Fußballabend an der Seite des Alten berichten. Mielke war Vorsitzender des BFC und ließ es sich nicht nehmen, eine handverlesene Schar enger Mitarbeiter in seine warme Lounge auf der Haupttribüne mit Bier und Bockwurst einzuladen. Lange Zeit hatte er sich gefragt, ob es ein Makel war und die Karriere behindern würde, dass er es nicht auf die Haupttribüne geschafft hatte. Mittlerweile war er froh, niemals diesem Kreis angehört zu haben.

    »Das hier ist sehr wichtig, Bernhard. Du weißt doch, man muss auch mal verzichten können.«

    Fuchs warf einen Blick auf die geöffnete Akte. Igor alias Heinz Worm war 1979 vom Ministerium für Staatssicherheit mit dem Ausweis des in die DDR übersiedelten und hier im selben Jahr verstorbenen Bundesbürgers Egon Dahms in die Bundesrepublik eingeschleust worden. Er hatte sich zum stellvertretenden Referatsleiter für den Bereich Internationale Kontakte beim Deutschen Gewerkschaftsbund in Frankfurt am Main hochgearbeitet. Eines der teuersten Pferde im Stall. Bis heute jedenfalls.

    »Du bist in letzter Zeit auffallend lange hier«, brummte Fuchs, die Augen zu Schlitzen verengt. »Gibt es Probleme?«

    Er zuckte zusammen. Die Frage stand wie eine Bedrohung im Raum. Letzte Woche erst hatte Rohloff eine ähnliche Bemerkung gemacht. Hatten sie etwas herausgefunden? Hatte er einen Fehler gemacht? Er spürte kalte Schweißperlen auf seiner Stirn, die Trockenheit im Mund.

    »Ach was«, antwortete er lächelnd. »Du weißt doch wie das ist, Bernhard. Es kommen manchmal so viele Dinge auf einmal, sodass man nicht weiß, wo man anfangen soll. Im Augenblick kann ich über Arbeit nicht klagen. Das ist aber kein Problem.«

    Fuchs nickte nachdenklich. »Tja, das kenne ich. Bist du morgen beim Sport?«

    »Wahrscheinlich nicht, ihr müsst mal ohne mich auskommen. Ach übrigens, Bernhard, meine Stimme hast du am nächsten Dienstag.«

    Fuchs schmunzelte gütig. Am Dienstag standen die Wahlen zum ersten Sekretär der Parteiorganisation in der Abteilung an. Fuchs war aussichtsreicher Kandidat, glaubte er zumindest.

    »Das freut mich wirklich. Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann. Und wie gesagt, anschließend gibt es auch ein paar Runden.«

    Er nickte Fuchs lächelnd zu. Saufen war Bernhards Königsdisziplin, da war er unschlagbar.

    »Schönen Abend noch«, murmelte Fuchs und verließ den Raum ebenso unvermittelt wie er gekommen war.

    Er atmete tief aus. Sein Blick huschte zur sofort Uhr. Er hatte jetzt nicht mehr viel Zeit. In einer halben Stunde musste er aus dem Gebäude sein. Ab 22 Uhr verstärkte das Wachpersonal die Kontrollen im Haus. Auf weitere Besuche und Fragen dieser Art wollte er unbedingt verzichten.

    Es war 22:17 Uhr als er mit einem knappen Nicken den Posten passierte, vier Mikrofilme unter dem Beifahrersitz seines Wartburgs.

    Am nächsten Morgen

    Sein Wecker klingelte pünktlich um 5:30 Uhr. Die halbe Nacht hatte er wach gelegen und unentwegt an den nächsten Tag gedacht. Der entscheidende Tag für seine Familie. Am frühen Morgen erst fand er in den Schlaf und spürte den brummenden Schädel, nachdem er aufgestanden war. Umgehend waren seine Gedanken bei seiner Frau und seiner Tochter, die heute nach Budapest fliegen, um von dort mit dem Zug nach Wien weiterzureisen. So war der Plan, den sie vom Bundesnachrichtendienst entwickelt hatten und dessen finale Version ihm ein Kontaktmann des BND gestern Abend am Rande des Marx-Engels-Platzes übermittelt hatte.

    Er duschte ausgiebig und brühte sich anschließend einen starken Kaffee. Während er ein altes Brötchen mit etwas Marmelade bestrich, ging er noch einmal seinen eigenen Tagesablauf durch und überprüfte ein letztes Mal die Reisedokumente. Um kurz nach sechs verließ er mit seiner kleinen Reisetasche, in der er nur Wäsche für maximal drei Tage und Badutensilien hatte, die Wohnung und nahm die U-Bahn zum Bahnhof Lichtenberg, wo der Städteexpress nach Erfurt um 7:32 Uhr abfahren sollte.

    Vier Stunden später

    Mit fünfzehn Minuten Verspätung fuhr der Zug in den Erfurter Hauptbahnhof ein. Um kurz nach halb elf betrat er die um diese Zeit schon vollkommen verräucherte Bahnhofsgaststätte am Gleis 1, in der unzählige NVA-Angehörige auf ihre Anschlusszüge warteten. Er bestellte sich zwei Bockwürste mit Semmeln und eine Zitronenlimonade und setzte sich an einen der wenigen freien Tische. Durch das verschmutzte, von einer verwaschenen Gardine eingerahmte Fenster hatte er einen guten Blick auf das direkt am Bahnhofsplatz liegende Hotel Erfurter Hof. Wie viele Jahre ist es her, fragte er sich, während er die Wurst in den Senf tauchte, seit sich hier Brandt und Stoph begegneten. Wie die meisten DDR-Bürger, so hatte auch er große Hoffnungen in das Treffen des großen Staatsmannes aus der Bundesrepublik mit dem biederen Aparatschik aus dem Arbeiter- und Bauernstaat gesetzt. Letztendlich wurden sie alle enttäuscht. So wie beim Besuch von Bundeskanzler Schmidt in Güstrow. Es war ein desaströses Bild, dass dieses Staates der Welt präsentierte. Sicherheitskräfte wohin das Auge reichte. Über dreihundert Mitarbeiter waren allein aus Berlin abkommandiert worden. Er hatte sich zum ersten Mal richtig geschämt. Die Wurst schmeckte scheußlich.

    Der überfüllte Interzonenzug in Richtung Bebra und Frankfurt am Main verließ Erfurt mit sieben Minuten Verspätung. Er war froh, einen Sitzplatz an der Gangseite des überheizten Abteils bekommen zu haben. Die Luft war zum Schneiden. Ein Rentnerehepaar aus Riesa unterhielt sich angeregt in breitem Sächsisch mit einer jungen Frau, die auf dem Weg zurück nach Hannover war. Die beiden alten Leute wollten ihre Tochter und ihre beiden Enkelkinder in Kaiserslautern besuchen. Ihre erste Reise in den Westen, wie sie aufgeregt erzählten.

    Er warf einen flüchtigen Blick in das Neue Deutschland, das er sich auf dem Erfurter Bahnhof gekauft hatte. Demonstrationen gegen die Kernenergie in Westdeutschland. Mit solchen Schlagzeilen versuchten sie das hässliche Bild des kapitalistischen Deutschlands zu zeichnen. Ein Scheißblatt, sagte er sich und quetschte die Zeitung zwischen Abteilwand und Sitz. Er zog ein weiteres Mal die Dokumente aus der Brusttasche seines Jacketts. Den neuen Reisepass, die Aus- und Einreisevisa sowie die Devisenbescheinigung über dreihundert Schweizer Franken, die er mit sich führen musste. Die Luft wurde immer unerträglicher.

    Es war eine erste Dienstreise in den nichtsozialistischen Wirtschaftsraum, wie es offiziell hieß. Ein strategisches Treffen mit dem Agenten Herbert Voss in Basel, der unter dem Decknamen Petrus im Bundesamt für Wehrverwaltung in Bonn das Referat Infrastruktur leitete. Er führte den äußerst erfolgreichen Kundschafter seit fast fünf Monaten. Aufgrund seiner Tätigkeit auf hoheitlichem Gebiet, war es Voss untersagt, weder privat noch dienstlich in sozialistische Länder einzureisen. Damit waren die üblichen Führungstreffen in einer der konspirativen Wohnungen oder im Cafè Moskau nicht möglich. Seine Vorgesetzten im Ministerium hatten lange über seinen Antrag zu diesem Treffen beraten, denn er war kein Reisekader ins kapitalistische Ausland. Letztendlich waren es die Brisanz der Informationen sowie das unerwartete Missgeschick eines Kuriers, der auf dem Stuttgarter Flughafen aufflog, die für die Genehmigung ausschlaggebend waren. Und dann musste alles schnell gehen, viel zu schnell für seinen Plan, der noch nicht ausgereift war.

    Er schaute auf den Gang, auf dem noch lange nach Abfahrt des Zuges Fahrgäste nach freien Plätzen suchten. Gegen zwanzig Uhr sollte er in Basel eintreffen, sich ein Zimmer im Hotel St. Gotthardt, direkt am SBB-Bahnhof nehmen und beim Frühstück am nächsten Morgen um neun Uhr mit Voss zusammentreffen. Er hustete flach. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Nicht einmal nach Basel wollte er. Vielleicht später einmal, ebenso wie nach Paris, London und Amsterdam. Um Zeit zu gewinnen und Voss nicht misstrauisch zu machen, sah sein Plan vor, die Rezeption des Hotels mit der Bitte anzurufen, Voss zu informieren, dass er den Zug in Frankfurt nicht erreicht habe und erst am frühen Nachmittag in der Hotellobby eintreffen würde. So etwas kann bei der Unpünktlichkeit der Reichsbahn schon mal passieren.

    Ohne die vorbeiziehende Landschaft wahrzunehmen, blickte er aus dem Fenster. Seine Gedanken waren den ganzen Tag schon bei seiner Frau und seiner Tochter. Immer wieder fragte er sich, wo sie sich gerade befanden. Obwohl er sich sicher war, beide übermorgen in die Arme schließen zu können, der Plan war perfekt, konnte er sich kaum auf sich selbst konzentrieren.

    Das ohrenbetäubende Quietschen der Zugbremsen holte ihn aus seinen Gedanken zurück. Direkt vor dem Fenster sah er das Bahnhofsschild Gerstungen. Der letzte Bahnhof in der DDR!

    »Gerstungen, Gerstungen!«, plärrte es aus den kleinen Lautsprechern entlang des Bahnsteiges. »Werte Reisende, nach einem Aufenthalt zwecks Passkontrolle durch die Grenzorgane verlassen Sie die Deutsche Demokratische Republik. Wir wünschen eine angenehme Weiterfahrt.«

    Es herrschte plötzlich vollkommene Stille im Abteil, nur unterbrochen durch das Rascheln von Papier, als sich die Frau am Fenster ein belegtes Brot aus der Tasche holte. Er transparierte am ganzen Körper. Auf dem Bahnsteig waren das Zuschlagen der Wagentüren und etwas später das Motorengeräusch einer Diesellok zu hören. Er ging auf den Gang und zog das Fenster herunter. Neben dem Bahnhofsgebäude war ein rotes Stoffbanner mit weißer, plakativer Schreibschrift an einer Mauer angebracht: »Von der Sowjetarmee lernen heißt siegen lernen!« Kopfschüttelnd wandte er sich ab und ging zurück ins Abteil. Nach einer guten viertel Stunde wurde die Abteiltür aufgezogen.

    »Guten Tag, Grenzkontrolle der DDR. Die Ausweise und Ausreisedokumente bitte.« Ein Grenzbeamter in der graugrünen Uniform der Grenztruppen, höchstens 25 Jahre alt, blickte streng und distanziert in das Abteil. Er spürte wieder die Trockenheit in seinem Mund und hätte in diesem Moment alles für einen Schluck Wasser gegeben. Umgehend dachte an das, was nicht sein durfte: Wenn irgendjemand in Berlin etwas entdeckt hatte, eine Unregelmäßigkeit, nur eine Kleinigkeit, würde sein Name auf einer Liste dieses Grenzers stehen und es wäre das Ende. Schweiß schoss aus allen Poren seines Körpers. Routiniert überprüfte der Grenzer die Papiere der Reisenden und stempelte sie ab. Nein, versuchte er sich zu beruhigen, sie konnten nichts entdeckt haben. Sie hätten mich schon in Berlin festgenommen und nicht so lange gewartet. Als der Grenzbeamte ihn auffordernd ansah, reichte er ihm die Dokumente und trocknete seine feuchten Handflächen auf der Hose.

    »Da fehlt etwas«, brummte der Grenzer mit fragendem Gesichtsausdruck. »Die Devisenbescheinigung, ein weißes Formular.«

    Er spürte die brennenden Blicke der anderen Fahrgäste auf sich gerichtet. Die war doch vor kurzem noch da. Mit zittrigen Fingern durchsuchte er seine Jackentasche … und atmete auf. Erleichtert zog er das weiße Stück Papier heraus. Der Grenzer nickte und blätterte dann in einer Liste, die er mit sich führte. Nach drei Stempeln reichte er die Dokumente zurück und nickte ein letztes Mal, bevor er das Abteil mit einem formalen Gruß verließ. Als der Zug nach einem lang gezogenen Pfiff der Lokomotive anfuhr atmete er mehrmals tief durch. Ein weiteres Mal verließ das Abteil und zog das Fenster hinunter. Er brauchte Luft. Dunkle Abgaswolken der schweren Diesellok verhüllten die ersten Wagen ein kamen rasch näher. Es hustete und schon das Fenster wieder hoch.

    2

    Berlin, Juni 2018

    Es war Tag, den er wenig später zu seinem persönlichen Gedenktag erklärte. Ein Tag, der mehr in seinem Leben veränderte, als jeder Tag zuvor.

    Um kurz nach halb zehn verließ Kriminalkommissar Alan Forsberg seine Arbeitsstelle, das Landeskriminalamt Berlin. Das tat er unzählige Mal im Jahr, doch diesmal war der Anlass ein anderer als sonst. In seiner Umhängetasche hatte er das offizielle Schreiben mit seiner Zwangsbeurlaubung, welches ihm sein Chef soeben zusammen mit ein paar salbungsvollen und belehrenden Worten überreicht hatte. Mit einem zu einem Schwimmreifen angeschwollenen hatte er sich auf sein zwölf Jahre altes grünes Bianchi-Rennrad geschwungen sich auf dem Weg zu seiner Wohnung in Halensee gemacht. Das war eine schöne Überraschung am Morgen. Er konnte nach Hause fahren und brauchte die nächsten Tage nicht zum Dienst erscheinen. Durfte nicht, so war es richtig. Bartmann verzichtete einfach für eine Zeitlang auf seine Dienste bei voller Bezahlung.

    Gerade einmal fünfzehn Minuten schlug es erneut bei ihm ein. Mit leicht erhöhter Geschwindigkeit fuhr Alan die Kantstraße in westlicher Richtung entlang und hatte fast die Wilmersdorfer Straße erreicht, als sich unerwartet und direkt vor ihm die Fahrertür eines in einer Parklücke stehenden schwarzen Nissan Micra öffnete. Der Albtraum eines jeden Radfahrers! Während er geistesgegenwärtig an seinen Bremsgriffen zerrte, registrierte er noch die in Jeans gehüllten Beine einer Frau, dann hatte er auch schon mit einem Knirschen die Autotür gestreift und stürzte, das schlingernde Rad nicht mehr unter Kontrolle, auf die Fahrbahn. Für einige Sekunden war alles ganz ruhig. Sein erster Gedanke galt seinem Kopf und stellte erleichtert fest, dass dieser nichts abbekommen zu haben schien. Leicht benommen erhob er sich und setzte sich neben sein Fahrrad. Der Schreck saß ihm in sämtlichen Gliedern. Nur zögerlich stellte sich seine Wahrnehmung wieder ein. Er überprüfte die Spannung aller Muskeln seines Körpers. Die linke Schulter schmerzte. Die Hose war am rechten Knie durchgescheuert, das Knie brannte wie ein schlechter Whisky auf der Zunge. Peanuts! Das Bianchi schien auf den ersten Blick ebenfalls unversehrt. Aus dem Augenwinkel registrierte er die neugierigen Gesichter in den langsam vorbeiziehenden Autos. Auch auf dem Bürgersteig hatte sich eine gaffende Menschentraube gebildet. Unangenehmer Auflauf, dachte er und vermied es, hinzuschauen. Am liebsten hätte er ihnen zugerufen: Verpisst euch, ich bin okay! Ihn interessierte viel mehr, welche dämliche Kuh ihn soeben mit ihrem rücksichtslosen Verhalten aus dem Sattel geworfen hatte.

    »Mein Gott, ist Ihnen etwas passiert?«, hörte er eine Frauenstimme, die nicht aus der Menschentraube auf dem Bürgersteig kam. Das musste sie sein! Er drehte den Kopf und spürte einen heftigen Nackenschmerz. Mit verzerrten Gesichtszügen blinzelte er in zwei erschrockene Augen und ein hübsches, aschfahles Gesicht. Sie war neben ihm in die Hocke gegangen und hatte eine Hand auf seinen linken Arm gelegt.

    »Das tut mir schrecklich leid«, sagte sie mit belegter Stimme, »ich habe Sie überhaupt nicht gesehen. Kommen Sie, ich bringe Sie ins Krankenhaus.«

    »Nein, es geht schon«, brummte er. Das Gefühl der plötzlichen Besserung führte er allein auf ihre Erscheinung zurück.

    »Aber es ist besser für Sie. Ich würde mir schreckliche Vorwürfe machen, wenn Sie innere Verletzungen haben.«

    »Nein, wirklich nicht, das würde ich spüren. Außerdem kann ich mich immer noch untersuchen lassen.«

    »Die Hose bezahle ich natürlich. Was ist mit Ihrem Knie?«

    »Geht schon.«

    Er schätzte sie auf vierzig Jahre. Sie hatte die Sonnenbrille in ihre blonden, am Hinterkopf zusammen geknoteten Haare gesteckt. Auch sie schien auf dem Weg der Besserung. Ihre tiefblauen Augen glänzten, ihre makellose Gesichtshaut begann wieder Farbe anzunehmen.

    »Was ist mit Ihrem Fahrrad? Ich bezahle den Schaden natürlich.« Die Frau erhob sich und warf einen abschätzenden Blick auf das Bianchi.

    »Sieht so aus, als wenn alles in Ordnung wäre.«

    Unbeholfen sah sie sich um. Mit vorsichtigem Blick streifte sie ihre Autotür. Alan konnte sie jetzt erstmals in Augenschein nehmen. Die schwarze, taillierte Bluse und die hellblauen Jeans waren eine gute Komposition.

    »Sagen Sie doch bitte, wie ich das wieder gut machen kann.«

    »Was gibt es da gutzumachen? Bei mir scheint alles in Ordnung zu sein.«

    »Kann ich Sie wenigstens zu einem Kaffee einladen? Hier irgendwo in der Nähe. Oder haben Sie es eilig? Ich würde Sie auch gerne irgendwo hinbringen, aber Sie haben ja Ihr Fahrrad dabei.«

    »Sie könnten mit mir Essen gehen«, hörte er sich sagen und erschrak sogleich über seine spontane Antwort. So kannte er sich gar nicht. Der Sprung war irgendwie zu weit. Hatte sein Kopf doch etwas mitbekommen? Sie schaute ihn lächelnd an und schien über diese Anmaßung nachzudenken. Er erwartete eine klare Ansage.

    »Gerne, Haben Sie einen Vorschlag? Ein nettes Restaurant?«

    Er musste schlucken.

    »Augenblick«, fügte sie ohne eine Antwort abzuwarten hinzu und beugte sich in ihr Auto, während er die Zeit nutzte, um sein Rad auf auf dem Bürgersteig abzustellen. Mit einer braunen Handtasche kam sie wieder zum Vorschein. Sie zog ein Smartphone heraus und begann im Kalender zu blättern.

    »Nächsten Freitag?« Sie sah ihn fragend an.

    »Gerne«, sagte er freudig erregt. Freitag ist gut. Am Wochenende ist es meistens gut. Seit heute wäre jeder Abend gut.

    »Dann machen wir es doch. Wir brauchen nur noch ein Restaurant.«

    »Ich kenne einen Italiener hier in der Nähe. Nichts Spektakuläres. Eben ein Italiener.«

    »Warum nicht.«

    Das Ristorante Romantica war eine unglückliche Wahl. Wie kann man ein Restaurant empfehlen, an dem man nur vorbeigeradelt war, fragte er sich, als er an einem Tisch direkt neben dem Durchgang zu den Toiletten saß und irritierte auf die gelb gewischten Wände mit Aquarellen der Insel Ischia und der Amalfiküste warf. Ein Ambiente, wie er sich es vorstellte war das nicht. Ein Interieur aus Tropenholz mit gebürstetem Stahl zum Beispiel, raffiniert ins Licht gerückte Pflanzenarrangements und an den schneeweißen Wänden Drucke von Dennis Hopper oder Jack Vettriano, dessen Favourite Girl er erst vor einer Woche in seinem Büro aufgehängt hatte und morgen mit dem Auto wieder abholen wollte. Stattdessn Holzdekor so weit das Auge reichte, kunstlederne Speisekarten in Sichthüllen und Eros Ramazzotti satt. Er atmete tief aus. Ein Tempel subtiler italienischer Folklore, in den er sie bestellt hatte. Sie könnte das als schlechten Geschmack interpretiert.

    Als sie am Eingang erschien und sich etwas unsicher umsah, erhob er sich von seinem Platz und ertappte sich wieder einmal dabei, wie er auf seine Armbanduhr schaute. Er konnte sich diese Eigenart einfach nicht abgewöhnen und hoffte immer, dass man es nicht bemerken würde. Nachdem sie ihn erblickt hatte, stolzierte sie zielstrebig, ein sicheres Lächeln im Gesicht und von den beiden Kellnern mit bewundernd verfolgt, auf ihn zu.

    »Hallo«, sagte sie mit weicher Stimme und streckte ihre feingliedrige rechte Hand aus, auf deren rot lackierter Mittelfinger ein großer, bernsteinfarbener Ring steckte.

    »Warten Sie schon lange?« Sie hat es also registriert.

    »Nein, höchsten fünf Minuten. Freut mich aber, dass es geklappt hat. Setzen Sie sich doch«, sagte er. Sie quittierte seine ausladende Handbewegung mit einem Lächeln. Anerkennend verfolgte er ihre geschmeidigen Bewegungen, während sie sich auf dem rustikalen Holzstuhl setzte. Ihre bemerkenswerte Figur durch Sie hatte ein eng anliegendes, dunkelblaues Baumwollkleid betont. Blickfang ihrer grazilen Halspartie war eine Kette aus schwarzen, matten Kugeln, die der Linie eines dezenten Ausschnitts folgte. Sie trug die halblangen blonden Haare diesmal offen und hatte sie auf der einen Seite hinter das Ohr gelegt, das von einem kleinen blauen Stecker betont wurde.

    »Wie geht es Ihnen?«, fragte

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