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MAYDAY
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eBook348 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

New York im Jahre 2136: Die Technik ist fortgeschritten und die politischen und wirtschaftlichen Interessen haben sich ausschließlich auf eine konsumorientierte Massengesellschaft konzentriert. An einem schicksalhaften Tag im Mai kreuzen sich die Wege einer Handvoll Menschen, deren Aufeinandertreffen sowohl Folge als auch Auslöser der gewaltigen Veränderungen sind, die auf die Menschheit zukommen.
Der junge und engagierte Journalist Tom wird von den politischen Ereignissen aus der Bahn geworfen und sieht sich gezwungen seine hochexplosiven Informationen anders zu verwenden, als ursprünglich geplant. Doch noch bevor er sich damit befassen kann, wird er bereits in einen Mordanschlag auf jenen Mann verstrickt, der für das ambitionierte Marsprojekt der Weltraumbehörde von entscheidender Bedeutung ist.
Ohne es zu wissen, sind Attentäter und Opfer, Retter und Marionetten Teile eines Beziehungsgeflechts, das die Protagonisten scheinbar unausweichlich ihrem Schicksal zuführt. Während die Zukunft der Erde sich aus dem Chaos der Ereignisse abzuzeichnen beginnt, versuchen die Beteiligten ihre Rollen zu begreifen um ihr Schicksal doch noch in die eigenen Hände nehmen zu können.

Dieser gesellschaftskritische Roman ist sowohl Science- als auch Social-Fiction. Die prägnanten Charaktere kreisen innerhalb der neuen Gesellschaftsordnung wie Himmelskörper um ihr gemeinsames Schicksal, teils in weitem Abstand, teils auf Kollisionskurs. Während sich immer mehr herauskristallisiert, worauf all diese Einzelereignisse hinauslaufen, erhebt sich jedoch zunächst die Frage, welche Bedeutung Amerikas letzter Eskimo für das größte Menschheitsprojekt aller Zeiten hat.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Feb. 2015
ISBN9783732324880
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    Buchvorschau

    MAYDAY - Hans-Uwe Röwer

    Thomas J. Kolby

    Vertieft in die Schaubilder, die in leuchtenden Farben über die Bildschirme huschten, bemerkte Thomas J. Kolby nicht, dass seine Kollegin Juliet Lindsey bereits eine Weile hinter ihm stand und ihn interessiert bei der Arbeit beobachtete. Mit der Fingerspitze tippte sie ihm sanft auf die linke Schulter, sich dabei nach rechts beugend, um ihn zu irritieren. Er warf einen raschen, nervösen Blick zurück, ohne jedoch, da er niemand erspähte, nach der Ursache dieser wahrscheinlich imaginären Störung zu suchen. Er fuhr fort, auf die Tastatur seines Computers einzuhämmern …

    Seit ihrem ersten Arbeitstag, vor ungefähr drei Jahren, wirbelte Juliet wie ein Orkan alles irgendwie Beständige in diesem Büro der NTN, der National Television News Nachrichtenagentur durcheinander. Niemand konnte sich vor ihr sicher fühlen und keines ihrer Opfer durfte sich damit brüsten, nur einmal von ihrer Naturgewalt berührt worden zu sein. Mit ihrem langen, blonden Haar, das sie je nach Gemüt, Laune oder Absicht in charakterisierende Frisuren zu verwandeln vermochte, beirrte sie jedes Mal aufs Neue auch das uninteressierteste Männerherz. Ja, ihr Haar … Wenn sie es wie heute lose heruntergelassen dazu benutzte, ihre verführerischen Blicke nur demjenigen sichtbar werden zu lassen, der gar nichts mit ihr zu tun haben wollte, dann saß jener bereits in der Falle. Trug sie es sportlich zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden, ließ sie wissen, dass jeder Anwesende in dem von ihr markierten Arbeitsrhythmus mitzuwirken hatte. Nahm sie sich die Zeit, es nach einer Seite zu einem Zopf zu flechten, spielte sie das unschuldige Mädel vom Lande, das nach ihren Sorgen gefragt werden wollte. Rollte sie es zu einem Knoten auf, dann verwandelte sie sich in die verschwiegene Sekretärin eines Staatspräsidenten, von der man annehmen durfte, dass sie mehr als alle anderen wusste. Was sie sich vornahm, führte sie durch, auch wenn sie dabei die Nerven ihrer Mitarbeiter strapazierte. Sie zeigte sich gern aufgeschlossen und frei heraus, was aber durchaus Hinterhältigkeit und Verschwiegenheit bedeuten konnte. Wer zu wissen glaubte, woran er bei ihr war, der befand sich mit Sicherheit auf dem Holzweg. Und irgendwas wollte sie von Tom.

    Sie legte ihm beide Hände auf die Schultern. Er unterbrach das Schreiben, versetzte seinem Stuhl einen kleinen Drehimpuls und betrachtete seine Kollegin, die jetzt dicht vor ihm stand, von unten her. Sie versuchte ihre vor Neugier leuchtenden Blicke hinter dem Vorhang einiger Haarsträhnen zu verbergen, welche sie mit einem geschickten Kopfschütteln in ihr Gesicht fallen ließ. Aber Thomas, der auf diese Art von Manöver bereits unzählige Male hereingefallen war, lächelte sie an und wand sich wieder den Monitoren zu.

    Auf die Rückenlehne seines Sessels gestützt, beugte sie sich über ihn und ließ ihr seidiges, nach Shampoo und anderen Zauberwassern riechendes Haar sein Blickfeld verschleiern.

    Er pustete es sich aus dem Gesicht. »Du störst mich, Juliet, ich arbeite.«

    »Was ist los mit dir, Thomas? Warum so abweisend? Tagelang meldest du dich nicht im Büro und wenn du dann mal auftauchst, möchtest du mir keine einzige Sekunde widmen.«

    »Ich stehe unter Druck. Mein Bericht muss noch heute dem Hauptredakteur vorgelegt werden.«

    »Eine winzig kleine Frage nur, die ich stelle, und eine kurz und bündige Antwort von dir. Eine Minute, länger dauert das nicht.«

    »Ich akzeptiere, wenn du mir dabei direkt in die Augen siehst.«

    »Das tue ich doch die ganze Zeit.« Mit beiden Handrücken strich sie sich das Haar in den Nacken und warf den Kopf etwas zurück, um es dort halten zu können. Dass ihr angehobenes Kinn eher herausfordernd als anregend wirkte, merkte sie vielleicht nicht, bewusst war ihr jedoch, dass sie so den direkten Augenkontakt mit Tom mied. »Also, Tom, worum wird es während der Sitzung in der Chefetage gehen?«

    »Welche Sitzung?« Vor einigen Tagen, irgendwo in Toms Terminkalender musste es vermerkt sein, hatte er ein Memorandum aus der Chefetage empfangen, mit der höflichen Aufforderung, sich am Freitag, dem 18. Mai um 17:00 Uhr für eine Sitzung bereitzuhalten. Da keinerlei Hinweise über die Tagesordnung dieses Treffens angegeben waren, hatte er die Angelegenheit, ohne sich Gedanken darüber gemacht zu haben, schnell vergessen. War heute der Achtzehnte? Natürlich!

    Juliet gab nicht so schnell auf: »Mensch, Tom, willst du mich für dumm verkaufen?«

    »Ehrlich, ich hatte es vergessen. Wie spät ist es denn?«

    »Sechzehn Uhr zweiundvierzig. Schau, auf all deinen Monitoren ist es zu lesen. Du musst dich wohl schon auf den Weg machen. Also, worum wird es gehen?«

    »Keine Ahnung.«

    »Komm mir nicht damit. Was denkst du denn, was man von euch will?«

    »Keine Ahnung. Wieso euch? Gilt das nicht für alle? Bist du nicht aufgerufen worden?«

    »Nein, nur Jimmy Baltimore, Walter Goldberg und du stehen aus unserer Abteilung auf der Liste.«

    »Du weißt wie immer mehr als ich. Was sagen Jimmy und Walter? Was erwarten die zwei?«

    »Fragst du mich? Die sind übrigens schon auf dem Weg nach oben. Pass nur auf, dass du nicht zu spät kommst.«

    Juliet wandte sich kurz entschlossen um, das Kinn immer noch in die Höhe gereckt, und stolzierte wie ein beleidigter Reiher zu ihrem Arbeitsplatz auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes.

    Tom verglich seine Armbanduhr mit der Zeitanzeige auf den Monitoren. Er blieben ihm noch einige Minuten, um seine Berichte zu schließen und sie zu speichern.

    Genau in dem Moment, als die Digitalanzeige der Bildschirme auf 16:45:00 Uhr sprang, erschien im oberen rechten Feld der drei Mattscheiben ein Fenster mit dem NTN-Symbol und gleich darauf das Porträt der Hauptsekretärin. Es dauerte einige Sekunden, bis sich das Bild bewegte und die Netznachricht durchkam:

    Herr Thomas J. Kolby Sie werden daran erinnert, sich um 17:00 Uhr in der Chefetage für ein geplantes Treffen einzufinden. Bitte, bestätigen Sie ihr pünktliches Erscheinen.

    Tom drückte die für diesen Zweck vorgesehene Taste und schrieb dann seine Kennnummer in das entsprechende Feld. Er schloss seine Systeme, räumte einige Speicherscheiben und Papiere mit ausgedruckten Informationen zusammen, versiegelte den Anschluss seines Computers und erhob sich von seinem Drehsessel. Er zog die Krawatte fest, brachte die hochgekrempelten Hemdsärmel in Ordnung und knöpfte sie zu. Er steckte sich den Mini-PC in die Brusttasche und ging gelassenen Schrittes in Richtung Aufzüge. Auf dem Wege grüßte er freundlich lächelnd den einen und anderen Kollegen, der von der Arbeit hochblickend Toms Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

    Während der vergangenen Tage hatte Tom zu Hause gearbeitet und das Material zusammengetragen, um seinen an diesem Freitag fälligen Bericht vorzubereiten. Nur einige Informationen, welche NTN nicht über Netz freigab, musste er hier im Büro hinzufügen, deshalb sein heutiges Erscheinen im Organisationsgebäude. Er hatte sich vorgenommen, seine Reportage am frühen Nachmittag, lange vor Redaktionsschluss, zur Überprüfung einzureichen, und es fehlten lediglich einige Details, die er in weniger als einer halben Stunde bewältigen würde. Die Sitzung war ihm völlig in Vergessenheit geraten und er wünschte sich, dass diese so schnell wie möglich vonstattenginge – er hatte andere Dinge im Kopf.

    Vor einigen Wochen, auf einer Reise im kanadischen Nordterritorium, hatte er Linda Perkins kennengelernt und sich in sie verliebt. Sie war eine begabte, intelligente Frau, ein Jahr jünger als er, die ethnologische Studien betrieb. Die Begegnung mit ihr war ausschlaggebend dafür gewesen, dass er seiner Reportage eine menschlichethische Nuance gegeben hatte. Er hatte zum ersten Male in seiner Laufbahn als Journalist das an der Universität erlernte Mandat, die Wirklichkeit nur unter objektiven Gesichtspunkten zu schildern, beiseitegeschoben und eine subjektive Darstellung der Situation zur Schau gestellt. Viele Nächte hindurch hatte er über diese Wendung seiner Einstellung und seines Verhaltens nachdenken müssen. Je länger er grübelte, desto intensiver reifte seine Überzeugung, sich nicht nur der Beschreibung der Realität zu widmen, sondern an ihr mitzuwirken und sie zu beeinflussen. Linda hatte angekündigt, das bevorstehende Wochenende in New York zu verbringen, und Tom wollte unter allen Umständen keine Minute mit ihr versäumen – sie war verdammt attraktiv.

    Im Foyer der Fahrstühle angelangt, steckte Tom seine Erkennungskarte in die Spalte des Öffnungsmechanismus der Eingangssperre. Er nahm die Karte wieder in Empfang, als sie auf der Innenseite der Glasbarriere wieder ausgespien wurde, und befestigte sie mit einer Klammer an seiner Hemdtasche.

    Vor einer der Schiebetüren wartete Jimmy Baltimore. Tom stellte sich zu ihm und grüßte mit einem kurzen Hallo. Er dachte an Linda Perkins und vergaß ganz und gar, dass man innerhalb der Firma unter Kollegen in Situationen wie diesen einen unverbindlichen, oberflächlichen Small Talk zu führen hatte. Es war ihm nicht danach zumute.

    Jimmy jedoch ignorierte Toms Gemütsverfassung und fragte: »Was die da oben wohl wollen?«

    »Wer weiß?«

    »Wir sind nur drei aus unserer Abteilung. Wusstest du das?«

    »Ja! Juliet Lindsey!«

    »Wie die alles erfährt …«

    »Sie ist eben eine spitzfindige Frau.«

    »Vielleicht schläft sie mit dem Boss.«

    »Juliet schläft nie.«

    »Das stimmt auch wieder.«

    Die Tür öffnete sich und die Panoramafenster des an der Außenseite des Gebäudes installierten Aufzugs gaben den Blick auf die anderen beiden Türme des NTN-Komplexes und einen Teil von Manhattan frei. Tom ließ sich immer wieder aufs Neue von diesem Ausblick beeindrucken. Jimmy den Vortritt lassend, wandte er sich direkt zum Fenster und schaute hinaus. Er beobachtete andere Fahrstühle, die wie Luftblasen in einem Glaszylinder nach oben schwebten oder wie Regentropfen an einer Scheibe hinunterflossen. Zwischen dem vierzigsten Stockwerk, an seinem Arbeitsplatz, und dem zweiundsiebzigsten, wo der NTN-Direktor seine Gäste und Untertanen empfing, dauerte der Aufstieg nicht länger als zwei Minuten und verlief derart lautlos und sanft, dass Tom, von der majestätischen Megastadt fasziniert, nicht merkte, wann er aussteigen musste.

    Jimmy holte ihn in die Realität zurück: »Mann, los Tom, der Chef wartet auf uns.«

    »Sind wir schon da?«

    »Klar. Höher hinaus kommt man bei dieser Firma nicht.«

    »Witzbold …«

    Tom hatte sich schon oft Gedanken darüber gemacht, wie erhaben, wie hervorragend, wie erstklassig eine Person sein musste, um einen Konzern wie NTN leiten zu können. Es existierten viele Berichte, Dossiers, Reportagen, Gerüchte, Lobpreisungen und Verleumdungen über den großen William Kenneth Klein, aber wie er wirklich war … wer konnte sich davon ein Bild machen? Tom hatte ihn nur einmal in persona gesehen und das nicht in der Firma als sein Angestellter, sondern viele Jahre vorher, bei einem Galakonzert im neu eröffneten Flughafen im Long Island Sound. Aber das war eine lange Geschichte. Klein müsste jetzt so an die siebzig sein, vielleicht zweiundsiebzig, wie die Nummer seiner Etage.

    Tom und Jimmy traten in die elegant und luxuriös im neuklassischen Stil eingerichtete Empfangshalle und wurden von einer freundlich strahlenden Hostess begrüßt. Sie führte die beiden durch ein Glasportal in ein großräumiges Sekretariat zu einer der dort sitzenden Damen und trat einige Schritte zurück.

    »Sie sind? …«

    Jimmy legte seine Erkennungskarte vor und bestätigte: »James H. Baltimore.«

    »Danke. Und Sie?«

    Auch Tom nahm seine Karte ab und deponierte diese auf dem Schreibtisch: »Thomas J. Kolby.«

    »Sie sind die Letzten.«

    Tom versuchte sich zu entschuldigen, nachdem er ihren Namen von einem Schild ablas, das in golden schimmernden Buchstaben an der Stirnwand ihres Schreibtisches aufleuchtete: »Es gibt viel zu tun, Jane.«

    Sie ging auf seine Anspielung nicht ein: »Sie sind der Letzte … Thomas!«

    »Aber es ist noch nicht zu spät … Jane.« Thomas konnte Leute wie Jane nicht ausstehen. Direktoren, Abteilungsleiter, Sekretärinnen und sonstige Kollegen, die sich wichtig fühlten, nur weil sie dem großen Boss näher zu stehen glaubten als andere, hielt er für aufgeblasene Hampelmänner. Es war ihm klar, dass jeder seinem Posten gemäß zu handeln hatte, aber er verstand nicht, warum der Charakter dabei in die Brüche gehen musste.

    Jane entnahm einem Schubfach zwei transparente Plastikbehälter, stellte diese vor sich und schob in die Deckeltaschen die ihr überreichten Identifikationskarten. »Lassen Sie bitte alle Utensilien hier, die Sie zufällig oder absichtlich bei sich tragen.«

    »Zum Beispiel, Jane …?«

    »Elektronische, chemische und biologische Rechner, Schreiber, Notizbücher, Aufnahme- und Übermittlungsgeräte, Uhren, Schlüssel, Schraubenzieher, Debitkarten, Sonnenbrillen und so … weiter …! Thomas! Sie bekommen alles zurück.«

    »Wunderbar. Und mein fotografisches Gedächtnis?«

    »Das haben Sie mit Sicherheit zu Hause vergessen.«

    »Wie dumm von mir, Jane …«

    Wundersame Dinge gingen Thomas durch den Kopf: Unter welchem Druck musste dieser großartige William Klein leben, wenn er nicht einmal Vertrauen in seine Mitarbeiter oder Untergebene haben konnte. Gewaltige Männer ließen sich wahrscheinlich ganz einfach von minderwertigen Männlein unterkriegen. Es war nicht die Angst um das Leben, was sie zu derlei Maßnahmen veranlasste, sondern die Sorge Macht einzubüßen. Oben zu stehen, wenn auch auf wackligen Beinen, bedeutete ihnen mehr als das sichere Wandern in der Talsohle. Von oben herab konnten sie alle Fäden ziehen und verknoten, aber wehe, wenn sie sich einmal an einem frischen Quellwasser laben wollten. Nur was ihnen hinaufgereicht wurde, war ihnen von Nutzen.

    Tom verglich die Zeitanzeige der an der Wand über Janes Schreibtisch befindlichen Digitaluhr – sie stand auf 16:56 Uhr – mit seiner Armbanduhr, die dreißig Sekunden vorging. Mit übertriebener Langsamkeit streifte er sie sich vom Arm und legte sie in die für ihn bereitgestellte Schatulle. Dann entleerte er seine Taschen in gleicher Weise. Jimmy war bereits bis an die offenstehende breite Eingangstür des Konferenzsaales geführt worden und rief ihm von dort zu: »Mensch, komm schon, Tom. Dein Getue wird hier auf die Großleinwand projiziert.«

    »Es geht uns um die Pünktlichkeit, Jimmy. Jane und ich, wir sind in dieser Beziehung sehr pingelig. In einer Minute bin ich da.«

    Tom ließ sich wirklich nicht gerne unter Druck setzen, schon gar nicht, was die Pünktlichkeit betraf. Es war ihm bewusst, dass NTN einen außerordentlichen Wert auf diese Tugend legte und hatte während seiner Laufbahn in dieser Beziehung nie verfehlt. In seinem Privatleben vermied er es so weit wie möglich, kurzfristige Termine zu vereinbaren, um nicht von unvorhersehbaren, nicht von ihm selbst verursachten Umständen in Zeitnot getrieben zu werden. Sollte dies jedoch einmal geschehen, konnte er sich mit Sicherheit auf schwerwiegende Geschehnisse berufen.

    Um 16:59 Uhr und 45 Sekunden, gemäß der Anzeige auf dem Großbildschirm des Versammlungsraumes, durchschritt Tom den Bogen des Sicherheitsdetektors und gesellte sich dann zu den bereits Anwesenden im Saal. Eine schweigende, freundliche Hostess wies ihm seinen Platz an, den einzigen noch unbesetzten, dessen Lehne ein Band mit seinem Namen trug. Er setzte sich, nickte seinen unmittelbaren Sitznachbarn, deren Namen er nicht kannte, freundlich zu und kümmerte sich wenig um die sich auf ihn richtenden Blicke, nachdem sein Erscheinen als Projektion am Kopfende des Saales erblasste.

    Tom befand sich zum ersten Mal bei einer Zusammenkunft in der Chefetage. Mit einem raschen Blick kalkulierte er die Teilnehmerzahl dieser Zusammenkunft: Es gab drei von Gängen getrennte Blöcke, aus je vier hintereinander stehenden Reihen, mit sechs Konferenzsesseln, alles in allem also zweiundsiebzig. Sein Platz befand sich in der zweiten Reihe des linken Blocks und er nahm an, dass die Sitzordnung alphabetisch vorgenommen worden war, denn Jimmy Baltimore saß ganz vorne und Walter Goldberg nur etwas weiter rechts. Zweiundsiebzig Köpfe fasste der Saal, zweiundsiebzig Köpfe waren geladen. Sollten sie fallen? Ein Gedanke, der Tom für den Bruchteil eines Augenblicks durch den Kopf schoss, dort jedoch keinerlei Spuren hinterließ.

    Der Raum verdunkelte sich und die Projektionswand zeigte das flimmernde NTN-Symbol. Gleich darauf erschien das Gesicht der Chefsekretärin: »Vielen Dank für Ihr pünktliches Erscheinen. NTN-Präsident Dr. William Kenneth Klein, wird in wenigen Sekunden bei Ihnen eintreffen.«

    »Er kommt zu spät!« Er wollte es eigentlich nicht laut aussprechen, aber alle konnten ihn hören. Einige wandten Tom ihre schmunzelnden Fratzen entgegen, andere lachten kurz auf. Die meisten jedoch taten so, als ob sie diese als Impertinenz empfundene Bemerkung gar nicht mitbekommen hätten.

    Die Projektion zeigte jetzt das Dach des NTN-Turms mit dem Landeplatz, auf dem gerade ein eleganter Senkrechtstarter aufsetzte. Einige Personen näherten sich der Maschine. Ein Angestellter mittleren Alters stieg zuerst aus und eilte ins Innere des Gebäudes. Dann folgten zwei Männer, die sich an der Seite der Treppe platzierten und warteten. Eine ganze Weile lang passierte nichts. Endlich erschien eine junge Frau und danach der alt wirkende Chef, um den man sich drängte, um ihm beim Aussteigen behilflich zu sein.

    Thomas wusste wie alle anderen, dass die weibliche Person Kleins Enkeltochter war, die ihn häufig bei geschäftlichen und gesellschaftlichen Besuchen begleitete. Sie besaß ein hohes Ansehen im Milieu der Medienindustrie, da sie ihren Großvater feinfühlig und geschickt zu beeinflussen vermochte, ohne dabei sein Prestige und sein Entscheidungsvermögen zu schädigen. Wie gerne hätte Tom sie kennengelernt, aber sie war unerreichbar für einen einfachen, unter Gehalt stehenden Nationalreporter wie ihn. Sie hatte den kalt und scharf, aber gleichzeitig zerbrechlich klingenden Namen Crystal, Crystal Klein-Skilton.

    Tom war fest davon überzeugt, dass er hier seine Zeit vergeudete. Was interessierte ihn, wie der Boss aus dem Helikopter stieg, wie er von seinen Hampelmännern und -frauen begrüßt wurde, wie er den Gang entlang kam, wie er bei Jane am Schreibtisch einige Utensilien deponierte. Warum all dies Getue? Er sollte sagen, was er zu sagen hatte, so wie üblich übers Netz, und seine eigenen Leute nicht von der Arbeit abhalten.

    Endlich, die Uhr zeigte 17:06, wurde Klein von derselben Hostess in den Saal geführt, die auch Tom behilflich gewesen war. Alle, Tom eingeschlossen, erhoben sich von ihren Sitzen. Obwohl das Erscheinen des Chefs als Projektion beobachtet werden konnte, gab es kaum jemanden, der sich ihm nicht zuwandte, um ihn mit einem schüchternen Lächeln zu begrüßen. Mit undurchschaubarer Miene blickte er an allen vorbei. Tom hätte schwören können, dass niemand je persönlichen Kontakt mit ihm gehabt hatte.

    Vor der Projektionswand angekommen, gab er der Hostess einige leise gesprochene Anweisungen, worauf sie den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss.

    Es herrschte völliges Schweigen. Nach einigen Sekunden wurde der Saal erleuchtet und der Großmonitor von einem Vorhang verhüllt. Erst dann gab der große Klein mit einer kaum merklichen Geste beider Hände das Zeichen, Platz zu nehmen.

    Ohne sich zu räuspern oder sonstiger Verzögerungsmanöver sagte er mit seiner piepsig aber klar klingenden Stimme: »Dieses Zusammentreffen mit Ihnen wird nicht aufgezeichnet. Sie und ich sind die einzigen Zeugen. Weder NTN noch sonst jemand in der Welt wird jemals erfahren, was ich ihnen mitteilen werde. Es ist ihnen untersagt darüber zu sprechen, es anderen zu offenbaren, es im Netz zu publizieren oder sonst wie zu verbreiten. Sollten Sie es dennoch tun, denken Sie dabei an diese Warnung: Es handelt sich um ein Staatsgeheimnis. Was mit Verrätern in unserem Land geschieht, brauche ich Ihnen nicht zu erklären, das Weiße Haus kennt in dieser Beziehung kein Pardon.«

    Klein machte eine kurze Pause, um der im Saal aufgekommenen Unruhe Raum zu geben. Es wurde getuschelt, man rückte verlegen auf dem Sitz hin und her, kratzte sich hinter dem Ohr, pulte nervös an den Fingernägeln und kam nicht dazu, einen klaren Gedanken zu fassen.

    Tom fühlte sich wie vor dem Kopf gestoßen und in all seinen Sinnen blockiert. Was hatte das zu bedeuten?

    »Sie, die hier anwesenden zweiundsiebzig Mitarbeiter der NTN, mit erprobten und anerkannten Qualitäten, sind das professionelle Rückgrat der Organisation, ihr moralisches und ethisches Gewissen. Meine Enkelin Crystal und ich persönlich haben Ihre Lebensläufe und Arbeitsbeurteilungen durchgesehen und Sie zu dieser Sitzung einberufen, um Ihnen eine Bürde aufzuerlegen, der Sie sich nicht mehr entziehen können. Ihr Schicksal, Ihre persönlichen Interessen oder sonstige, für NTN unbekannte Motive, haben Sie zu NTN geführt und Sie hier wirken lassen. Nunmehr ist es mein Schicksal, sind es meine persönlichen Interessen und meine für Sie unbekannten Motive, die mich zu Ihnen führen.

    Was verlange ich von Ihnen? Zunächst müssen Sie das auf Sie Zukommende mit Zurückhaltung über sich ergehen lassen. Danach jedoch, ein Zeitpunkt lässt sich im Moment nicht festlegen, erwarten nicht nur ich, sondern unsere Nation und der gesamte amerikanische Block, dass Sie Ihrer Verpflichtung als Journalisten mit all Ihrem Talent, all Ihren Fähigkeiten und unter allen Umständen nachkommen, jedoch verantwortungsbewusster und unermüdlicher als je zuvor.

    Worum geht es? Die Welt ist in Bewegung; unser amerikanischer Kontinent steht unter Stress. Der Moral der Weltbevölkerung mangelt es an humanistischen Prinzipien, Mikro- und Biotechnik entarten das individuelle Wohlbefinden; Materialismus, Konsumismus, Langeweile, Konformismus und dergleichen zerstören alle unentbehrlichen Werte. Die gesellschaftliche Ordnung zerfällt in Anarchie, Freiheit wird mit Tyrannei gebändigt, die Blindheit eines Einzelnen bestimmt das Sehvermögen der Masse. Intelligenz wird in einem Meer aus Spezialkenntnissen verwässert und Willkür, Gewalt und Terror unterhalten, anstatt zu empören. Die Maschine dominiert den Menschen, die Menschheit degeneriert in eine Evolutionssackgasse; das Feuer der Gegenwart zerstört alle Indizien der Ewigkeit.

    Darum geht es. Sie haben die Welt zum Teil so übernommen, aber niemand kann Sie dazu zwingen, weiterhin an deren Untergang mitzuwirken. Im Gegenteil: Sie werden dazu aufgefordert, mit voller Kraft gegen den Strom zu schwimmen, mit Geschick und Durchsetzungsvermögen einen Weg zu bahnen, welcher für mich, einen alten Mann, zu steil und unzugänglich wäre. Ich habe Sie zu dieser Aufgabe verurteilt.

    Was haben Sie zu erwarten? Zunächst Ihre unverzügliche Kündigung. Sobald Sie diesen Saal verlassen, sind Sie all Ihren Pflichten und Verantwortungen NTN gegenüber enthoben. Sie …«

    Die schon etwas heiser klingende Stimme Kleins wurde von aufbrausenden Protestrufen übertönt. Beschimpfungen, Flüche und bedeutungsvolle Aufschreie füllten den Raum und hielten einige Minuten an. Klein machte keinerlei Anstalten, in das Durcheinander einzugreifen. Einige von Toms Kollegen sprangen von ihren Sesseln auf und gestikulierten mit den Armen. Zwei der weiblichen Mitarbeiter wollten den Saal verlassen, aber sie konnten ihre Absicht nicht durchführen, denn der Ausgang war verschlossen. Jimmy Baltimore, in der vorderen Reihe, stellte sich auf seinen Sitz und ballte beide Fäuste in Richtung des Chefs, den eine Gruppe von Männern und Frauen umkreiste, ohne jedoch handgreiflich zu werden.

    Tom verhielt sich ruhig. Er erstellte gedanklich Wahrscheinlichkeitstheorien und Modelle, mit denen er die Situation zu erklären suchte. Verlangte das Weiße Haus Dinge von NTN, für welche die jetzt fristlos Entlassenen nicht geeignet waren? Warum sonst hätte Klein es erwähnt. Was ließ ein Rausschmiss zum Staatsgeheimnis werden? Zweiundsiebzig auf einmal, war natürlich etwas Besonderes. Worin bestand das Geheimnis? Nicht zu sagen, dass man sie an die Luft gesetzt hatte? Welches Verhalten wurde von ihnen erwartet? Keinen Staub aufzuwirbeln? Die Gewerkschaft nicht einzuschalten? Keine arbeitsrechtlichen Forderungen zu stellen? NTN war eine der wichtigsten Medienorganisationen der westlichen Welt und besaß somit eine enorme Macht, die Meinung der Bevölkerung zu manipulieren. NTN war frei, unabhängig, unparteiisch, jedoch außerordentlich einflussreich und weltpolitisch, -ökonomisch und –ökologisch westlich orientiert. Wurde NTN dazu gezwungen, seine professionelle Ideologie zu korrumpieren, zu prostituieren, an den Staat zu verschachern? Waren Tom und seine in Mitleidenschaft gezogenen Kollegen dabei ein Hindernis?

    Klein machte keinerlei Anstalten, das Chaos im Saal zu beschwichtigen. Er wartete offensichtlich, bis es sich von selbst in Ordnung verwandelte. Und es schien, dass seine Geduld und Charakterstärke unerschöpflich waren, denn seine gut bezahlten und nun in Erregung geratenen Redakteure kamen nicht zur Ruhe. Was konnte Tom unternehmen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? Nichts. Er selbst aber wollte in Erfahrung bringen, ob Klein noch etwas zu sagen hatte. Und dazu gab es nur eine Möglichkeit: ihn direkt zu fragen.

    Er erhob sich, ging nach vorne und näherte sich Klein, indem er sich durch die den Chef umdrängenden Kollegen zwängte. Er stellte sich direkt hinter ihn, neigte sich hinunter und fragte Klein ins Ohr: »Haben Sie noch etwas Wesentliches hinzuzufügen?«

    Klein schüttelte den Kopf.

    »Warum lassen Sie nicht die Tür öffnen?«

    Sich Tom zuwendend sagte er: »Es fehlen noch einige Minuten.«

    »Danke.«

    Die meisten der Anwesenden hatten Toms Annäherung an Klein kaum wahrgenommen. Nur eine kleine Gruppe kam zu ihm, nachdem er sich auf einem leeren Platz in der letzten Reihe, in der Nähe des Ausgangs, niedergelassen hatte und wollte wissen, was los war.

    Er log ihnen vor: »Ich habe ihm gesagt, wie er seine Mutter umgebracht hat.«

    Sie lachten schrill auf, riefen überlaut Schimpfwörter in den Saal, die ungehört im allgemeinen Lärm untergingen und ließen Tom allein.

    Als Tom seine letzte Reportage, die bis zum heutigen Tag noch nicht gesendet worden war, der Redaktion vorgelegt hatte, war er von Gewissensbissen heimgesucht worden, weil sein Bericht subjektive Anschauungen durchblicken ließ. Die Publikation, so war ihm Tage später klar geworden, wäre für seine Laufbahn kein Wertsiegel gewesen. Er hatte gehofft, dass er dieses Material irgendwie zurückgewinnen könnte, um es als freier Redakteur auf den Markt zu bringen. Die Reportage war wesentlich von seiner neuen Bekanntschaft Linda Perkins beeinflusst worden und ließ eindeutig durchblicken, dass es darin nicht nur um eine wirklichkeitsnahe Schilderung ging, sondern darum, persönliche, humane und idealistische Werte als oberstes Prinzip alles menschlichen Handelns

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