Punkt der Wahrheit: Wenn die letzte Welle bricht
Von Leonard Loeper
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Buchvorschau
Punkt der Wahrheit - Leonard Loeper
1
„Wir müssen den Sack jetzt endlich zu machen. Wir können nicht noch länger warten." Parlamentspräsident Wilhelm Scheibel sprach recht leise, aber deutlich genug, um seine Worte vor dem gedämpften Lärm der Stimmen von draußen durch den Raum klingen zu lassen. Das Kabinett saß fast vollständig in dem Konferenzraum. Nur Innenminister Meerburger hatte sich krank gemeldet und ließ sich durch seinen Staatssekretär vertreten. Durch die Panoramascheiben drang das Rauschen der Stimmen der Demonstranten vor dem Kanzleramt leise, aber vernehmbar in den Raum. Diejenigen, die dem Fenster zugewandt saßen, konnten durch die offenen Flächen der Betonfassade einen kleinen Ausschnitt der Menschenmasse auf der Straße sehen.
Martin Schnitzer, der Vertreter des Innenministers, pflichtete bei: „Längst wissen zu viele schon Bescheid. Nur mit den Medien können wir das nicht mehr aufhalten. Es werden immer mehr Unterlagen aus meinem Bereich geleaked, das passiert beinahe täglich und wir wissen immer noch nicht, wer es ist. Sicher sind es mehrere. Allein diese Woche sind vier unserer Mitarbeiter aus dem Inneren, gerade aus den kritischen Ressorts spurlos verschwunden. Es muss noch viele Lecks geben, es geht immer weiter und es sind immer brisantere Unterlagen, die öffentlich werden"
„Was heißt das, Mitarbeiter sind verschwunden? Wie kann das sein?" fragte die Bildungsministerin, Anke Paulowski, mit überraschtem Gesichtsausdruck.
„Hast Du das wieder nicht mitbekommen?, herrschte Scheibel sie offensichtlich genervt an. „Sie kommen einfach nicht zur Arbeit, sind telefonisch nicht mehr erreichbar, ihre Handys sind offline, liegen in ihrer Wohnung, aber da sind sie ebenfalls nicht aufzufinden. Sie sind untergetaucht und das ganz offensichtlich mit professioneller Hilfe.
„Von den Russen oder wem?", fragte die Umweltministerin Lea Müller dazwischen.
„Nee, das ist nicht erwiesen., schnarrte Kevin Krug, der Außenminister. „Die Russen stecken in der Sache doch fest und haben ihre eigenen Probleme. Außerdem ist gar nicht eindeutig, ob und wie sie in dem Programm überhaupt eingebunden sind.
Das Gesicht von Kanzlerin Mängels verzog sich, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Ich bin mir da nicht sicher. Ich habe heute Morgen mit Vladimir telefoniert. Er bleibt wie immer undurchsichtig. Ich glaube ihm nicht. Es könnte genauso gut inszeniert sein. Ihr wisst, dass er das kann. Ich weiß wirklich nicht, wo die Russen stehen." Ihre Stimme konnte ein leichtes Zittern nicht verbergen. Ebenso ihre Hände. Immerhin wackelte sie nicht mehr am ganzen Körper, wie in den letzten Monaten immer wieder. Die Medikamente waren anscheinend endlich richtig dosiert worden, um sie funktionstüchtig zu halten.
„Scheiß auf die Russen! Es geht doch hier jetzt zuerst um uns, Leute! Wenn wir uns die echten Ergebnisse der Umfragen dort ansehen, Präsident Scheibel wies auf den riesigen Monitor am offenen Ende der Tischrunde, „dann ist klar, dass wir keine Zeit mehr haben. Wir müssen jetzt konsequent durchziehen, sonst sind wir alle hier selber dran. Ihr wisst, was das bedeuten kann - für jeden von uns…
„Wir müssen die Leute da draußen endlich von den Straßen fegen. Diese verdammte Bewegung ist bei weitem seit langem das Ansteckendste, was wir im Land, ach was, auf der ganzen Welt haben. Das muss sofort aufhören! Und ich sage: notfalls mit allen Mitteln!" Die Worte klangen kalt aus Mängels Mund.
Der große Bildschirm an der Stirnwand, auf dem eine Tabelle mit Daten zu sehen war, flimmerte kurz. Dann wurde er schwarz. Irritiert schauten einige Minister zu ihm auf.
2
Ungläubig sah die Frau auf Ihr Smartphone. Urplötzlich hatte sich dort ein neues Fenster geöffnet und sie sah in den Konferenzsaal im Kanzleramt. Dort saßen offenbar alle Minister beisammen. Die meisten erkannte sie. In der Mitte des Ovals saß die Kanzlerin, wie immer mit maskenhafter Miene. Links daneben der Parlamentspräsident, rechts von ihr ein Mann, den sie nicht erkannte. Dann der Reihe nach die ganzen bekannten Gesichter der Minister und Ministerinnen. Dazu waren in dem Saal noch ein paar andere Personen, die ihr nicht bekannt waren. Sie konnte nicht nur in den Konferenzsaal sehen, aus dem Lautsprecher waren durch den umgebenden Lärm leise die schnarrenden Geräusche der Stimmen der Anwesenden im Saal zu hören. Hastig griff die Frau in ihre Handtasche und fummelte die kleinen Kopfhörer heraus. Nachdem sie den Stecker im Handy und die beiden Knöpfe in ihre Ohren gesteckt hatte, konnte sie tatsächlich verstehen, was dort gesprochen wurde. Ihr stockte der Atem.
„Wir müssen den Sack jetzt endlich zu machen. Wir können nicht noch länger warten."
„Längst wissen zu viele schon Bescheid. Nur mit den Medien können wir das nicht mehr aufhalten. Es werden immer mehr Unterlagen aus meinem Bereich geleaked, das passiert beinahe täglich und wir wissen immer noch nicht, wer es ist. Sicher sind es mehrere. Allein diese Woche sind vier unserer Ministerialmitarbeiter aus dem Inneren, also kritischen Ressort spurlos verschwunden. Aber es muss noch viele Lecks geben, es geht immer weiter und es sind immer brisantere Unterlagen, die öffentlich werden"
„Was heißt das, Mitarbeiter sind verschwunden? Wie kann das sein?"
„Hast Du das wieder nicht mitbekommen? Sie kommen einfach nicht zur Arbeit, sind telefonisch nicht mehr erreichbar, ihre Handys sind offline, liegen in ihrer Wohnung aber da sind sie ebenfalls nicht aufzufinden. Sie sind untergetaucht und das ganz offensichtlich mit professioneller Hilfe…"
Der warme Wind wehte ihr eine Strähne ihres langen schwarzen Haares vor das Gesicht. Die Frau strich sie beiseite, sah auf und bemerkte, dass sie nicht nur mit ungläubig aufgerissenen Augen, sondern obendrein mit offenem Mund da stand. Schnell klappte sie ihre Kinnlade wieder hoch. So wollte sie nicht gesehen werden, hier, umgeben von tausenden Menschen. Sie war Ende vierzig und, wie sie auch selbst fand, ziemlich attraktiv. Sie war auch nicht zufällig sehr gepflegt und adrett gekleidet zu dieser Demonstration gegangen. Sie wollte damit zwar nebenbei dem negativen Bild entgegen wirken, das die offiziellen Medien beharrlich von den Demonstranten darstellten, aber nicht nur. Nach all den einsamen Monaten wäre es ihr auch recht, wenn sie unter den abertausenden Menschen vielleicht endlich doch zu einer interessanten neuen Begegnung käme. Sie hatte heute schon über sich selbst lächeln müssen, weil sie sich dabei ertappte, wie anziehend sie einige der jüngeren Polizisten fand. Die meisten waren ihr im Übrigen nicht nur relativ entspannt, sondern sogar überraschend freundlich begegnet. Sie hatte daher die Hoffnung gehabt, die Veranstaltung würde friedlich bleiben. Doch das hier, die Worte, die anscheinend in diesem Moment dort im Kanzleramt gesprochen wurden, änderten alles. Angestrengt lauschte sie weiter.
„Scheiß auf die Russen! Es geht doch hier jetzt zuerst um uns, Leute! Wenn wir uns die echten Ergebnisse der Umfragen dort ansehen, dann ist klar, dass wir keine Zeit mehr haben. Wir müssen jetzt konsequent durchziehen, sonst sind wir alle hier selber dran. Ihr wisst, was das bedeuten kann - für jeden von uns…"
„Wir müssen die Leute da draußen endlich von den Straßen fegen. Diese verdammte Bewegung ist bei weitem seit langem das Ansteckendste, was wir im Land, ach was, auf der ganzen Welt haben. Das muss sofort aufhören! Und ich sage: notfalls mit allen Mitteln!"
Fassungslos sah sie sich um und erkannte bei den andern Menschen um sie herum, die ebenfalls auf ihr Smartphone sahen, den gleichen ungläubigen Gesichtsausdruck. Einige stießen ihre Nachbarn an und drehten ihnen das Display zu, um ihnen zu zeigen, was da zu sehen war. Diese zückten dann ihr eigenes Handy um darin offensichtlich dieselben Bilder zu finden. Dieser Effekt breitete sich in der Masse der Menschen aus wie konzentrische Wellen, als hätte jemand Steine in die Oberfläche eines stillen Sees geworfen.
3
„Was können wir noch aus den Zahlen machen? Was schlagen denn die Kollegen vom Robert-Oppenheimer-Institut und der Clarity-Klinik vor?"
Scheibels Blick wandte sich dem Gesundheitsminister zu. Jan Scheit räusperte sich, rückte sich die Brille zurecht und setzte dann sein schiefes Lächeln auf. Dabei flatterten die Mundwinkel leicht, weil ihm das falsche Lächeln zusehens schwerer fiel.
„Nun, wir…, also die machen dort was sie können. Langsam wird es aber logistisch kaum noch machbar die Zahl der täglichen Tests weiter zu erhöhen, auch, weil uns gerade massiv Personal wegbricht. Und selbst damit würden wir ja keine Infektionswerte mehr darstellen können, mit denen man die Leute wirklich erschrecken kann. Etwas anderes käme heraus, wenn konsequent nur noch die voreingestellten Schnelltests zur Anwendung kämen. Aber dann müssten wir dafür sorgen, dass niemand mehr eine zweite Prüfung machen kann. Auch den Kniff der Österreicher mit den Rhino-Viren haben die meisten inzwischen durchschaut, nicht nur in Österreich. Und wo jetzt einige bei der WHO kalte Füße kriegen und den PCR-Test relativiert haben, wissen die da draußen, dass wir damit im Prinzip den Fettgehalt der Sonne messen, aber keine Infektion nachweisen können."
Der Parlamentspräsident fragte unwirsch dazwischen: „Warum veröffentlichen die vom ROI eigentlich immer noch alle Zahlen? So kann sich doch jeder Depp inzwischen die tatsächlichen Verhältnisse ausrechnen. Warum machen wir da nicht einfach den Deckel drauf und lassen halt nur noch das veröffentlichen, was wir brauchen?"
„Dazu ist es wohl zu spät. Dieser verdammte Doktor aus dem Kaff am Rhein und all die anderen haben weite Teile der Bevölkerung und immer mehr Juristen längst hellhörig gemacht. So ein Schritt jetzt wäre sofort als offener Betrug erkennbar und würde noch mehr Leute auf die Barrikaden bringen. Inzwischen wissen einige Bürger sowieso mehr vom Thema Viren als wir – zumindest als wir wussten, bevor ihr diesen Zirkus gestartet habt.", widersprach Justizministerin Andrea Lichtwell.
Wirtschaftsminister Paul Jungmüller meldete sich zu Wort: „Dazu kommen die ganzen anderen Typen, wie dieser widerlich fröhliche ADS-Typ, dieser Unternehmer, der gleich mal Tabellen ins Internet gestellt hat, mit denen im Grunde jeder Hansel selbst ziemlich genau die realistischen Ergebnisse ausrechnen kann." Die Entrüstung ließ sein voluminöses Gesicht beben.
„Warum ist das alles immer noch nicht abgeschaltet?", maulte Präsident Scheibel genervt in Richtung Scheit.
„Wir tun täglich mit unseren Social-Media-Partnern so ziemlich alles, wofür man irgendwie halbwegs eine Plausibilität hinbiegen kann. Aber da draußen im Netz sind inzwischen verdammt viele aktiv und viele von denen haben erschreckend viele Follower. Es werden jeden Tag mehr. Die ganzen neuen alternativen Kanäle kriegen wir schon gar nicht so schnell alle in den Griff. Wenn wir ehrlich sind, funktioniert der ganze Plan mit der Meinungssteuerung bei Weitem nicht so reibungslos, wie in den Simulationen. Dazu kommt, dass irgendwelche dummen Nerds in Kalifornien oder ein fehlerhafter Algorithmus ein paar Mal sogar öffentlich-rechtliche Beiträge gelöscht haben. Sowas fällt dann natürlich zusätzlich auf." Unglücklich schielte Scheit dabei durch seine Brille.
„Selbst die Intervention bei den Banken hat nichts genutzt. Du lässt ein Konto kündigen oder sperren und am nächsten Tag haben die schon ein neues und ihre Anhänger pumpen es eifrig mit Geld voll. Denen kriegst Du nicht mal mit Inhaftierung das Maul gestopft. Dann kommen sofort hunderte Anwälte und schlagen Alarm. Ein Unfall mit Genickschuss wäre ‘ne sichere Sache, aber das ist auch nicht gerade diskret zu machen.", ergänzte Finanzminister Ulf Schulze.
„Gibt es denn bei denen keine Schwachpunkte, irgendein schmutziges Geheimnis, dass man glaubhaft ans Licht der Öffentlichkeit zerren lassen könnte?", fragte nun Gesundheitsminister Scheit und grinste dabei besonders schief.
„Ja, irgendwelchen Dreck muss man da doch finden können, irgendwie eben…", sprang ihm Armin Schmirgel, der Verkehrsminister bei.
„Das sagen ja grad die Richtigen!", entfuhr es der Kanzlerin mit eisigem Gesicht.
„Zurück zum ROI und den Infektionszahlen. Warum nicht einfach nur noch Schätzungen herausgeben, wie sie