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Amerikas letzter Eskimo: Teil 1
Amerikas letzter Eskimo: Teil 1
Amerikas letzter Eskimo: Teil 1
eBook380 Seiten5 Stunden

Amerikas letzter Eskimo: Teil 1

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Über dieses E-Book

New York im Jahre 2136: Die Technik ist fortgeschritten und die politischen und wirtschaftlichen Interessen haben sich ausschließlich auf eine konsumorientierte Massengesellschaft konzentriert.
Der junge und engagierte Journalist Tom, der mit zahlreichen Kollegen aus politischen Gründen entlassen wurde, macht sich mit Amerikas letztem Eskimo auf den Weg, die Welt zu verändern. Dabei geraten Sie ins Visier des amerikanischen Präsidenten, der durch den Eskimo seine Wiederwahl gefährdet sieht. Doch auch eine Widersacherin des Präsidenten kann Tom für Ihre Pläne gebrauchen.
Erneut kreuzen sich die Wege der Beteiligten, doch diesmal nicht unbemerkt und alle Risikofaktoren an einem Ort versammelt führen zum scheinbar Unvermeidlichen …

Dieser gesellschaftskritische Roman ist sowohl Science- als auch Social-Fiction. Die Protagonisten durchlaufen prägende Ereignisse, die sie verändern und zu dem machen, was ihre jeweiligen Aufgaben von ihnen verlangen. Nicht jeder kann die ihm zugedachte Rolle in diesem komplexen Spiel überleben, einige sollen es nicht und schaffen es dennoch, wodurch sie zu unkalkulierbaren Risiken werden - für alle Beteiligten.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Juni 2015
ISBN9783732347032
Amerikas letzter Eskimo: Teil 1

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    Buchvorschau

    Amerikas letzter Eskimo - Hans-Uwe Röwer

    Alex

    Im Netz wurde es täglich wiederholt: Der Monat März dieses Jahres auf der nördlichen Hemisphäre war bislang der kälteste März seit über einhundert Jahren. Alle Welt beklagte sich darüber, obwohl von den Monaten Januar und Februar das Gleiche behauptet worden war. Vom herannahenden Frühlingsanfang, dem Kalender nach am 21. März, und gemäß der Empfindungen der Menschen in dem Moment, da der Körper von einem wärmenden Sonnenstrahl berührt wurde, war weit und breit keine Spur zu erkennen.

    Toms bereits vereistes Gemüt schmolz in wenigen Sekunden, als er am Mittwoch, dem 14. März 2136, im Netz die Stimme seines jüngeren Bruders James sagen hörte: »Mein Geburtstag ist in zwei Tagen.«

    »Daran brauchst du mich nicht zu erinnern.«

    »Ich werde zweiundzwanzig.«

    »Auch das weiß ich.«

    »Ich möchte, dass du mir etwas Besonderes schenkst.«

    »Was kann das wohl sein?«

    »Ein Teil deines Lebens.«

    »Ich begreife nicht, was du meinst.«

    »Schenke mir eine Woche deines Lebens.«

    »Wie ist das möglich?«

    »Ich habe eine Einladung bekommen, nach Guam zu fliegen, um dort ein Programm zu testen, das ich einer Raumfahrtgesellschaft übersandt habe.«

    »Wie kommst du dazu?«

    »Es gab eine Ausschreibung und …«

    »Ich verstehe, man interessiert sich für deine Programme.«

    »Ist das nicht toll? Begleitest du mich?«

    »Nach Guam?«

    »Ja. Eine Woche.«

    »Meine Arbeit …«

    »Schreiben kann man überall.«

    »Ich kann doch nicht so einfach …«

    »Das wäre das beste Geschenk für mich.«

    »Ich müsste um Erlaubnis bitten.«

    »Klar.«

    »Und die Reisekosten …«

    »Ich darf eine Vertrauensperson einladen.«

    »Vertrauensperson?«

    »Natürlich, jemand der nicht ausplaudert, worum es geht. Du bist meine einzige Vertrauensperson. Was sagst du dazu?«

    »Wann sollst du denn fliegen?«

    »Morgen.«

    »Was? Morgen?«

    »Ja, am Freitag feiern wir zwei dann meinen Geburtstag in Guam.«

    »Das ist ziemlich überstürzt. Wie lange hältst du diese Nachricht schon zurück?«

    »Vor einer Stunde bin ich informiert worden. Man verlangt von mir eine kurzfristige Entscheidung.«

    »Eine merkwürdige Gesellschaft.«

    »Vater und Mutter raten mir, es zu tun.«

    »Klar, ich rate es dir ebenfalls. In meiner Firma wird jedoch alles langfristiger geplant.«

    »Ganz klar, darum hinken die Netzorganisationen mit ihren Nachrichten immer hinterher.«

    »James Madison!«

    »Ich bitte dich darum.«

    »Guam?«

    »Es soll dort keinen Winter geben. Ist das nicht verlockend?«

    »Ich kann es mir kaum vorstellen.«

    »Tu das lieber und übermittele mir innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten deine Zusage. Die Fluggesellschaft fordert dann direkt bei dir deine Personalien an.«

    »In fünfzehn Minuten?«

    »Wenn du es sofort tätest, wäre es noch besser. Mir liegt sehr viel daran.«

    »Mensch, James, du stellst mich ganz schön auf die Probe.«

    »Guam! Ewiger Sommer! In einer Woche bist du wieder in deiner Eisbox New York!«

    »Ich überlege es mir.«

    Tom brauchte nicht viel zu überlegen, denn es handelte sich um eine einmalige Gelegenheit für seinen Bruder. Und wie dieser gesagt hatte: Er war die einzige verfügbare Vertrauensperson. Er sprach sofort seinen Abteilungsleiter Marvin an und erhielt die Genehmigung, ihm wurde jedoch eine Bedingung gestellt: »Am 23. März brauchen wir dich in Anchorage.«

    »Alaska?«

    »Ja, von dort startet eine Tour in den Yukon und die Nordwest-Territorien.«

    »Das ist ja fast am Nordpol.«

    »Na und? Da kannst du dir deinen Sonnenbrand von Guam abkühlen.«

    »Was für eine Tour?«

    »Einige Wissenschaftler sind dabei, eine großartige Entdeckung zu machen. Wir haben dich dazu auserkoren, ihnen diskret auf die Finger zu schauen und darüber zu berichten.«

    »Warum schickt ihr nicht jemand anders?«

    »Niemand anders verlangt zu dieser Zeit Urlaub für einen Trip nach Guam.«

    Jedes Zugeständnis hatte eben seinen Preis.

    Toms Beruf und James’ Studium waren in den vergangenen Jahren die Ursachen dafür gewesen, dass sich der persönliche Kontakt zwischen ihnen auf ein Minimum reduziert hatte. Der gemeinsame Aufenthalt auf Guam zeigte beiden, wie viele Ideen und Meinungen sie teilten und wie sehr sie zusammenpassten. Tom fühlte sich glücklich, die Einladung akzeptiert zu haben, und es machte ihm gar nichts mehr aus, vom tropischen Pazifik aus direkt nach Alaska zu fliegen.

    Beim Abschied erhielt Tom einen unerwarteten Ratschlag seines um sechs Jahre jüngeren Bruders: »Verschwende dein Leben nicht damit, über Dinge zu berichten, in die du nicht persönlich involviert bist oder bei denen du deine eigene Meinung für dich behalten musst. Das einzige Tor zur Wahrheit ist das Herz und deines ist so wunderbar riesig.«

    Der Flug von Guam nach Anchorage ging über Tokyo und dauerte sieben Stunden. Tom nutzte diese Zeit, um über das von James Angedeutete nachzudenken. Er gab ihm recht: Die Berichterstattung sollte die Welt so zeigen, wie der Berichterstatter sie wahrnahm.

    Einfühlungsvermögen und subjektives Empfinden lagen der Wahrheit näher als kaltherzige Objektivität. Die nach Information gierende Welt fraß alles, was ihr vor die Füße geworfen wurde: Brutalität, Aggressivität, Gewalttätigkeit, Kriminalität, Unfälle, Desaster, Kriege und dergleichen. Ein Flugzeugabsturz ohne Leichen schmeckte den Netzbenutzern wie ein Steak ohne Salz, das menschliche Feingefühl und das eigene Vorstellungsvermögen wurde seit Generation ständig weiter reduziert und war bereits fast völlig abhandengekommen. Wie paradiesisch es wohl gewesen war, als die Geschehnisse auf der Welt noch über Radio verbreitet wurden, oder gar zuvor, als man durch einen Brief oder einen mündlichen Bericht die Nachrichten erfuhr und dann auch nur diejenigen, die es anging.

    An den Hochschulen lernte man, dass der Informator, der Reporter und Publizist den Rahmen der Objektivität nie überschreiten durfte. Er durfte auf keinen Fall seine eigene Meinung oder seine eigenen Gesichtspunkte durchblicken lassen. Der Informierte sollte nicht beeinflusst werden, damit er eigene Schlüsse ziehen konnte. In Wirklichkeit wurde damit genau das Gegenteil erzielt, nämlich Abgestumpftheit, Gedankenlosigkeit, Apathie – alles Schwächen, die den fruchtbaren Nährboden bildeten, auf dem die Manipulation der Masse gedieh. Und darauf kam es wohl im Endeffekt an: Massenbeeinflussung. Das Potenzial der Masse bestand darin, auf ihre Trägheit bauen zu können. Wie ein Gletscher floss sie von einem Jahrzehnt ins andere, von einer Generation in die darauf folgende, und sie riss alles mit sich, was sich ihr in den Weg stellte. Zynisch kaltblütige Information erhöhte ihre Vereisung, ehrliche und warmherzige Berichterstattung brächte sie höchstwahrscheinlich zum Schmelzen.

    Vor allem waren es die Regierungen und Großkonzerne, die aus diesem Umstand einen Nutzen zogen. Für langfristige Planungen und Prognosen benötigte man Stabilität und Trägheit. Während hundertfünfzig Jahren visueller und virtueller Informationsübermittlung hatte man herausgefunden, worauf die Masse ansprach und wie sie daran gefesselt werden konnte: Die Einführung des Individuums in die Massengesellschaft begann schon in der Wiege. Wer vor und während der Geburt bereits von Kameraaugen beobachtet und überwacht wurde, zögerte nicht lange, dem Kamerabild zu huldigen. Sportveranstaltungen, Unfälle, Feierlichkeiten oder sonstige Ereignisse, an denen das Individuum selbst teilgenommen hatte, besaßen nur dann einen Realitätswert, wenn es von irgendeiner Kamera festgehalten worden war und sich unzählige Male repetieren ließ. Was galten das eigene Empfinden und die eigene Erinnerung?

    Tom war bislang diesem Schema gefolgt, weil die Umwelt es von ihm erwartete. Er fragte sich und grübelte darüber nach, ob er die Kapazität besäße, seine berufliche Laufbahn neu auszurichten. Das weiterzumachen, was Erfolg versprach, durfte doch im Prinzip nicht falsch sein. Und sich dem allgemeinen Trend entgegenstellen zu wollen, bedeutete mit Sicherheit Misserfolg und Ausgliederung. Nur wer bereits ganz oben stand – er dachte dabei an seinen Chef William Kenneth Klein und seinen Freund Paul Kinsman – konnte es sich leisten, aus der Rolle zu fallen. Natürlich gab es überall und jederzeit Außenseiter, die mussten sich jedoch, wenn sie überleben wollten, hinter einer Tarnkappe aus Weltfremdheit, Geistesschwäche, Exzentrizität, Fanatismus oder Dummheit verstecken. Etwas Derartiges ließ sich jedoch auf gar keinen Fall mit seinen Lebensprinzipien und Lebenserwartungen vereinbaren.

    Die Landung in Anchorage verlief ohne Hindernisse, obgleich die Wetterverhältnisse das Schlimmste befürchten ließen. Der Winter in Alaska hatte es in sich, die modernen Flugmaschinen andererseits besaßen die Fähigkeit, es mit den Herausforderungen der Natur aufzunehmen. Zum unterirdischen Hangar hatte der wütende Schneesturm Gott sei Dank keinen Zugang und Tom wollte fast verleugnen, was die meteorologische Anzeige felsenfest behauptete: Windstärke Zwölf. Er stellte sich die naive Frage: Was, um alles in der Welt, mache ich hier?

    Mit ihm waren weitere vierzehn Passagiere aus Tokyo angekommen. Tom fragte einen Japaner, mit dem er während des Fluges eine nichtssagende Unterhaltung geführt hatte: »Was, um alles in der Welt, machen wir hier?«

    Dieser blickte ihn mit einem beleidigten Ausdruck ins Gesicht und bemerkte: »Ich weiß, warum ich hier. Du nicht? Traurig für du!«

    Tom wollte sich für seine unbedachte Bemerkung entschuldigen, aber der Japaner wandte sich von ihm ab. Er nahm sich vor, zukünftig rhetorische Fragen für sich zu behalten. Es gab schließlich ernsthaftere Themen, mit denen er sich herumschlagen konnte, was ihn zurück zu der Frage brachte, was, um alles in der Welt, er in Alaska machte.

    Toms Abteilungsleiter bei NTN hatte ihm nur mit wenigen Worten und einem kurzen Einführungsmemorandum darauf vorbereitet, was man einerseits von ihm erwartete und ihm andererseits gestattet sein würde. Er sollte eine Gruppe von Naturforschern begleiten über deren Arbeit und Arbeitsmethoden berichten. Die Fauna in den Nordwest-Territorien war angeblich der Schwerpunkt dieser Untersuchungen. Fühlte er sich fähig, die Arbeit von Wissenschaftlern, die genau wussten, was sie wollten, mit objektiven Kriterien als Reportage wiederzugeben? Offensichtlich war er für diese Mission deshalb ausgesucht worden, weil er dem Chef einen Gefallen schuldete. Oder gab es andere Gründe? Während der Woche auf Guam hatte es sich nicht die Zeit dazu genommen, darüber nachzudenken, wie er diese Aufgabe in Angriff nehmen sollte. Würde man gar seine Anwesenheit als überflüssig und störend empfinden? Der Japaner war vielleicht einer von denen, die ungebetene Gäste zum Teufel schickten. Darum war die Frage Was, um alles in der Welt, mache ich hier? gar nicht so unangebracht.

    Tom ließ sich sein Gepäck aushändigen und identifizierte sich an der Sicherheitskontrolle. Der Beamte wollte wissen: »Journalist, wie ich sehe?«

    »Ganz recht.«

    »NTN, nicht wahr?«

    »Ich kann es nicht leugnen.«

    »Gibt es über Alaska etwas Besonderes zu berichten?«

    »Geglückte Landung bei Windstärke zwölf!«

    »Ha! Wohl noch nicht so viel herumgekommen?«

    »Ich schlafe am liebsten in meinem eigenen Bett.«

    »Wie romantisch. Möchten Sie einen Ratschlag hören?«

    »Das kann wohl nicht schaden.«

    »Vergessen Sie nie, die Heizung aufzudrehen.«

    »Ich werde es mir merken.«

    »Und noch eins …«

    »Ja?«

    »Stehen Sie auf, wenn es im Bett zu kalt wird.«

    »Wird gemacht.«

    Mit einer Tunnelbahn ging die Reise weiter bis zum Fünf-Sterne-Hotel Hochsaison. Tom erledigte die Anmeldeformalitäten, bekam ein Zimmer zugewiesen und man überreichte ihm einen großen gelben Polsterumschlag an Herrn Thomas J. Kolby, Journalist, geschätzter Reisebegleiter des Yukon- und Nordwest-Territorien-Forschungsteams. Er klemmte ihn sich unter den Arm und begab sich in sein Gemach. Der Raum war kühl und Tom stellte als Erstes den Thermostaten um einige Grad höher. Dann warf er sich aufs Bett und riss den Umschlag auf.

    Ein veralteter, klobiger Laptop kam zum Vorschein. Sein Bruder James besaß ähnliche in seiner Sammlung. Tom klappte ihn auf und blickte auf den Monitor, der sofort aufleuchtete. Eine an ihn gerichtete Nachricht flimmerte auf:

    Geschätzter Herr Thomas Jefferson Kolby, es ist eine Ehre für unser Forschungsinstitut, Sie als Reisebegleiter in ihrer Funktion als Berichterstatter für die ehrenwerte NTN-Corporation bei uns begrüßen zu dürfen. Unsere Expedition startet morgen, am Sonnabend dem 24. März. Es ist somit von außerordentlicher Wichtigkeit, dass Sie sich umgehend mit uns in Verbindung setzen. Sie brauchen ihr Hotelzimmer nicht zu verlassen.

    Sobald Sie sich dazu bereit fühlen, Kontakt mit uns aufzunehmen, drücken Sie die Enter-Taste . Falls Sie sich noch eine Weile ausruhen möchten, was Ihnen natürlich gerne gestattet wird, schließen Sie den Laptop und öffnen ihn erst dann wieder, wenn Sie die Kontaktaufnahme wünschen. Wir hoffen sehr, dass Ihnen der von uns gewählte Kommunikationsweg zusagt.

    Hochachtungsvoll, Kaenske Tanagagushi

    Warum sollte Tom lange darüber nachdenken, wann und wie er sich informieren lassen wollte? Er tippte unverzüglich die Enter-Taste. Die Nachricht verlosch und in großen Buchstaben war zu lesen:

    Sie haben sich schnell entschlossen. Das war wünschenswert. Drücken Sie Enter.

    Eine neue Seite kam ins Bild:

    Wir werden nun einige persönliche Fragen an Sie richten, die Sie mit einem oder wenigen Worten zu beantworten haben. Das ist unbedingt erforderlich, damit jedes Mitglied unserer Forschungsgruppe davon unterrichtet wird, welche Toleranzgrenzen durch Ihre Anwesenheit berührt werden. Wenn Sie mit diesem Verfahren einverstanden sind, drücken Sie Enter.

    Dann hagelten Fragen auf ihn ein, die Tom sich bislang selbst nie gestellt hatte und die Schlag auf Schlag zu beantworten waren. Und nach jeder Antwort: Drücken Sie Enter.

    Fast eine Stunde lang dauerte dieses Examen, bis endlich das Schriftbild verlosch und das Bild eines Mannes aufleuchtete. Er besaß ein schmales, ausgemergeltes Gesicht mit europäischen Zügen, konnte aber ebenso gut ein Amerikaner sein. Er versuchte zu lächeln, als er die ersten Worte sprach: »Mein Name ist Dr. Alvin Greenfield, ich bin der Leiter der Forschungsreise, welche Sie zu begleiten gedenken. Alle Teilnehmer sind hier versammelt und jeder Einzelne hat Sie mit den Fragen belästigt, die man für wichtig hielt. Ich werde nunmehr eine allgemeine Abstimmung vornehmen, die darüber entscheidet, ob Sie für das Unternehmen akzeptiert werden oder nicht.« Das Gesicht wandte sich für eine Weile ab, dann kam es zurück und sagte: »Von den zehn Anwesenden, mich eingeschlossen, haben sieben zugestimmt. Wir haben Sie somit akzeptiert und erwarten Sie morgen früh um acht Uhr morgens in Polarinstitut. Für Ihre Ausrüstung ist gesorgt worden. Bringen Sie lediglich die für Ihre Arbeit nötigen Utensilien mit. Ihr weiteres Gepäck, falls vorhanden, können Sie an Ihre Heimatadresse schicken lassen, in unserem Expeditionsfahrzeug ist kein Platz dafür vorhanden und wir kommen nicht nach Anchorage zurück. Der Laptop ist Eigentum des Hotels. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend.«

    Der Monitor verdunkelte sich und der Computer schaltete sich aus. Tom klappte ihn zu, steckte ihn zurück in den Umschlag und ließ ihn auf den Boden gleiten. Er kreuzte die Ellenbogen hinter dem Kopf und streckte seinen Körper der Länge nach über das Bett. Sollte er sich glücklich oder betrogen fühlen, als geschätzter Reisebegleiter anerkannt worden zu sein?

    Mit zehn unbekannten Leuten, wahrscheinlich alles versauerte und humorlose Egozentriker, sollte er während der kommenden zehn Tage das Leben teilen, um danach über deren Arbeit und Untersuchungsergebnisse zu berichten. Es schien, dass Tom der einzige Journalist war, der die Zusage erhalten hatte, das Unternehmen zu begleiten. Mit offenen Augen, spitzen Ohren und sensibler Anpassungsbereitschaft gedachte er seine Aufgabe zu erfüllen, ohne dabei jemanden auf den Schlips oder die Füße zu treten.

    Pünktlich um 8:00 Uhr meldete sich Tom im Polarinstitut. Man wies ihm den Weg in einen Sitzungssaal, wo er, wie man ihm sagte, bereits erwartet wurde. An einem ovalen, lang gezogenen Tisch, der für mehr als zwanzig Teilnehmer Platz bot, saßen sich zwölf Leute gegenüber.

    Greenfield kam auf ihm zu, gab ihm die Hand und sagte: »Willkommen. Nehmen Sie bitte Platz.« Er begleitete Tom zum Kopfende des Tisches, bewegte den dort befindlichen Sessel und bedeutete ihm, sich zu setzen.

    Zu Toms Rechten und Linken befanden sich je sechs Personen unterschiedlichen Alters, die meisten mit asiatischen Physiognomien. Auf den ersten Blick stachen besonders zwei hervor: ein alter Mann mit einem runden, dunkelhäutigen, von Narben und Falten durchzogenem Gesicht, dessen schmale, zusammengepressten Lippen ein weises, überzeugendes Lächeln zum Ausdruck brachten und dessen kaum erkennbares Augenpaar aus engen Sehschlitzen tief in Toms unerfahrene Seele blickten – er war bestimmt ein Eskimo – und eine junge Frau, deren frischer, offener und selbstsicherer Blick Tom zu einem Duell herauszufordern schien.

    Greenfield ergriff das Wort: »Alle Anwesenden kennen Ihren Karriereverlauf und akzeptieren mehr oder weniger die von Ihnen abgegebenen Erklärungen bezüglich Ihrer persönlichen und professionellen Prinzipien. Deshalb sind Sie jetzt hier. Wie es aussieht, besitzen Sie die grundlegenden Voraussetzungen, die einen intelligenten und selbstkritischen Journalisten auszeichnen. Wir alle hoffen, dass Sie unsere Erwartungen nicht enttäuschen.«

    Er machte eine kurze Pause und fuhr fort: »Unsere Expedition soll kein Geheimnis bleiben, deshalb haben wir um die Teilnahme eines Berichterstatters gebeten. Dennoch erwarten wir von Ihnen strengste Diskretion über die Teilnehmer sowie über deren Ansichten und Vermutungen. Wir werden Ihnen keinerlei Zensur auferlegen, denn das widerspräche den Prinzipien freier Meinungsbildung, die wir als Wissenschaftler sehr hoch schätzen. Was wir von Ihnen verlangen ist, dass Sie in Ihrer Reportage die Grenze nicht überschreiten – was leider heutzutage gang und gäbe ist – welche die wissenschaftliche von der journalistischen Arbeit trennt. Unser Team, jeder wird sich Ihnen mit kurzen Worten vorstellen, empfängt Sie als geschätzter Reisebegleiter mit einem warmherzigen Applaus.«

    Allzu warmherzig fand Tom das Klatschen jedoch nicht.

    »Möchten Sie etwas sagen?«

    Tom überlegte einen Augenblick. Dann erhob er sich und brach das erwartungsvolle Schweigen: »Ich danke Ihnen für das in mich gesetzte Vertrauen. Gestern, bei meiner Ankunft am Flughafen, fragte ich mich voller Ungewissheit: Was, um alles in der Welt, mache ich hier? Jetzt weiß ich es: Ich bin Ihr geschätzter Reisebegleiter.«

    Er setzte sich. Einige zeigten ein kurzes, amüsiertes Lächeln. Der Eskimo verzog keine Miene, und dennoch glaubte Tom in irgendeiner Weise erkennen zu können, welche Mitteilung er damit zum Ausdruck brachte: Na, mein Bürschchen, du wirst es bestimmt nicht leicht haben, aber rechne immer mit mir. Und die Blicke der jungen Frau leuchteten herausfordernder als zuvor.

    Nachdem sich alle vorgestellt hatten – der Eskimo meinte, dass er eigentlich namenlos sei, sich aber damit einverstanden erkläre, Alex genannt zu werden, und die junge Frau hieß Dr. Linda Perkins – nahm Tom seine Ausrüstung in Empfang. Ihm wurde eine Koje zugewiesen, die sich wie alle anderen in einem speziellen Großcontainer befand, welcher in den Unterleib eines riesigen Senkrechtstarters eingepasst werden konnte. Er enthielt außer den dreizehn Schlafstätten – zehn Wissenschaftler, zwei Piloten und ein geschätzter Reisebegleiter – einen engen Vielzweckraum für Aufenthalt, Zusammenkünfte und Essen sowie ein Laboratorium voller Instrumente und Apparaturen. Ein zweiter, kleinerer Container war mit Generatoren und technischer Ausrüstung vollgestopft.

    Das Personal des Polar-Instituts und alle Expeditionsmitglieder beteiligten sich an den Abflugvorbereitungen und jedermann schien zu wissen, wo Hand angelegt werden musste. Nur Tom kam sich überflüssig vor. Niemand bat ihn um Hilfe oder einen Gefallen, er konnte lediglich darauf achten, nicht im Wege zu stehen. Auch Alex hielt sich abseits, aber wer immer in seine Nähe oder sein Blickfeld gelangte, sah respektvoll zu ihm hinüber. War Alex gar der Leiter der bevorstehenden Winterreise? Tom wollte nicht warten, bis ihn jemand darauf aufmerksam machte. Er ging zu ihm, stellte sich neben ihn und fragte: »Störe ich?«

    »Mich nicht, aber die Wissenschaftler dort mögen nicht so gerne, wenn man ihnen auf die Finger schaut.«

    »Das kann nur bedeuten, dass sie sich unsicher fühlen.«

    »Ja, all ihre Kenntnisse stehen auf wackligen Füßen.«

    »Erwartet man von dieser Reise überwältigende Resultate?«

    Alex schwieg.

    »Meine Frage klang wie in einem Interview, das war nicht meine Absicht. Was ich wissen möchte, ist: Kann meine Anwesenheit in irgendeiner Weise von Nutzen sein?«

    »Entdecken Sie einen winzigen Fehler und offenbaren Sie diesen im richtigen Moment, das macht Sie unersetzlich.«

    »Das wird nicht einfach sein unter Perfektionisten.«

    »Schließen Sie mich aus dem Kreise aus.« Alex winkte einen der beiden Piloten heran, er hieß Greg, und erklärte ihm: »Tom, unser geschätzter Reisebegleiter stellte mir eine Frage, die ich leider nicht zu beantworten weiß: Warum hat eine derart perfekte Flugmaschine, wie dieser Senkrechtstarter, an einer Turbine vierundzwanzig Rotorblätter und an der anderen nur dreiundzwanzig?«

    Greg sah Tom verdutzt an.

    Tom selbst verbarg sein eigenes Erstaunen. Er fühlte sich in diesem Moment wie eine Figur in Alex’ Schachspiel, aber er wollte kein einfach zu stürzender Bauer sein. Verlegenheit vortäuschend, stotterte er: »Es wäre doch immerhin möglich, dass mit einem der Rotoren irgendetwas nicht stimmt. Wie viele Blätter sollten es denn sein?«

    Greg brummte ärgerlich: »Alle Rotoren haben vierundzwanzig Blätter!«

    Alex bat: »Gehen Sie doch dichter heran, Tom, und zählen Sie noch einmal.«

    Greg hielt Tom die ausgestreckte Hand entgegen, um ihn zurückzuhalten und grunzte: »Ich mache das selbst.«

    Er brauchte nicht groß zu zählen, denn als er näher an die Maschine heranging, erkannte er sofort die Anomalie am linken Rotor. Entsetzt lief er wie ein verwundeter Eber in einen Büroraum und kam alsbald wild gestikulierend mit einer Gruppe von Mechanikern zurück. Tom war von Alex ein Feld nach vorne gespielt worden, den Grund dafür erkannte er allerdings nicht und sein Schachmeister hatte sich stillschweigend aus dem Staube gemacht.

    Der Abflug verzögerte sich um drei Stunden.

    Um zehn Uhr nachts setzte die Maschine in Fort Yukon am Yukon River auf. Die Expedition befand sich nunmehr am arktischen Zirkel, welcher die Reiseroute in Richtung Osten bilden sollte. Das war auch alles, was Tom bislang in Erfahrung gebracht hatte, und zwar aus Bemerkungen, die eigentlich nicht für seine Ohren bestimmt waren. Wann immer er eine Frage stellte, wurde er damit abgespeist, deren Antwort später selbst herausfinden zu können. Auch Alex hatte seit der Episode mit den Rotoren kein Wort mit Tom gewechselt, in stoischer Selbstversunkenheit kapselte er sich von den äußeren Umständen ab. Und die Piloten waren die ganze Zeit voll damit beschäftigt gewesen, die technische Abwicklung des Fluges zu bewältigen.

    Greg und Javaka, der zweite Pilot, kamen in die Passagierkabine und bestätigten die Landung. Es gab hier, meinten sie, die letzte Möglichkeit in einem richtigen, warmen Bett zu schlafen, was sie unter allen Umständen selbst tun und den anderen raten würden.

    Linda Perkins fragte herausfordernd: »Warum denn das? Wir haben doch alles, was wir brauchen an Bord. Im Reiseplan ist keine Übernachtung außerhalb unserer Station vorgesehen.«

    Greg grinste höhnisch und erwiderte: »Wer hält sich an einen Plan, wenn man die Chance hat, mit allem Drum und Dran ins Bett gehen zu können.«

    Einige lachten, die in dieser Bemerkung eine Zweideutigkeit herausgehört zu haben glaubten, worauf Linda Perkins errötete.

    Nach einigem Hin und Her wurde gefragt: »Wer ist für das richtige Bett?«

    Zehn hochschnellende Arme zeigten an, wie einfach eine Planung über den Haufen geworfen werden konnte. Linda, die natürlich nicht einverstanden war, übertünchte die schamhafte Röte ihres Gesichts mit wütender Blässe. Alex blickte in den Innenraum seiner vor der Stirn gefalteten Hände und Tom zählte sowieso nicht.

    Greg, der Pilot, animierte die Gruppe mit plumper Einfalt: »Na, dann ab ins Bett.«

    Tom spürte, dass etwas auf ihn zukam. Er musste nun auf alles gefasst sein. Vielleicht wurde ihm eine neue Karte zugespielt, an der er sich, wenn er nicht aufpasste, vielleicht die Finger verbrennen würde. Etwas lag in der Luft, aber … woher kam es? Was mochte es sein?

    Alex! Langsam, mit der Ruhe einer wachsenden Eiche, hob Alex den Blick, streckte den linken Arm vor und hielt den Anwesenden seine Handfläche mit den fünf gespreizten Fingern entgegen. Lautlosigkeit, Stille und Schweigen waren lediglich ein Nebenprodukt dessen, was er erzielte: Er brachte die Zeit zum Stillstand, ließ sie rückwärts laufen. Er annullierte alles Gewesene. Er entblößte Greg und Javaka, die Piloten, und präsentierte sie als nackte, unförmige Säuglinge mit glotzäugigen Visagen, die man noch nicht gelehrt hatte, wie man die wahren Gefühle und Absichten hinter einer Maske verbarg. Es war keine Vision, Tom konnte es genau erkennen.

    Dann sprach Alex: »Es geht hier darum, über das eigene Wohlwollen zu entscheiden. Unserem geschätzten Reisebegleiter darf deshalb das Recht nicht abgesprochen werden, selbst zu bestimmen, wo und wie er schlafen möchte.«

    Kein Widerspruch war zu vernehmen, nur lautlose, abwertende, auf Tom gerichtete Blicke blitzten auf. Tom ließ sich davon nicht blenden, sondern fixierte seine Sinne auf die immer noch entblößten Fratzen der Piloten. Ganz kurz musste er sich fassen, wenn er den von Alex eingeleiteten Zauber mit einem Statement krönen wollte. Er tat es: »Ich hasse Betten und schlafe deshalb lieber an Bord.«

    Niemand hatte etwas dagegen. Linda Perkins, die viel darum gegeben hätte, es Tom gleich zu tun, brachte nicht den Mut auf, darauf zu bestehen, um bei den anderen keine frivole Hintergedanken zu entfachen. Sie verließ die Maschine als Erste, gefolgt von Alex. Und die Piloten? Sie verbargen einen Zweifel erregenden Unwillen hinter einem abgenutzten Schleier aus Gleichgültigkeit. Was ging hier vor sich?

    Tom stieg in den Wohncontainer hinunter und schaltete die Aggregate ein. Während der Flugvorbereitungen in Anchorage hatte er die Zeit damit verbracht, anhand von Schaubildern und Manuals die Funktionsweise der Containerbehausung zu studieren. Es bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten, die wichtigsten Schalter und Hebel ausfindig zu machen und zu bedienen. In der Küchenanlage wärmte er sich eine Portion vorgefertigter Suppe auf und setzte sich dann, um diese zu essen.

    Greg kam ganz kurz zu ihm herein und fragte: »Ist alles okay?«

    »Alles in bester Ordnung.«

    »Sie bleiben dann also allein hier.«

    »So wollte ich es ja haben.«

    »Na, dann gute Nacht.«

    »Bis morgen.«

    »Ach, bevor ich es vergesse …«

    »Was?«

    »Vielen Dank für den Hinweis mit dem Rotor. Das war kein lebensbedrohlicher Schaden, aber immerhin …«

    Tom machte es wie Greg und streckte dem Piloten die gespreizte Hand entgegen. Dieser verzog sich sogleich, ohne ein weiteres Wort.

    Irgendetwas stimmte nicht mit den beiden Piloten. Alex schien ihre schwarzen Seelen mit seinem schneeweißen Eskimoverstand sofort durchschaut zu haben. Er hatte dann Tom ins Spiel gebracht, um sie zu entlarven. Oder war es Alex selbst, der etwas ausheckte? Woher wusste er, wie Tom auf seine Initiative reagieren würde? Warum wollte er Tom dazu bringen, diese Nacht allein an Bord zu verbringen? Dummes Zeug! Tom sah in allem ein Drama, weil er sich zurückgestoßen und somit frustriert fühlte.

    Er schaute auf die Messinstrumente und notierte deren Werte in seinen Mini-PC: Lokalzeit: 22:58 h, Außentemperatur: -25° C, Wind aus Nordosten mit 40 km/h, Luftfeuchtigkeit: 0 %. Die Motoren der Flugmaschine rotierten im optimalen Bereich, die Markierung des Generators stand im grünen Feld, die Innentemperatur lag bei fünfundzwanzig Grad, die Luftzirkulation funktionierte normal und alle Warnlämpchen leuchteten konstant grün. Nichts fiel aus dem Rahmen und Tom fühlte sich wie ein einsamer Raumfahrer, der auf einem der Jupitermonde gelandet war und darauf wartete, ungeahnte Wunder zu entdecken.

    Einschlafen konnte Tom nicht sofort. Er lag in seiner Koje und knobelte daran herum, ob sich im Wirrwarr seiner Gedankengänge ein roter Faden finden ließe, anhand dessen er sein Verhalten ausrichten konnte. Neun sture, unnahbare, verbissene Wissenschaftler – unter ihnen eine hitzige junge Frau – ließen ihn in einer Entfernung außen vor, die sonst nur zwischen Galaxien

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