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Am Ende Der Dämmerung: Roman
Am Ende Der Dämmerung: Roman
Am Ende Der Dämmerung: Roman
eBook415 Seiten5 Stunden

Am Ende Der Dämmerung: Roman

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Über dieses E-Book

Frankreich im Dezember 1943: Die Hinweise auf eine bevorstehende Landung der Alliierten an der französischen Kanalküste verdichten sich und führen zu immer nervöseren Reaktionen des deutschen Besatzungsregimes. Neben der Forcierung der Arbeiten am sogenannten Atlantikwall gehen die deutsche Auslandsabwehr und die Sicherheitspolizei zunehmend brutaler gegen Widerstandskämpfer vor.
Nach dem Tod ihres französischen Freundes Daniel in den Folterkellern der Gestapo, schließt sich die nach Frankreich emigrierte junge Deutsche Charlotte Karney in Paris einer Resistance-Zelle an, um dessen Kampf gegen ihre Landsleute fortzuführen.
Die attraktive Frau wird als Gesellschaftsdame in einen Kreis hochrangiger deutscher Besatzer und französischer Kollaborateure eingeschleust, um ihnen bei Champagner und Gänseleberpastete Informationen zu entlocken, die dem britischen Geheimdienst zur Verfügung gestellt werden können.
Als sie an einem dieser Gesellschaftsabende von einem deutschen Offizier der Wehrmacht angesprochen wird, nimmt ihr Job ganz neue Dimensionen an und stellt sie vor unerwartete Herausforderungen. Sie ahnt nicht, dass sie von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt wird.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Jan. 2020
ISBN9783750220843
Am Ende Der Dämmerung: Roman

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    Buchvorschau

    Am Ende Der Dämmerung - Ulrich Paul Wenzel

    Vorbemerkungen

    Mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich im Juni 1940 formierten sich die ersten Widerstandsgruppen gegen die Boches, wie die deutschen Besatzer von den Franzosen geringschätzig genannte wurden.

    Die Resistance, in der bis zum Kriegsende tausende Franzosen gegen die Deutschen arbeiteten, war jedoch keine homogene Widerstandsbewegung. Sie unterteilte sich vielmehr in autonom agierende Gruppen, die sich sowohl im zunächst unbesetzten Süden des Landes als auch im besetzten Nordteil bildeten.

    Primäres Ziel dieser Gruppen war es zunächst, das öffentliche Leben in Frankreich, dass vom deutschen Besatzungsregime im Norden beziehungsweise der Regierung des mit den Deutschen kollaborierenden Generals Petain in Vichy geregelt wurde, massiv zu stören. Insbesondere wurde die französische Bevölkerung durch Flugblattaktionen zum passiven Widerstand aufgerufen.

    Später ging es um Beschaffung von Informationen über deutsche Truppenbewegungen und Bewaffnung sowie Sabotageakte gegen militärische Einrichtungen beziehungsweise militärstrategische Ziele wie Brücken, Telegrafenmasten oder Eisenbahntunnel, was einen immer höheren logistischen Aufwand und klare Strukturen innerhalb der Widerstandsgruppen erforderlich machte.

    Auch der Aufbau von Fluchthilfe-Organisationen, die Verfolgte versteckten oder abgeschossenen alliierten Fliegern und Agenten des britischen Geheimdienstes Special Operations Executive (SOE) halfen, Frankreich zu verlassen, spielte eine immer größere Rolle. Dabei entstanden komplexe Fluchthilfe-Netzwerke wie Pat O’Leary-Line und Shelbourne-Line, die die Verfolgten über die Pyrenäen nach Spanien beziehungsweise in die Bretagne schleusten, von wo sie nach England gebracht wurden.

    Nachdem die deutschen Besatzer 1943 damit begannen, junge Franzosen im Rahmen des Service Du Travail Obligatoire (STO) zum Zwangsarbeitsdienst zu verpflichten, gingen in Südfrankreich viele Männer in die Wälder und Berge, wo sie als Partisanen (Marquisards) gegen die Deutschen kämpften.

    Einen besonderen Anteil hatten Resistance-Gruppen auch an der erfolgreichen Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944. Dabei störten sie den Zug- und Schiffsverkehr der Deutschen sowie deren Nachrichtenverbindungen erheblich und attackierten Nachschubkonvois. Zur selben Zeit befreite der Widerstand ganze Dörfer und Städte.

    Frauen spielten in den Resistance-Gruppen von Beginn an eine zunächst wenig sichtbare, aber bedeutende Rolle. Sie wurden in der Anfangszeit zum Verbreiten von Flugblättern und als Kurierinnen eingesetzt oder beschafften als Sekretärinnen in öffentlichen Ämtern Blanko-Dokumente und sensible Informationen. Bald wurden sie auch für die Beherbergung Verfolgter im Rahmen der Fluchthilfe-Netzwerke benötigt. Besonders in den letzten Kriegsjahren waren Frauen zunehmend an Sabotageaktionen direkt beteiligt.

    1

    Freitag, 10. Dezember 1943

    Paris, 9. Arrondissement,

    Rue Lamartine

    Am frühen Abend

    Das Lächeln!

    Sekundenlang verharrte ihr Blick auf dem Bild. Es war zu einem Ritual geworden, dem sie sich trotz der anhaltenden Schmerzen und der nicht enden wollenden Nächte ohne Schlaf nicht entziehen konnte. Sie war es ihm schuldig gewesen.

    Doch diesmal war es anders! Sie spürte eine Veränderung. Eine Kraft, die dieses Lächeln in ihr freisetzte. Dasselbe Lächeln, das ihr monatelang Tränen in die Augen getrieben, sämtliche Funktionen ihres Körpers gelähmt hatte. Die Zeit hatte tiefe Wunden in ihrer Seele hinterlassen und ihr Leben auf den Kopf gestellt. Ihren anhaltenden, substanzlosen Gedanken war jegliche Struktur abhandengekommen. Ihr Dasein schien sich zu einer leblosen Hülle verwandelt zu haben, gleichsam eines morschen Baumstammes, der nur noch von der modernden Rinde zusammengehalten wird.

    Hatte sie das Tal durchschritten? Ging es jetzt endlich wieder aufwärts in ihrem Leben?

    Sie spürte plötzlich, dass die erdrückende Hilflosigkeit, die sie umklammert hatte, wie die mächtigen Arme eines Kraken, einer Entschlossenheit gewichen war, die sie sich nicht mehr zugetraut hatte. Ihr Leben, dem sie kaum mehr eine Bedeutung zugemessen hatte, dass nur noch einen nicht enden wollenden Schrecken für sie bereitgehalten zu haben schien, war plötzlich wieder auf Anfang gesetzt worden.

    Über ein Jahr lang hatte sie gelitten, war in fast jeder Nacht schweißgebadet aufgewacht. Verschwommene Bilder von Daniels geschändetem Körper hatten erbarmungslos an ihr gerüttelt und ihr den Schlaf entrissen. Bilder, die sich in ihrem Kopf fest verankert hatten und ständig präsent waren.

    Chantal nahm das Bild vom Regal, presste ihre Lippen auf die Glasfläche und die schloss die Augen.

    Daniels Leben wurde in der Rue des Saussaies ausgetreten. In einem der vielen Kellerräume, in denen die Gestapo ihr grausames Handwerk betrieb. Es waren unvorstellbare Foltermethoden, das wusste Chantal von den Berichten der wenigen Leidensgenossen, die in die Fänge der Boches geraten waren und das unglaubliche Glück hatten, diese Prozedur zu überleben. Daniel war nicht unter den Glücklichen. Nach allem was sie wusste, musste sein Tod eine Erlösung für ihn gewesen sein.

    Chantal stoppte ihre schmerzenden Gedanken. Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck stellte sie das Bild zurück an seinen Platz und spürte im selben Moment den Zorn, der aus ihren Leiden erwachsen war. Der Energien in ihr freisetzte, die sie jetzt in ihrem Kampf gegen die Boches nutzen musste.

    Es war im Sommer vor fünf Jahren in einem kleinen Cafe in Cayeux-Sur-Mer. Bis heute erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung mit Daniel. Er hatte mit Freunden plaudernd am Nebentisch gesessen und sie nach der Zuckerdose gefragt. Sein sinnlicher, melancholischer Blick, die leuchtenden, braunen Augen, die lockigen, fast schwarzen Haare – sie hatte das Kribbeln in ihrem Bauch kaum noch ertragen können.

    Das Pfeifen des Teekessels riss Chantal aus ihren Gedanken. Sie goss das kochende Wasser in die mit einem gefüllten Teesieb bereitgestellte Tasse. Schnell breitete sich das wohltuende Aroma aus Pfefferminze, Koriander und Fenchel in der kleinen Küche aus, die sie liebevoll mit Daniels alten englischen Möbeln eingerichtet hatte und in der sie sich öfter aufhielt als in den beiden anderen Räumen ihrer Wohnung.

    Chantal führte die heiße Teetasse behutsam an ihre Lippen, nippte am Tassenrand und nahm einen vorsichtigen Schluck. Der Tee brannte ihr auf der Zunge. Aus der Wohnung des Ehepaars Devaux direkt über ihr im dritten Stock, hörte sie wieder die Opernmelodien, die ihr oft über die langen und einsamen Abende hinweghalfen. Sie genoss die Musik geradezu als hochwillkommene Abwechslung zu den schauderhaften Militärmärschen, mit denen der Pariser Rundfunk die Bevölkerung Tag für Tag malträtierte. Wie oft hatte sie sich ein Grammofon oder einen dieser elektrischen Plattenspieler gewünscht, um die Musik abspielen zu können, die sie gerne hörte. Django Reinhardt, zum Beispiel. Aber Daniels Grammofon hatten sie konfisziert und sie selbst hatte kein Geld dafür.

    Chantal erinnerte sich an den frostigen Dezembermorgen, an dem sie mit zwei riesigen Koffern, erschöpft aber unendlich glücklich, in Amiens eingetroffen war. Ein Tag, den sie niemals vergessen würde. Daniel hatte mit einem Tannenzweig mit einer roten Schleife auf dem Bahnsteig gestanden und sie minutenlang in seinen Armen gehalten. Sie wäre vor Glück fast zerflossen.

    Daniel arbeitete als Anwalt in einer, wie er sagte, mäßig erfolgreichen Kanzlei und besaß eine kleine, gemütliche Wohnung im Zentrum von Amiens. Eigentlich war es nur ein großes Arbeitszimmer gewesen, das von einem mächtigen, achtzig Jahre alten englischen Schreibtisch samt einer ebenso antiken Schreibmaschine dominiert wurde. Vor den mit Büchern überladenen Regalen stapelten sich Zeitungen und Zeitschriften. In den Erker hatte er ein in die Jahre gekommenes, giftgrün bezogenes Sofa gepresst, auf dem sie sich an den kalten Winterabenden mit Tee und Keksen aneinander kuschelten und der Musik lauschten. Nebenan gab es ein winziges Schlafzimmer, in dem gerade einmal ein französisches Bett, ein Stuhl und ein kleiner Kleiderschrank Platz fanden und direkt gegenüber, auf der anderen Seite des schmalen Flurs befand sich die Küche. Nur langsam hatte Chantal sich daran gewöhnen können, dass sie kein eigenes Bad hatten. Dafür hatte Daniel eine kleine Zinkbadewanne gekauft, die in der Küche stand und am Wochenende suchten sie eine öffentliche Badeanstalt auf.

    Es war ein wunderschöner Neuanfang in Frankreich, nach den Schrecken der Monate zuvor. Daniels Freunde hatten sie aufgenommen, als wäre sie immer schon eine von ihnen gewesen. Sie kochten gemeinsam, veranstalteten Lesestunden und gingen oft tanzen. Das einzige Manko war, dass sie zunächst keine Arbeit gefunden hatte und auf Daniel angewiesen war.

    Chantal ummantelte die heiße Tasse mit beiden Händen und betrachtete nachdenklich das vom spärlichen Licht in ein schmutziges Braun getauchte Quergebäudes im Hof. Der bröckelnde Putz bedeckte nur noch die Hälfte der Fassade. Was ist aus Frankreich geworden, fragte sie sich immer wieder beim Blick aus diesem Fenster. Aus Paris, der Stadt der Kunst, der Mode, der Düfte und der Liebe? Diese Fassade schien irgendwie als Antwort zu taugen. Schon lange wusste sie, dass es die Stadt, in die sie sich einst ebenso verliebt hatte, wie in Daniel, nicht mehr gab.

    Wehmütig erinnerte Chantal sich an ihren ersten Besuch in Paris. Direkt nach ihrer Ankunft in Frankreich hatte sie Daniel bekniet, mit ihr nach Paris zu reisen. Immer wieder, aber er hatte sie ständig auf den Sommer vertröstet. Im Winter wäre auch Paris nur eine Stadt wie viele andere, sie solle sich etwas gedulden. Erst im Sommer würde Paris sein ganzes Flair entfalten und so sein, wie die Welt sie liebte. Sie hatte es kaum erwarten können.

    Chantal trank von dem Tee. Paris war tatsächlich ein einziger Traum gewesen. Die Stadt hatte viel mehr an schönen Dingen zu bieten, als sie sich jemals hätte vorstellen können. Gleich nach dem ersten Frühstück mit

    Cafe au Lait und Croissants waren sie an den Seinequais entlang geschlendert, hatten in der sanften Nachmittagssonne auf der Ruede

    Bourdonnais Moules a la Creme mit einem Glas Weißwein genossen und waren am Abend zum Montmatre hinaufgestiegen.

    Überhaupt Montmatre, die hübschen Fassaden in den schmalen Gassen, die schillernden Menschen, die intensiven Farben wohin man schaute. Sie konnte gut nachvollziehen, warum sich so viele Maler und Künstler von dieser Atmosphäre hatten inspirieren lassen.

    Die Nächte hatten sie in einem einfachen, aber sauberen Hotel in der Nähe von Sacre Coeur verbracht. Lange hatten sie über die knarrenden Betten gelacht, in denen sie sowieso kaum zum Schlafen kamen. Als sie am Sonntagnachmittag total übermüdet im Zug nach Amiens saßen, stand für sie fest, irgendwann in naher Zukunft mit Daniel nach Paris zu ziehen. Sie konnte von der Energie dieser Stadt nicht genug bekommen.

    Chantal erhob sich vom Küchentisch und ging in das Wohnzimmer. Beim Anblick des dominanten, mit einer grünen Bordüre abgesetzten Kachelofen fiel ihr ein, dass sich ihr Kohlenvorrat im Keller dem Ende zuneigte. Wahrscheinlich werden Kohlen wieder kaum aufzutreiben sein, aber Roger würde ihr bestimmt helfen können. Er hatte für alle Probleme eine Lösung. Es waren schwierige Zeiten und wie alle Franzosen musste sie von Tag zu Tag denken, besonders, wenn es um Brennstoff und Lebensmittel ging.

    Chantal legte ein paar Holzkohlen nach. Nicht einmal ein Jahr nach dem Paris-Wochenende kam der Schock, von dem sie sich immer noch nicht erholt hatte. Die Nachricht im Radio hatte ihr förmlich den Boden unter den Füßen weggezogen. Die deutsche Wehrmacht war in Frankreich einmarschiert und hatte die französische Grenze mit einer erschreckenden Leichtigkeit überrollt. Sie erinnerte sich noch gut an das Schwindelgefühl, mit dem sie sich auf das Bett legen musste. Angst stieg in ihr auf, sie hätte Daniel in diesem Moment so dringend gebraucht, aber der war mit einem Kollegen unterwegs gewesen. Erst am späten Abend hatten sie darüber reden können und gleichzeitig aus dem Radio erfahren, dass die Deutschen schon vor Paris standen. Die folgende Nacht wurde zum Albtraum. Die erste von unzähligen Nächten, in denen sie kein Auge zubekam. Schnell wurde ihr klar, dass die Nazis das öffentliche Leben Frankreichs denselben ideologisch geprägten Regularien unterwerfen würden, wie sie es in Deutschland getan haben und das alle Menschen, die ihnen politisch oder weltanschaulich nicht gesinnt waren, ein beispielloses Martyrium erwartete. Besonders Menschen mit jüdischer Abstammung.

    Kurz nach dem Einmarsch hatten sie Daniel gedrängt, Paris ein weiteres Mal zu besuchen. Sie wollte sich von dem Schrecken ein eigenes Bild machen. Es hatte ihr fast das Herz gebrochen. Auf den ersten Blick schien sich kaum etwas verändert zu haben. Das Leben pulsierte, in den Straßencafés und Restaurants gab es kaum freie Plätze. Auch die Geschäfte und Kaufhäuser waren so stark frequentiert wie zu Friedenszeiten. Doch schnell registrierte sie die riesigen, blutroten Banner mit den schwarzen Hakenkreuzen in weißen Kreisen. Wie Teufelszungen säumten sie die Geschäftsstraßen und verunstalteten die eindrucksvollen klassizistischen Fassaden des großen Pariser Stadtplaners Haussmann.

    Das charmante Gesicht der Stadt war zu einer Fratze mutiert. Und noch etwas anderes hatte das Bild verändert. Verstört registrierte Chantal die vielen hochrangigen Wehrmachtsangehörigen in ihren graugrünen Uniformen, freundlich und zuvorkommend und oft schon mit einer Französin an ihrer Seite. Oder die einfachen Soldaten, die sich mit nackten Oberkörpern und Schiffchen auf den Köpfen bei Bier und Grillwürsten auf den Parkflächen der Stadt vergnügten. Ein surreales Bild, dass sie lange Zeit nicht aus ihrem Kopf bekam.

    Sie machten sich auf den Weg zum Placede l‘Ètolle. Je näher sie kamen, desto lauter schallte ihnen deutsche Marschmusik entgegen und die Menschenmenge, die sich eingefunden hatte, wurde von Sekunde zu Sekunde dichter. Dann ging es nicht mehr weiter. Zwischen den Köpfen hindurch versuchte Chantal einen Blick in Richtung Triumphbogen zu werfen und zuckte im selben Moment zusammen. Eine deutsche Militärparade, die sich wie ein grauer Lavastrom ihren Weg bahnte, verfolgt von zumeist erschrockenen, aber auch euphorischen Blicken der Franzosen im Spalier. Übelkeit stieg in ihr auf, sie musste sich abwenden. Auf dem Weg zum Gare du Nord, von wo aus sie zurück nach Amiens fahren wollten, fiel ihnen ein Plakat auf, das einen von französischen Kindern umringten deutschen Soldaten zeigte. Entsetzt blieben sie stehen.

    Populatrions abbandonèes Faites confiance au Soldat Allemand.

    Sie wollte losschreien, hatte ihre Scham und Wut kaum noch unterdrücken können, doch Daniel nahm sie in den Arm und beruhigte sie. Es war ein entsetzlicher Tag gewesen und sie hatte es zutiefst bereut, ein weiteres Mal nach Paris gekommen zu sein.

    Chantal schaute auf die Uhr. Es war Zeit, sich auf den Weg zu machen. Ein prüfender Blick in den goldgerahmten Spiegel auf dem Flur gab ihr das Gefühl, gut auszusehen. Eigentlich spielte das kaum noch eine Rolle in einer Zeit, wo es nicht mehr um das Aussehen, sondern ausschließlich um das nackte Überleben ging. Aber vielleicht wollte sie gerade deshalb schön sein und genau genommen musste sie es heute Abend auch sein.

    Es hatte sie große Mühen gekostet, ihre rotblonden, halblangen Haare, die sie mit Seitenscheitel trug, am Hinterkopf mit einem geschwungenen Knoten zu schließen. Als Betonung hatte sie die Markasit-Ohrclips und das dezente Silbercollier mit den Glasperlen gewählt. Ihr Blick wanderte nach unten. Das kaminrote Bauwollkostüm mit dem durchgeknöpften Oberteil und dem Schalkragen, das sie erst vor einer Woche erstanden hatte, saß perfekt. Es hatte sie viel Geld gekostet, aber jetzt war sie überzeugt, dass es das wert war. Mit einem knappen Lächeln schlüpfte sie in den grauen Baumwollmantel und wickelte sich den roten Schal um den Hals. Nachdem sie einen letzten Blick in ihre Handtasche geworfen hatte, nahm sie die Hausschlüssel und zog vorsichtig die Wohnungstür zu. Sie schloss zweimal ab und ging vorsichtig das Treppenhaus hinunter. Obwohl sie nicht zum ersten Mal mit den Schuhen unterwegs gewesen war, hatte sie sich immer noch nicht an die hohen Absätze gewöhnt.

    Als sie aus der Haustür trat, wurde sie von einem eisigen Schneeschauer empfangen, der durch die enge Rue Lamartine peitschte. Sofort fürchtete sie um ihre aufwendige Frisur und versuchte ihren Kopf mit der Handtasche zu schützen, was ihr nur notdürftig gelang. Mit schon zur Routine gewordenen Blicken auf die gegenüberliegende Straßenseite sowie in beide Richtungen der Straße überzeugte sie sich, dass alles in Ordnung war. Wie die meisten Pariser hatte sie es sich angewöhnt, auf uninspiriert herumstehende Männer in langen Mänteln und auf parkende schwarze Citroens zu achten. Die Straße war an diesem Freitagabend noch stark frequentiert. Männer hasteten mit Aktentaschen in der Hand von der Arbeit nach Hause. Unter den tief in die Stirn gezogenen Hüten waren die angespannten Gesichter kaum zu erkennen waren. Frauen drängelten mit großen Einkaufstaschen auf der Suche nach Lebensmitteln durch die Menschenmassen auf den Bürgersteigen. Auch sie hatte am Nachmittag fast zwei Stunden in endlosen Schlangen vor Lebensmittelgeschäften zugebracht, um mit den Rationierungsmarken das Nötigste für das Wochenende zu besorgen. Am Ende war sie wie schon so oft entnervt auf einem der von den Boches kontrollierten Schwarzmärkte gelandet, da sie sonst noch nicht einmal eine Flasche Rotwein für das Wochenende im Hause gehabt hätte.

    Chantal bog in die Rue Cadet ein und steuerte auf die nahe gelegene Metro-Station zu. Wie an jeden Morgen, wenn sie zu ihrer Arbeitsstelle fuhr. Fünf Stationen bis Aubervilliers und anschließend bis zum Pere Lachaise. Dort, am Nordende des berühmten Pariser Friedhofs befand sich in der der Avenue Gambetta der kleine Buchladen von Madame Laurent.

    Florence Laurent war eine resolute, aber herzliche Frau, der man ihr Alter von 52 Jahren nicht ansah. Ihre sonore Stimme, die dunkle Hornbrille und kurze, graue Haare sorgten für ein herbes Erscheinungsbild, zu dem der weiche Glanz ihrer blauen Augen nicht passen wollte. Florence hatte ihren Mann im Ersten Weltkrieg verloren und seitdem spielten Männer in ihrem Leben nur noch eine untergeordnete Rolle. Auch wenn sie es so niemals ausdrücken würde, so hatte der Einmarsch der Deutschen vor drei Jahren ihrem Leben eine neue Perspektive gegeben. Fortan hatte sie sich dem Widerstand gegen das verhasste Besatzungsregime verschrieben.

    Chantal erinnerte sich noch genau an ihre erste Begegnung mit Florence. Es war im Sommer 1941, ein Jahr nach dem Einmarsch. Obwohl in Paris alle Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag abgesagt worden waren - schließlich gab es in diesen Zeiten nur für die Boches etwas zu feiern - wollten es sich Daniel und seine Freunde trotzdem nicht nehmen lassen, den heiligen 14. Juli mit einem ordentlichen Fest zu begehen.

    Es war ein heißer Sommertag gewesen. Sie trafen sich auf dem Bauernhof von Pauline und Roger in Pacy-sur-Eure. Eine Band spielte Swing von Benny Goodman, Glenn Miller und Django Reinhardt. Dazu interpretierte ein Duo Chansons von Jean Sablon. Endlich mal wieder richtige Musik! Sie tanzten, labten sich an den mitgebrachten Speisen und diskutierten bis in den frühen Morgen hinein über die angespannte politische Situation. Niemand dachte an den dunkelgrauen Alltag, dem sie sich schon am nächsten Morgen wieder ausliefern mussten. Florence saß an einem Tisch unter einer Kastanie und redete unaufhörlich auf ihre jüngeren Zuhörer ein. Sie sprach von Flugblättern, die unter das Volk gebracht werden müssten, von Netzwerken, die es galt auszubauen, von passivem Widerstand überhaupt und sogar über das Auskundschaften von Objekten, die für Sabotageakte geeignete waren.

    Chantal verstand sofort, dass sie über den Widerstand gegen die Deutschen redete. Als Florence kurz darauf Chantals Geschichte erfuhr, war sie sehr angetan und betrachtete es als ihre persönliche Aufgabe, sich um sie zu kümmern. Sie war fortan ihre Arbeitgeberin, beste Freundin und Ersatzmutter zu gleichen Anteilen.

    Daniel hatte ihr sein Engagement bei der Liberation Nord lange Zeit verschwiegen. Bei der Suche nach einem Buch war sie auf einen Stapel Flugblätter gestoßen, den Daniel gut getarnt in seinem Schreibtisch aufbewahrt hatte. Im ersten Moment war sie schockiert. Widerstand gegen die Nazis war nicht die Auseinandersetzung eines bockigen Kindes mit seiner Mutter. Man brauchte nur einen Blick auf Deutschland zu werfen, um sich ein Bild von diesem Gegner zu machen. Noch am selben Abend hatte sie Daniel darauf angesprochen. In der anschließenden Diskussion auf der Couch, die bis in die frühen Morgenstunden andauerte, hatte sie dann von seinen Beweggründen für das Engagement in der Rèsistance erfahren: Daniel war Halbjude aus der Linie seiner Mutter. Sie hatte ihn spontan umarmt, die Tränen aus seinem Gesicht gestrichen und ihm anschließend mit Worten, die keine Widerrede duldeten, zu verstehen gegeben, dass auch sie seinen Kampf unterstützen werde.

    Als Chantal den Bahnsteig der Metro-Station erreichte, erinnerte sie sich daran, dass sie heute nicht zur Arbeit fahren würde und daher den Zug in die entgegengesetzte Richtung nehmen musste.

    Ihr Ziel war Saint Germain, direkt am südlichen Seineufer.

    2

    Samstag, 30. Juli 1938

    Berlin-Zehlendorf,

    Am Großen Wannsee

    Ein Abend von bleibender Erinnerung

    »Rosa, Olaf und noch eine hübsche Dame«, grüßte der junge Mann mit der schwarzen Melone auf dem Kopf am Eingangstor des riesigen Clubgeländes. »Schön euch zu sehen. Tretet ein und amüsiert euch.« Mit einer ausladenden Armbewegung und einer Verbeugung komplimentierte er die drei Neuankömmlinge auf das Gelände.

    »Vielen Dank, Roland«, lachte Olaf, »das werden wir, oder?« Er zwinkerte seinen beiden Begleiterinnen zu, seiner Frau Rosa und ihrer besten Freundin Charlotte, mit der sie auf der Station 12 des Stubenrauch-Krankenhauses in Lichterfelde als Stationsschwestern zusammenarbeitete. Olaf und Rosa waren begeisterte Ruderer und seit mehr als drei Jahren Mitglieder des Ruderclubs Südwest am Westufer des Großen Wannsees. Kaum ein Sommerwochenende verging, an dem sie nicht mit ihren schnittigen Booten auf der Havel unterwegs waren, zwischen Glienicker Brücke und der

    Wilhelmstadt oder auf dem Tegeler See, ihren bevorzugten Ruderrevieren. Das Sommerfest des Ruderclubs war seit Jahren der Höhepunkt der Saison und galt als das beste unter den vielen Festen, die von den Segel- und Ruderclubs an der Havel veranstaltet wurden.

    »Dort sind noch ein paar freie Plätze«, freute sich Olaf und steuerte sogleich einen Tisch unter einer großen Kastanie an. Die beiden Mädels folgten ihm. »Ist es nicht wundervoll, Lotte?« fragte Rosa, als sie nebeneinander am Tisch saßen. Sie schaute ihre Freundin mit verklärtem Blick an. »Ich liebe nichts mehr als diese lauen Sommerabende an der Havel.«

    »Ja, ich finde es großartig hier«, stimmte ihr Charlotte zu. Auch sie sog die stimmungsvolle Atmosphäre ein.

    Vor dem Clubhaus war eine Bühne aufgebaut, auf der eine Combo gerade ein Foxtrott-Intermezzo spielte, während sich unzählige Paare auf einer Fläche davor zum Tanz drehten. Bis hinunter zum See erstreckte sich die große Rasenfläche, auf der sonst die Boote lagerten und sich jetzt Tische aneinanderreihten, an denen ausgelassene junge Leute aßen, tranken und lachten.

    »Wir haben wirklich wieder einmal Glück mit dem Wetter«, sagte Olaf. »Es hätte auch anders kommen können. Und wie hell es noch ist. Dort drüben ist das Strandbad. Kann man hinschwimmen.«

    »Na ja, jetzt übertreibst du aber«, sagte Rosa und zeigte ihm einen Vogel. »Ach Charlotte, ein paar Häuser weiter, hatte übrigens Max Liebermann gewohnt. Seine Frau lebt wohl noch dort.« Charlotte nickte nachdenklich. »Der würde sich wahrscheinlich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, was in Deutschland gerade vor sich geht.«

    Ein Kellner mit schneeweißer Jacke erschien an ihrem Tisch, ein Tablett leerer Gläser in der Hand.

    »Was wünschen die Herrschaften zu trinken? Das Essen gibt es vorne im Clubhaus.«

    »Ich hätte gerne eine Berliner Weiße, Waldmeister«, sagte Rosa und sah Charlotte fragend an.

    »Ich nehme auch eine, aber eine rote, bitte.«

    »Und mir bringen Sie bitte ein großes Gezapftes«, fügte Olaf hinzu.

    Der Kellner notierte die Bestellungen, nickte und verschwand.

    »Ihr kennt bestimmt viele Leute hier, oder?«, fragte Charlotte. Olaf wiegte den Kopf.

    »Na ja, ein paar Clubmitglieder, aber die sind hier heute in Unterzahl. Ich habe noch keinen Bekannten getroffen, außer Roland am Eingang. Das Fest ist für alle offen, nicht nur für Ruderer.«

    »Genau«, ergänzte Rosa, »und so viele Mitglieder sind wir auch gar nicht.« Charlottes ließ ihren Blick umherwandern und sie verharrte einen Moment am Nebentisch, wo zwei junge Männer saßen und sich angeregt unterhielten. »Und, Lotte, ist etwas für dich dabei?«, fragte Olaf grinsend.

    »Olaf!«, entrüstete sie sich und trat ihm gleichzeitig unter dem Tisch gegen das Schienbein.

    »Na komm schon, meine Liebe, solch ein Fest ist doch eine gute Gelegenheit«, mischte sich Rosa ein, während sie ihren Arm um Charlottes Nacken legte.

    »Du musst langsam mal wieder zu dir finden.«

    Sie gab ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange. Charlotte musste ihr zustimmen. Es war schon fast ein halbes Jahr her, seit sich Harald von ihr getrennt hatte. Nur zwei Wochen vor der Verlobung. Es hatte sie hart getroffen und sie benötigte lange, um sich von diesem Schock zu erholen. Bis heute schmerzte es sie, dass sie niemals den Grund dieser Trennung erfahren hatte. Zuerst vermutete sie einen Zusammenhang mit Haralds beruflicher Situation. Er war bis vor einem dreiviertel Jahr mit Herz und Seele Redakteur beim Berliner Tageblatt gewesen. Als die Nazis die unabhängige Berichterstattung unterboten und der liberale Chefredakteur Scheffer, mit dem Harald sich prächtig verstand, daraufhin das Handtuch geschmissen hatte, wollte auch er nicht länger in der Redaktion bleiben und kündigte. Charlotte hatte es kommen sehen und alles versucht, um ihn davon abzuhalten, was er jedoch mit seinem Verständnis von Journalismus, wie er ihr entgegnete, nicht vereinbaren konnte. Sie war entsetzt. Gerade in dieser Zeit seinen Job zu kündigen, war einfach instinktlos! Ihr war bewusst gewesen, dass er in dieser Zeit keinen neuen Job finden würde und schon bald zeigten sich die ersten Verhaltensmuster, die auf eine beginnende Depression hindeuteten. Dann war er plötzlich weg. Von einem Tag zum anderen. Mindestens achtmal hatte sie vor seiner Wohnungstür in der Weserstraße gestanden, doch sie traf ihn nie an. Irgendwann gab sie auf. Sie dachte bald an eine andere Frau und obwohl sie nie etwas Konkretes in Erfahrung bringen konnte, hatte sie dieser Gedanken bis zum Ende keine Ruhe gelassen. Letztendlich glaubte sie, dass sie sich einfach zu früh kennengelernt hatten, und die Trennung wäre so etwas wie ein Ausbruch Haralds aus einer Routine gewesen. Seit der zehnten Klasse hatten sie zusammen die Schulbank des Dürer-Lyzeums gedrückt und die Liebe zueinander entdeckt. Der Kellner erschien mit den Getränken und riss Charlotte aus ihren Gedanken.

    »Zum Wohl«, rief Olaf und hob sein Bierglas. Charlotte staunte nicht schlecht, als er sein Glas mit einem Zug halb austrank.

    »So, ich habe einen Bärenhunger«, sagte Olaf, während er sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund wischte. »Lasst uns mal etwas essen gehen. Das Berlin Buffet ist hier einsame Spitze.« »Geht ruhig erst einmal«, erwiderte Charlotte, »ich bleibe noch ein wenig sitzen. Habe noch nicht solchen Hunger.«

    »Wir können dir auch etwas mitbringen«, sagte Rosa und erhob sich. »Das ist lieb, Rosa, aber ich habe wirklich noch keinen Hunger. Später bestimmt.«

    »Warte aber nicht zu lange, Lotte. Das Buffet ist sehr beliebt.«

    Nachdem ihre Freunde gegangen waren, ließ Charlotte ihren Blick über die Anlage schweifen, verkniff es sich jedoch, zum Nebentisch zu den beiden Jungen hinüberzuschauen. Die Tanzfläche vor der kleinen Bühne war rappelvoll.

    »Unser nächstes Stück heißt: In der Nacht ist der Mensch nicht gerne alleine«, rief der Sänger ins Mikrofon und kurz darauf schmetterte die Sechs-Mann-Kapelle mit Hingabe los, während sich unzählige Paare begannen, zu dem Stück drehen. Ist zwar nicht meine Musik, dachte Charlotte, aber trotzdem ein tolles Fest. Ihr Blick verweilte bei den tanzenden Paaren. Gerne hätte sie auch mal wieder getanzt. Sie hob den Kopf, blickte verträumt in den tiefblauen Nachthimmel und genoss den Augenblick.

    3

    Freitag, 10. Dezember 1943

    Paris, 6. Arrondissement,

    Rue de l’Eperon

    Am Abend

    Gilbert Lacroix hatte sein Restaurant Maisondu Plaisir innerhalb nur weniger Jahre zu einem festen Bestandteil der Pariser Gourmet-Szene entwickelt. Mit seinen Spècialitès du Sud-Quest, Gänseleberpastete, Hirschragout und Entenbrust hatte sich der Weinhändler mit dem Körperbau eines Schwergewichtsringers aus Bordeaux einen Stern im Guide Michelin ergattert, worauf er mächtig stolz war. Schnell hatte es sich in Paris und im gesamten Ile-de-France herumgesprochen, dass er für seine Gäste in der Rue de la Huchette das größte Sortiment an exzellenten Medoc-Weinen bereithielt. Das Leben in Paris hatte sich verändert, das musste auch Lacroix konstatieren. Gerne erinnerte er sich an die Zeiten vor der Besatzung, als sein Restaurant an fast allen Tagen der Woche ausgebucht war und die Pariser mindestens drei Wochen im Voraus einen Tisch reservieren mussten. Die Jahre hatten ihn zu einem wohlhabenden Mann gemacht und er hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn alles so weitergelaufen wäre. Aber er wollte nicht klagen, denn obwohl sich die politische Lage in Frankreich dramatisch verändert hatte, kam er immer noch wesentlich besser zurecht, als viele seiner Konkurrenten. Dabei war der Michelin-Guide eingestellt worden und er musste auf fast alle alten Stammgäste verzichten. Lacroix konnte es ihnen nicht verdenken, die Menschen waren in diesen schweren Zeiten eben nicht mehr bereit oder in der Lage, ihr Geld in teure Restaurants zu tragen. Dem hatte er Rechnung tragen müssen und da er kaum Skrupel kannte, entwickelte er bald ein Geschäftsmodell, das den meisten seiner Konkurrenten niemals in den Sinn gekommen wäre. Warum, so fragte er sich, sollte er seine Tische nicht exklusiv den deutschen Besatzern anbieten? Höheren Rängen der Wehrmacht oder der SS? Sie wussten sowieso nicht, wo sie ihr Geld ausgeben sollten und schließlich gab es auch noch eine Reihe Franzosen, die selbst in diesen Zeiten noch gut betucht waren und gerne mit den Deutschen tafelten. So würden beide Seiten auf ihre Kosten kommen, seine Geschäfte gingen immer noch gut und die Deutschen konnten weiterhin leben wie Gott in Frankreich. Im Gegensatz zu vielen anderen Pariser Restaurants, die mittlerweile schon Katzen- oder Taubenfleisch verarbeiteten und auf den Speisekarten als Kaninchen- oder Geflügelragout anboten, konnte Lacroix immer noch viele seiner ausgewählten Spezialitäten einkaufen, wenn auch zu drastisch erhöhten Preisen.

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