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Verwehte Spuren: Als Gebirgsjäger an der Ostfront
Verwehte Spuren: Als Gebirgsjäger an der Ostfront
Verwehte Spuren: Als Gebirgsjäger an der Ostfront
eBook245 Seiten3 Stunden

Verwehte Spuren: Als Gebirgsjäger an der Ostfront

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Über dieses E-Book

Unter dem Decknamen "Operation Edelweiß" soll Leutnant Wenkes Gebirgsjäger-Division zügig den Kaukasus Richtung Schwarzmeerküste überqueren. Doch bereits der Hinweg wird zur Tortur. Neben ständiger Feindesnähe und fehlendem Nachschub an Truppen und Nahrungsmitteln, drohen Schnee und Eis das Vorhaben zu gefährden. Zum Todesurteil wird den Soldaten aber die Berliner Führungsspitze, die die Lage völlig falsch einschätzt. Als die Erlaubnis zum Rückzug erteilt wird, ist es zu spät: Wenke kann nur noch versuchen die letzten Überlebenden zu retten. Eine wahre und erschütternde Geschichte.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Förg
Erscheinungsdatum9. Sept. 2015
ISBN9783933708588
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    Buchvorschau

    Verwehte Spuren - Franz Taut

    www.rosenheimer.com

    1

    Es war kurz vor neun Uhr, und es war der Abend des 20. Juli 1942, da klingelte auf dem Klapptisch, an dem Oberleutnant Hölldorf die Abendmeldung schrieb, das Feldtelefon. Hölldorf hob ab, nannte seinen Namen und den Decknamen des Bataillons. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Hauptmann Winkler, der Regimentsadjutant. »Ich gebe Ihnen den Marschbefehl durch. Ist gerade von der Division eingetroffen.«

    »Den Marschbefehl?«, fragte Hölldorf ungläubig. Vor einigen Tagen hatte es sich noch um einen Angriff mit Panzerunterstützung gehandelt, der allerdings dann in letzter Stunde abgeblasen worden war. »Ganz richtig«, sagte Winkler. »Woroschilowgrad ist gefallen. Aller Wahrscheinlichkeit nach jetzt auch Krassnij Lutch. Wir haben vorerst keinen Kampfauftrag, sondern folgen dem Gebirgskorps in zweiter Linie.«

    Hölldorf wiederholte und notierte die Einzelheiten: Abmarschzeit, Gliederung und erstes Tagesziel. Die Marschrichtung wies zunächst nach Süden, an der bisherigen Frontlinie entlang. Aber bei Taganrog am Asowschen Meer musste sie zwangsläufig nach Osten schwenken. »Nach Rostow leckt sich der Führer schon lang’ die Finger ab«, fügte Winkler dem rein Dienstlichen hinzu. »Unser Adolf hat es nie verwunden, dass Sepp Dietrich mit seiner Leibstandarte dort vom Iwan rausgeschmissen worden ist.«

    »Also Rostow?«, warf Hölldorf ein, ohne auf Winklers sonstige Bemerkungen einzugehen. Hauptmann Winkler war im Regiment als Lästermaul bekannt. Jetzt lachte er. »Für uns kaum. Wir haben andere Aufgaben – einschlägige. Übrigens noch etwas: Die Division hat Leutnant Wenk von dem Lehrgang abberufen. Man hat ihn bereits in Marsch gesetzt. Das wär’s.«

    Das Gespräch war beendet. Hölldorf ging nun in den zweiten Raum des Gefechtsstandbunkers und weckte den Bataillonskommandeur. Oberstleutnant Ruf lag in voller Uniform auf seiner Holzpritsche. Trotz der Abendstunde war es noch drückend heiß. Eine alte Verwundung setzte dem Kommandeur seit einigen Tagen zu. Er setzte sich auf und nahm Hölldorfs Meldung entgegen.»Verständigen Sie die Kompanien, Hölldorf«, befahl er. »Abbau der Leitungen vorbereiten. Das Übliche eben. Sie wissen ja Bescheid. Was hat Hauptmann Winkler sonst noch gesagt?«

    »Leutnant Wenk ist unterwegs zum Bataillon, Herr Oberstleutnant. Ja, und dann etwas von einschlägigen Aufgaben.«

    Der Kommandeur nickte. »War zu erwarten. Daher auch der Tragtierersatz. Und Wenk kommt also zu uns zurück. Sehr erfreulich. Wir haben ja ohnehin zwei Offiziersstellen mit Feldwebeln besetzt. In Ordnung, Hölldorf. Lassen Sie, wie gesagt, alles zum Abrücken vorbereiten. Gefechtsvorposten werden natürlich erst morgen früh eingezogen. Ich leg mich wieder aufs Ohr. Muss in Form sein, wenn’s losgeht.«

    Hölldorf ging in den Gefechtsstand zurück, läutete nacheinander die Kompanien an – »Eierwiese«, »Wasserball« und »Buchfink« – und informierte die drei Kompanieführer: Hauptmann Hager, Oberleutnant Spatz und Feldwebel Goebel, den Stellvertreter von Leutnant Wenk. Die drei reagierten so, wie Hölldorf vermutet hatte. Sie äußerten Erleichterung darüber, dass es nach langen Monaten festgefahrenen Stellungskrieges endlich wieder auf Wanderschaft ging, dass Bewegung in den Laden kam. Auch hier unten am Mijus, nicht nur droben bei Woronesch. Darauf rief Hölldorf die Vermittlung an, ließ sich mit dem etwas weiter rückwärts stationierten Stabspersonal verbinden und gab auch dort die erforderlichen Anweisungen.

    Als alles erledigt war, rief ihn der Kommandeur zu sich: »Noch was, Hölldorf«, sagte er. »Alles muss hier so bleiben, wie es ist. Nichts darf zerstört werden. Wer weiß, ob die Stellung nicht noch mal gebraucht wird.«

    Hölldorf blickte den Oberstleutnant verwundert an. Der Ausdruck des hageren, eingefallenen Gesichts war abweisend, fast verschlossen, so dass es nicht angebracht schien, eine Frage an ihn zu richten.

    »Das wär’s«, sagte Ruf wie üblich und drehte sich mit unterdrücktem Ächzen auf seinem harten Lager auf die Seite. Hölldorf besorgte die Weitergabe der letzten Anordnung, dann löschte er die Lampe, öffnete die splittersichere Bohlentür und trat in die dunkle Balka hinaus. Der Ausschnitt des nächtlichen Himmels über der Schlucht zeigte ein Heer funkelnder Sterne. Es war ungewöhnlich still. Nur aus weiter Ferne – von Osten oder Nordosten – kam ein schwaches dumpfes Grummeln. Das Auffallendste aber war, dass der rotierende Peilstrahl des russischen Flugplatzes bei Krassnij Lutch erloschen war. Die Russen bauten demnach wirklich ab. Womöglich hatten sie bereits die Stellungen gegenüber dem Bataillon verlassen. Man würde es wissen, wenn der Spähtrupp zurückkam, den Hauptmann Hager bei Dunkelwerden losgeschickt hatte.

    Hölldorf blickte sich in der Balka um. Bis Ende März war sie tief verschneit gewesen. Zuweilen hatte der Schnee so hoch gelegen, dass sie sich hatten ausschaufeln müssen. Dann war die Tauwetterperiode eingetreten, und man hatte Stege aus Balken gelegt, um nicht im Morast zu versinken. Vor dem Bunker, in dem die Melder hausten, war ein Beet angelegt. Die Landser hatten Radieschen und Erdbeeren gepflanzt. Die Ernte freilich war sparsam ausgefallen, da nur wenig Sonne in den Grund der Schlucht kam. Erdbeeren und Radieschen. Nicht alle aus dem Melder-Bunker hatten deren Reifen erlebt. Der Friedhof des Regiments im Hinterland wies viele Kreuze auf. Vor allem während der Winterkämpfe hatte das Bataillon schwere Verluste erlitten. Leutnant Wenk würde viele fremde Gesichter vorfinden, wenn er nun nach der langen Zeit zurückkehrte. Wo würde er zum Bataillon stoßen? Vielleicht am Don – oder schon drunten auf der Steppe – auf dem Vormarsch zum Kaukasus …

    2

    Seit Mittag, seit nahezu drei Stunden, hielt der Fronturlauberzug auf freier Strecke. Die Landser in den Waggons des Urlauberzuges hatten nichts gegen den Aufenthalt einzuwenden. Warten bedeutete Ruhe. Man wäre durchaus damit einverstanden gewesen, wenn der Zug ein paar Wochen lang stehengeblieben wäre, ausreichende Verpflegung und gelegentlich die Zuteilung von Marketenderwaren vorausgesetzt.

    Im schwach besetzten Offizierswagen am Schluss des Zuges – abgeschabte rote Polstersitze, in deren Ecken Wanzen nisteten – döste im Halbschlaf in einer Fensterecke Hans Wenk, Leutnant bei den Gebirgsjägern, 27 Jahre alt, vor wenigen Tagen von einem Lehrgang zur Front abberufen. Seine reich dekorierte Feldbluse, auf deren rechtem Ärmel das Edelweiß genäht war, hatte er aufgeknöpft. Es war hochsommerlich heiß, der flimmernde Himmel über endlosen Sonnenblumen- und Getreidefeldern zu beiden Seiten der Bahnlinie war wolkenlos. Im vergangenen Winter, nach dem Durchbruch der Roten Armee bei Isjum am Donez, der am 18. Januar bei sibirischer Kälte begonnen hatte, war Wenk von der Division zu einem Skibataillon der neu gebildeten Armeegruppe Mackensen abgestellt worden. Im Nordwesten des Verschiebebahnhofs Jassinowataja, der bereits von russischen Reiterpatrouillen bedroht war, war er in schwerem Artilleriebeschuss durch einen Eisensplitter am Rücken verwundet worden. Nach seiner Genesung und einem dreiwöchigen Erholungsurlaub, den er zu Hause im Oberland verbracht hatte, war er überraschend zu einem Hochgebirgslehrgang abkommandiert worden. Am Großglockner, am Großvenediger und später in den Ötztaler Alpen hatten sie Gefechtsübungen abgehalten, waren in der Fels- und Eisarbeit sowie im Bergrettungsdienst unterwiesen worden. Nach Abschluss des Lehrgangs hätte er wie alle übrigen Teilnehmer das Heeresbergführerabzeichen erhalten sollen. Aber dann war der Kurs plötzlich abgebrochen worden. Sofortige Rückkehr zur Division, hatte es geheißen. Die war, nach unterwegs aufgeschnappten Gerüchten, aus der Winterstellung am Mijus zum neuen Vormarsch angetreten. Eine Fliege krabbelte über Wenkes Gesicht, das von dem langen Aufenthalt im Schnee und Eis der großen Höhen tief gebräunt war. Er fuhr aus dem Halbschlaf auf, verscheuchte die Fliege und suchte in den Taschen seiner Feldbluse nach Zigaretten. Sein Gegenüber, Hauptmann Schnell, eine auffallend dürre Gestalt in schwarzer Panzeruniform, klappte ein silbernes Etui auf und reichte es dem Leutnant. Wenk dankte, bediente sich, gab dem Hauptmann Feuer und steckte dann seine eigene Zigarette an.

    Schnell war »Zauberlehrling«, wie man die Generalstabsanwärter nannte, und war ebenso wie Wenk von einem Lehrgang zu seiner Division zurückbefohlen worden. Diese gehörte der 1. Panzerarmee an, der die Gebirgsjäger während des ersten Vormarsches in Russland zeitweilig zugeteilt waren.

    »Schöner Mist«, meinte Schnell. »Wer weiß, wo ich meinen Haufen finde. Wenn ich diese Zuckelei vorausgesehn hätte, wäre ich in Lemberg ausgestiegen und hätte mich nach einer Flugmöglichkeit umgeschaut.«

    »Wieso?«, fragte Wenk. »Glauben Herr Hauptmann jetzt auf einmal doch an rasanten Vormarsch und so?«

    Bisher hatte Hauptmann Schnell in Gesprächen über die Lage äußerste Skepsis zur Schau getragen. Die neue Offensive, die Ende Juni im Raum Kursk eingeleitet worden war und dann nach Süden übergegriffen hatte, schien ihm von vornherein verpfuscht zu sein. Ein Fehlschlag, ein Schlag ins Nichts, wie er meinte. Schnell beugte sich vor. Er war nur drei Jahre älter als Wenk, aber sein Gesicht war nicht das eines jungen, lebensfrohen Mannes. Unverkennbar waren seine Züge geprägt von bitteren Erfahrungen. »Das ist es ja«, sagte er. »Wie Sie wissen, bin ich einigermaßen unterrichtet. Die vierte Panzerarmee und die nachfolgende sechste Armee haben wohl die russische Front geöffnet. Seit dem Erfolg bei Woronesch läuft der Laden scheinbar wie geschmiert. Aber wo bleiben die Gefangenen? Wo bleibt die Beute? Im Verhältnis zu unserem Aufwand ist das bisherige Ergebnis mehr als dürftig. Die Russen weichen aus. Sie haben dazugelernt. Lassen sich nicht mehr einkesseln wie noch im Frühjahr, als wir den Sack von Isjum hinter dem Donez zumachten. Was wir jetzt nicht ausschalten, kann uns später noch schwer zu schaffen machen. Unsere Divisionen rollen ins Leere, vom jeweiligen lokalen Widerstand abgesehen.«

    In diesem Augenblick trat Major Dr. Hennefeld ins Abteil. Er schnaufte wie nach einer beträchtlichen Anstrengung. Eine Zeit lang hatte er draußen im schmalen Schatten des Waggons seinen eingeschlafenen Beinen Bewegung verschafft. Der Major war ein stark ergrauter, etwas beleibter Herr Ende vierzig. Im Gegensatz zu Wenk und Schnell war er Reservist und hatte, wie das schwarzweiße EK-Band verriet, schon am Ersten Weltkrieg teilgenommen. »Ein Glück, dass ich ab Jassinowataja meinen Wagen habe«, sagte er. Nach einer Atempause setzte er hinzu: »Vielleicht wäre es wünschenswert für Sie, meine Herren, sich mir anzuschließen. Dieser Zug kann ja bis Taganrog noch acht Tage durch die Gegend bummeln. Wer weiß, ob man dann überhaupt noch Anschluss findet – nach allem, was man hört.«

    »Nehme dankend an, Herr Major«, entgegnete Hauptmann Schnell. »Allerdings habe ich die leise Hoffnung, dass meine Division auch auf den Einfall gekommen ist, mir nach Jassinowataja einen Wagen entgegenzuschicken. In diesem Fall wäre es, glaube ich, für Leutnant Wenk zweckmäßiger, bei mir einzusteigen.« Ehe Wenk etwas sagen konnte, fuhr Schnell fort: »Exzentrische Bewegungen in weiten Räumen bedeuten unzureichend gedeckte Flanken. Lesen Sie mal bei Clausewitz nach! Ich kenne die neuen Angriffsziele. Die Wolga bei Stalingrad und andererseits der Kaukasus, der wohl Ihr Betätigungsfeld wird, Herr Wenk.«

    »Das kann ich bestätigen, Herr Kamerad«, bemerkte Major Hennefeld, während er die Schirmmütze abnahm und den Schweiß von seiner breiten, geröteten Stirn wischte. »Die Gruppe von Spezialisten, die ich in Gorlowka übernehme, ist für Tiflis bestimmt.«

    »Ist das nicht ›Geheime Kommandosache‹, Herr Major?«, warf der Panzerhauptmann spöttisch ein. »Aber beruhigen Sie sich. Ich kann Ihnen noch einiges mehr verraten: In der großen Planung ist der Kaukasus nur eine Etappe. Der nach Süden gerichtete Keil – erste Panzerarmee, siebzehnte Armee und das italienische Alpini-Korps – zielt viel weiter: durch Transkaukasien nach Persien. Rommel soll gleichzeitig den Suezkanal überschreiten und uns durch den Nahen Osten entgegenstoßen. Die Konzeption des Führers. Mit einem Schlag sozusagen will er die Bolschewiken und das britische Weltreich auf die Knie zwingen.«

    »Phantastisch!«, rief der Major mit aufrichtiger Bewunderung aus. Leutnant Wenk dagegen schwieg. Er hatte das unbehagliche Gefühl, Hauptmann Schnell mache sich über den Major lustig. Schnell sprach schon wieder.»Allerdings«, sagte er trocken. »Phantastisch. Aber genügt eine ausschweifende Phantasie allein zur Kriegführung? Menetekel, kann ich da nur sagen.«

    Er meinte es offensichtlich ernst. Über seiner Nasenwurzel entstand eine steile Falte. Sein blasses, knochiges Gesicht drückte die Besorgnis eines Wissenden aus, der Unheil voraussieht, ohne es abwenden zu können. Wenn es wirklich so wäre, dachte Wenk … Aber unvermittelt wurde er abgelenkt. Die Lokomotive ließ plötzlich einen langgezogenen Pfiff ertönen. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Aber hundert Meter weiter stand er schon wieder.

    Wenk beugte sich aus dem Fenster. »Eine Baustelle«, erklärte er, zu den beiden Mitreisenden gewandt. »Möglicherweise haben Partisanen die Strecke gesprengt.«

    Dann pfiff die Lokomotive wieder. Der Zug ruckte an. Im Schrittempo rollte er weiter, bis er wieder anhielt. Die Stelle, an der gearbeitet wurde, war erreicht. Leutnant Wenk stand am geöffneten Fenster. Die Streckenarbeiter waren offensichtlich Häftlinge, ausgemergelte Gestalten, nur mit Lumpen bekleidet. Die sechs Bewacher waren SD-Leute in der grauen Felduniform der SS. Einer hielt einen hechelnden Schäferhund kurz an der Leine. Alle Mann waren mit Maschinenpistolen bewaffnet. Eine Anzahl Häftlinge schleppte stöhnend eine angebrochene Schiene, die sie offenbar ausgewechselt hatten. Einer von ihnen, ein alter Mann mit dünnem grauem Haar, brach unter der Last zusammen. Ein SD-Mann kam heran, brüllte etwas auf Russisch und hob eine Nagaika, eine mehrschwänzige Kosakenpeitsche, zum Schlag. Der Hieb traf den Rücken des Alten. Jammernd wand er sich am Boden. Der SD-Mann stand nicht weit von Wenkes Abteilfenster entfernt.

    »Kommen Sie mal her!«, rief Wenk. »Was haben Sie denn da? Kosakenarbeit, was?«

    Der SD-Mann ließ von dem Häftling ab, kam zum Zug und zeigte Wenk die Peitsche. »Ja, eine echte Nagaika«, sagte er grinsend. »Bei diesem Kroppzeug braucht man so was.«

    Wenk nahm die Peitsche an sich, als wollte er sie genau betrachten. Unversehens ließ er sie sinken und holte zum Schlag aus. Doch bevor es dazu kam, packte Hauptmann Schnell Wenkes Handgelenk, riss ihm die Peitsche aus der Hand und reichte sie durchs Fenster. »Da haben Sie Ihre Waffe wieder«, sagte er mit steinernem Gesicht zu dem argwöhnisch aufblickenden SD-Mann. Im gleichen Augenblick setzte sich der Zug wieder in Bewegung und nahm rasch Fahrt auf. Die Baustelle blieb in der brütenden Sonne zurück. Hauptmann Schnell sah Wenk an und sagte: »Wenn Sie so einem in die Fresse schlagen, kommen Sie vors Kriegsgericht. Da kann Ihnen weder Ihr Divisionskommandeur noch Ihr Kommandierender helfen. Strafbataillon wäre das mindeste, was Sie sich eingehandelt hätten. Die haben nämlich die Partei hinter sich. Von Himmler ganz zu schweigen. Mit so was legt man sich nicht an, Sie Armleuchter.«

    Der Major blickte betreten vor sich hin. Der rüde Ton des Hauptmanns missfiel ihm. Aber auch die Misshandlung des alten Mannes hatte ihm missfallen und ebenso der Versuch des Leutnants, Justiz zu üben.

    »Ich werde mir’s merken, Herr Hauptmann«, sagte Wenk. »Ich muss Ihnen dankbar dafür sein, dass Sie eingegriffen haben. Aber ist es nicht beschämend, untätig zuschauen zu müssen, wenn diese Bluthunde sich an wehrlosen Gefangenen austoben?«

    »Bluthunde!«, warf Major Hennefeld missbilligend ein. »Die Leute sind Soldaten – Soldaten des Führers.«

    »Sie haben das Vertrauen der russischen Bevölkerung zur Wehrmacht untergraben, Herr Major«, entgegnete Wenk. »Dem SD verdanken wir die Partisanen in der Ukraine.«

    Der Major holte seine Reisetasche vom Gepäcknetz. »Ich kann Ihre Ansichten nicht teilen, meine Herren«, erklärte er steif und entfernte sich ins Nachbarabteil.

    Der Zug fuhr jetzt sehr schnell, als wollte er die versäumte Zeit einholen. Kolchosen und kleine Dörfer flogen vorbei. Nur die endlosen Felder im gleißenden Sonnenlicht blieben sich immer gleich. Im Gegensatz zu Wenk, der nach seiner Verwundung in einem Schlitten und dann in einem Sanka nach Westen verfrachtet worden war, kannte Hauptmann Schnell die Strecke genau.

    »Gegen Abend dürften wir in Jassinowataja ankommen«, sagte er. Nach einer Weile fügte er, zum Nachbarabteil deutend, halblaut hinzu: »Nach Tiflis kommt der nie!«

    »Wie meinen Herr Hauptmann das?«, fragte Wenk befremdet.

    »Keiner kommt dorthin«, antwortete Schnell. »Der ganze Feldzug ist ein verfluchtes Hirngespinst. Ein Hirngespinst, das viel Blut kosten wird! Vielleicht sogar alles.«

    Ein Schwarzseher, dachte Wenk, ein notorischer Pessimist. Er wünschte sich zurück zu seiner Division,

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