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Rohrbruchteich: Eine kriminelle Geschichte aus Uptown Berlin
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Rohrbruchteich: Eine kriminelle Geschichte aus Uptown Berlin
eBook311 Seiten4 Stunden

Rohrbruchteich: Eine kriminelle Geschichte aus Uptown Berlin

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Über dieses E-Book

Wurde sie wirklich entführt? Oder ist Lotte vielleicht schon tot? Ihr Mann, der den klammen Anwalt Richard-Anton Punzel aufsucht, ist jedenfalls bereit, auf die Forderungen der mutmaßlichen Kidnapper einzugehen.
Punzel wächst mit dem Fall seines Lebens über sich hinaus. Er führt ihn nach Italien, ja sogar bis in den Berliner Wedding. Nicht allein seine intellektuellen, auch seine körperlichen Fähigkeiten sind gefordert, denn er muss die Ermittlungen auf ihm unbekanntes erotisches Terrain ausweiten. Crime und Sex, ganz klassisch: In der Swingerszene im Südwesten Berlins verbringt Punzel anregende wie aufklärende Stunden - und bildet ein Ermittler-Ensemble, das vor allem aus cleveren Frauen besteht, die ihm gern zu Diensten sind. "Punzels Acht" machen sich mit unkonventionellen Methoden daran, einen Gewalttäter dingfest zu machen. Und dabei hat der gewitzte Anwalt immer den Hut auf.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum4. Dez. 2020
ISBN9783347189836
Rohrbruchteich: Eine kriminelle Geschichte aus Uptown Berlin

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    Buchvorschau

    Rohrbruchteich - Tom Gear

    1

    Das wäre es gewesen. Seine Station. Sein Ziel. Sein Kurfürstendamm. Aber der Bahnhof zog unaufhaltsam an ihm vorbei. Express-S-Bahn. Diese köstliche Idee, ein andauerndes Fettnäpfchen, verdankten er und seine Mitbürger diesem unseligen neuen Hyper-Senat. Das breiteste Bündnis aller Zeiten hatte die dumme Idee gehabt, zwischen die regulären Verbindungen solche zu schieben, die nicht an allen Bahnhöfen hielten, um somit Fahrgäste mit längeren Wegen schneller ans Ziel zu bringen.

    Brillantes Konzept, konnte nur gar nicht funktionieren, weil schon die normalen Züge so unzuverlässig unterwegs waren, dass die schnellen von ihnen immer wieder ausgebremst wurden.

    So auch jetzt. Punzel stand schon seit Minuten an der Tür und trat nervös von einem Bein aufs andere, als die Ringbahn langsamer und langsamer wurde und schließlich auf freier Strecke zum Halten kam. Na großartig! Halensee durchgefahren, und am nächsten regulären Halt blockierte ein Schneckentriebzug das Gleis. Punzel brach der Schweiß aus. War es Angst oder war es die schon am Morgen herrschende drückende Schwüle in der Stadt, die ihn dahinfließen ließ?

    Dabei sollte der heutige Tag doch den Durchbruch bringen!

    Vorhin, es war gerade acht Uhr durch, hatte ein Bekannter aus Studienzeiten angerufen. Sein Mandat versprach das lukrativste in seiner bisheriger Karriere als Anwalt zu werden. Eine ganz sichere Sache, meinte Wolf, sein Bekannter. Punzel nahm sich noch die Zeit, in der anwaltlichen Vergütungstabelle nachzusehen. Was er las, stimmte ihn bestens und beschleunigte seinen Schritt, als er das Haus verließ.

    Es sollte sich zeigen: Diese Zeit würde ihm fehlen. Bis er am Westkreuz endlich dem vermaledeiten Zug entfliehen konnte und einen Gegenzug erwischte, war es schon fast neun. Für Punkt neun Uhr aber („Vergiss das akademische c.t., Zeit ist Geld, mehr Zeit ist ein Vermögen!", so Wolfs Worte) waren sie in einem Café in der Mommsenstraße verabredet. Eine Station zurück, ein paar Haltestellen mit dem Bus, Fußweg, Ankunft am Café um 9 Uhr 12.

    Im Außenbereich saßen nur zwei alte Tanten, im Innern gar niemand. Als er zum Handy griff, um Wolf anzurufen, lief eine Textnachricht ein: „Schade, hätte mich wirklich gefreut. Aber ich brauche zuverlässige Leute. War ja noch nie so dein Ding! Und: „Zwinkersmiley – auch das noch. Zum Schaden kam jetzt auch noch der Spott.

    Dabei war rein gar nichts dran an dem Vorwurf, Punzel sei schon zu Studienzeiten ein Ausbund an Unzuverlässigkeit gewesen. Gerade anders herum war es gewesen: Während er selbst sich stets fast sklavisch an Verabredungen gehalten hatte, war es Wolf gewesen, der sich nicht sonderlich um Termine scherte und es mit Vereinbarungen auch nicht so genau nahm. Aber wem war im späteren, wahren Leben das Schicksal schließlich gewogen? Dem Zuverlässigen jedenfalls nicht.

    Wie auch immer, mit dem Durchbruch war es damit Essig, Punzel vielmehr dem Zusammenbruch ein Stück näher gekommen. Mit 35 Jahren schon vor der Pleite? Die nächste Miete seiner Kanzlei, eigentlich war es nur ein Zimmer, konnte er schon nicht mehr zahlen. Er würde ziehen müssen, wie der Berliner sagt. Jammerschade, ihm hatte die Adresse Südwestkorso immer schon so ausnehmend gut gefallen. Sein Zimmer, das er in dieser Anwaltskooperative bespielte, war ohnehin das kleinste von allen. Stärker konnte er sich gar nicht mehr einschränken, um sich noch über Wasser zu halten. Die paar Mietsachen und sein „großer Fall", ein seit zwei Jahren schwelender Nachbarschaftsstreit, brachten kaum Geld in die Kasse. Und jetzt diese versemmelte Chance! In den Hintern beißen aus lauter Verärgerung über sich selbst – selbst damit wäre er erfolglos gewesen.

    Das alles ging Punzel durch den Kopf auf dem Weg in seine Kanzlei, den er zu Fuß zurücklegte, „um den Kopf frei zu bekommen". Wahrnehmen konnte er seine Umgebung in diesem Zustand nicht, weswegen er beinahe über eine rote Ampel und vor einen SUV gelaufen wäre.

    Unbeschadet erreichte er endlich das Eckhaus in bester Friedenau-Lage. Er durchquerte den Vorgarten, der – und das hatte er schon oft als böses Omen gedeutet – mit Grabsteinen vollgestellt war, die der im Parterre ansässige Steinmetz für Beerdigungen auf dem nahen Friedhof feilbot. Im vierten Stock des Hauses ging Punzel seiner beruflichen Tätigkeit nach. Viele Karrieren hätte er sich vorstellen können; ausgenommen solche, bei denen eine herausragende Optik fast alles ist, denn mit 1,75 Meter Größe, leicht untersetztem Körperbau und, wie er sich selbst eingestand, einem dramatischen Mangel an durchschlagender Coolness und Attractiveness war er für ein spektakuläres Leben eher nicht prädestiniert.

    Neben dem Portal fiel sein Blick wie immer auf das stolze Messingschild mit den Namen der drei dort tätigen Advokaten. Die beiden Kollegen hatten sich seiner Schreibweise angeschlossen und ihren Nachnamen ebenfalls jeweils zwei identische Großbuchstaben vorangestellt. Ob seine Berufswahl am Ende aus Einfallslosigkeit auf Jura gefallen war? Oder gar einzig und allein des Gags willen? Jedenfalls las der Recht suchende Bürger „RA Punzel", und jeder dachte sich sein Teil.

    Immer noch in Gedanken vertieft betrat er kurz darauf die Gemeinschaftskanzlei, deren einzige Gemeinsamkeit darin bestand, dass eine junge, äußerst sympathische junge Frau die Anmeldung für alle drei Rechtsgelehrten erledigte. Und allerlei Schriftkram und sonstige Office-Angelegenheiten. Romy hieß sie, mit Nachnamen nicht gerade Schneider, aber doch immerhin Schnittker.

    Und die war nicht an ihrem Platz, als Punzel sein berufliches Domizil betrat. „Das, dachte er sich, „wird schon seinen Grund haben. Er würde keinen Schaden dadurch erleiden, schließlich verlief sich kaum ein Mensch zu ihm, und Termine hatte er heute auch nicht.

    Gerade, als er den Griff seiner Zimmertür umfasste, klingelte jemand an der Haustür. Da niemand anders in der Nähe war, ging er zu der Telefon- und Türöffneranlage und meldete sich, ziemlich unwirsch.

    „Bitte?"

    Eine ältere Männerstimme krächzte durch den Lautsprecher: „Schwarowsky mein Name. Ich möchte zu Ihnen."

    „Sicher?"

    „Ich brauche einen Anwalt, dringend."

    „Nehmen Sie mich!"

    „Wer von den dreien sind Sie?"

    „Punzel."

    „Gut. Machen Sie jetzt auf? Danke! Oh Gott, vierter Stock! Puh, kein Aufzug?"

    „Nein. Und bevor Sie komisch werden: Ich bin Glatzenträger."

    Schon vor dieser sarkastischen Bemerkung hätte sein potentieller Mandant merken müssen, dass es mit der Laune seines ebenso potentiellen Rechtsvertreters nicht zum Besten bestellt war. Statt es sich noch einmal zu überlegen, stand er nach einer kleinen Weile dennoch vor der Tür: ein vielleicht Mittfünfziger, mittelgroß, vollständig ergraut, Brillenträger, der einen übernächtigten Eindruck machte.

    „Guten Morgen. Folgen Sie mir, bitte!" Punzel machte eine, vielleicht eine Spur zu übertrieben wirkende einladende Geste.

    Er führte seinen Gast in sein bescheidenes Zimmer, das jeden Eintretenden wegen seiner unterkomplexen Ausdehnung erst einmal überraschte. Diesen nicht. Er ging noch auf dem Weg zu dem ihm angebotenen Stuhl medias in res – mitten ins Recht, wie Punzel das zu übersetzen pflegte. Sein Claim „Wir setzen Sie ins Recht" auf dem Kanzleischild zu verwenden, war bei den Kollegen – nebenbei bemerkt – nicht gut angekommen.

    „Es handelt sich um einen Kriminalfall, Herr Rechtsanwalt."

    Einen was? Bei allen Heiligen und denen, die sich dafür ausgaben: ein richtiger Fall von Kriminalität? Sollte dieser Tag doch noch die Wende bringen? Aus vielfältiger Erfahrung blieb Punzel erst einmal skeptisch.

    „Ich bin ganz Ohr, Herr Swar …"

    „Schwarowsky, ich sagte Schwarowsky, fuhr sein Klient Punzel ungeduldig über den Mund. „Bitte hören Sie von jetzt an genauer zu! Es ist so: Ich habe heute etwas Unappetitliches zugesandt bekommen.

    „Zugesandt. Das ist ungewöhnlich. Sonst bekommt man so etwas doch heutzutage eher in den sozialen Hetzwerken …"

    „Es handelt sich um keine Hassbotschaft, sondern um eine handfeste Drohung. Eher um eine fingerfeste, denn man hat mir einen Finger zugesandt, der angeblich von meiner Frau stammt. Was damit zusammenhängt, dass sie entführt worden ist. Das steht jedenfalls auf einem Zettel, der dem corpus delicti beigefügt ist."

    „Oha, das ist delikat. Meine ersten Fragen sind natürlich: Vermissen Sie Ihre Frau tatsächlich, kann der Finger von ihr stammen und haben Sie die Polizei schon verständigt?"

    „Meine erste Frage, Herr Punzel, wäre gewesen, was die Entführer fordern. Und da lautet die Antwort: 100.000 Euro. Die Antworten auf Ihre Fragen sind: Meine Frau ist vorgestern Abend aus dem Haus gegangen, seitdem habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr. Zur zweiten Frage: Sicher bin ich mir nicht; und schließlich: nein, habe ich nicht."

    „Warum? Ich meine, warum kommen Sie erst zu mir? Die Polizei läge doch näher?"

    Schwarowsky griff in die Innentasche seiner Jacke. Als er seine Hand wieder hervorzog, hatte er ein in eine Klarsichthülle eingelegtes Stück Papier der Größe A4 in der Hand.

    „Deshalb. Lesen Sie!"

    Punzels Lektüre des klassisch aus Zeitungsschnipseln zusammengesetzten Erpressungsschreibens nahm nicht viel Zeit in Anspruch.

    „Wir haben ihre Frau 100000 Euro melde uns kein Polzei".

    „Deshalb also, verstehe. Haben Sie so wenig Vertrauen in die Arbeit unserer Ermittlungsbehörden?"

    „Ja. Ich habe aber noch andere Gründe, weshalb ich zuerst bei Ihnen Hilfe suche. Aber dazu vielleicht später."

    „Gut. Wenn Sie sich nicht sicher sind, ob es sich bei dem Finger … Um welchen handelt es sich eigentlich? „Um den kleinen Finger, wenn ich nicht irre.

    „Wenn Sie sich also nicht sicher sind … Wie kann man sich überhaupt sicher sein?"

    „Ich dachte, das könnten Sie mir sagen."

    „Aus dem Stegreif natürlich nicht. Ich werde mich kundig machen. Vielleicht sollten wir von den Entführern aber noch einen untrüglichen Beweis fordern, dass Ihre Frau wirklich in ihrer Gewalt ist. Denen müssten doch unsere Zweifel verständlich sein."

    „Ist das nicht sehr riskant, sie so herauszufordern? „Wenn wir sonst keine zweifelsfreie Sicherheit haben, müssen wir das wohl von ihnen verlangen – oder auf ihre Forderung einfach eingehen.

    Schwarowsky überlegte einige Augenblicke.

    „Wir teilen Ihnen mit, dass wir einen eindeutigen Beweis haben wollen."

    Punzel stutzte und sah ihn doch etwas verwundert an. So schnell entschied sich der treusorgende Ehemann für ein solches Risiko?

    Schwarowsky entging der Grund für seines Anwalts plötzliches Schweigen nicht.

    „Vielleicht kommt es Ihnen, Herr Punzel, ja etwas merkwürdig vor, dass ich vielleicht zu viel, wie soll ich sagen, etwas zu viel Leichtsinn in dieser Sache an den Tag lege. Aber ich zweifle einfach daran, dass hier wirklich eine Entführung vorliegt. Meine Frau hat sich in den letzten Monaten sehr weit von mir entfernt."

    „Inwiefern? Doch nicht im Wortsinne? Sie ist doch erst seit relativ kurzer Zeit verschwunden."

    Schwarowsky schüttelte den Kopf.

    „Ich meine, wir haben praktisch gar nichts mehr gemeinsam gemacht. Nicht ausgegangen, nicht gegessen, nicht zusammen geschlafen – also weder in einem Bett, noch … Sie wissen schon."

    „Hat es Streit gegeben?"

    „Nein, kleine Meinungsverschiedenheiten natürlich, nichts Besonderes. Es ist wohl einfach so, dass nach 24 Jahren Ehe die Luft 'raus ist. Nicht, dass wir uns nicht mehr riechen können. Aber die Silberhochzeit im nächsten Jahre hätten wir so oder so nicht mehr gefeiert. „Dachten oder denken Sie an Scheidung?

    „Also ich nicht, wie es mit Lotte ist, weiß ich nicht. Sie hat nie Andeutungen gemacht."

    Punzel registrierte, dass der Name der Entführten gerade zum ersten Mal gefallen war.

    „Gab es Verhältnisse, Affären?"

    Schwarowsky lächelte einige Augenblicke vor sich hin, bevor er antwortete.

    „Ehrlich gesagt habe ich ihr das nicht zugetraut, aber wie gut kennt man schon den Menschen, mit dem man so lange und so eng zusammenlebt? Sie ging schon drei, vier Monate ziemlich regelmäßig nachmittags aus dem Haus – gut gekleidet übrigens – und kam am späten Abend wieder. Wir gaben uns keine Rechenschaft darüber ab, was wir taten, so weit war es in unserer Ehe schon gekommen. Ich weiß nicht, ob es Eifersucht war oder reine Neugier, ich bin ihr jedenfalls zweimal, im Abstand von vielleicht zwei Wochen, gefolgt."

    „Das scheint eine längere Geschichte zu werden, unterbrach ihn Punzel. „Lassen Sie uns doch einen Kaffee trinken gehen, nicht zur Entspannung, sondern weil der Ihnen gut tun wird. Vielleicht noch ein Glas guten Geistes dazu. Ich merke ja, wie sehr Ihnen die Sache nahegeht. Wir werden dort so offen und ungehört reden können wie in meiner Kanzlei, beruhigte der Anwalt seinen teuren Klienten.

    Schwarowsky willigte ein, und so machten Sie sich auf den Weg quer über den Südwestkorso zu einer Restauration, die den italienischen bzw. englischen Namen der österreichischen Hauptstadt führte. Warum man beim südlichen Nachbarn so beharrlich darauf bestand, sie immerzu fremdsprachig zu benamsen, war eines der vielen Rätsel, die Punzel mit Austria in Verbindung brachte. „Wir nennen unsere Stadt ja auch nicht Bör-lin, mit der Betonung auch noch auf der ersten Silbe. Oder?"

    Als je ein Caffè und ein Grappa vor ihnen standen, fuhr Schwarowsky fort.

    „Ich folgte also meiner Frau, es ging nach Wilmersdorf. In einem der dort typischen, in der Gründerzeit entstandenen Wohnhäuser hat man sie eingelassen. Es war beide Male dasselbe. Allerdings waren es unterschiedliche Wohnungen, bei denen sie klingelte, wie ich mit Hilfe der Zoomfunktion meines Handys erkennen konnte: einmal im Erdgeschoss, einmal in der obersten Etage. Es war offensichtlich so, wie ich es mir gedacht hatte: Sie ging zu einem Liebhaber – bzw. zu zwei oder noch mehr Verehrern. Es war kaum anzunehmen, dass einer gleich mehrere Wohnungen in dem Haus belegte. Wäre jedenfalls auch nicht in Ordnung bei dem immer schlimmer werdenden Mangel an Wohnraum in der Stadt, nicht wahr?"

    Schwarowsky trank die Hälfte seines Caffès und nahm einen großen Schluck seines Schnapses.

    „Sie haben mit beidem sicher recht, nickte Punzel, tat es seinem Klienten gleich mit dem Trinken und fuhr fort: „Da wir warten müssen, bis die Entführer sich wieder melden, haben wir noch Zeit, dass ich von Ihnen so viel über Ihre Frau und Ihre Lebensumstände erfahren kann, um mir ein klares Bild machen zu können. Vielleicht haben wir ja jetzt schon einen Hinweis, wo wir suchen müssen. Deshalb erst einmal zwei weitere Fragen. Die erste: Was hat diese Entdeckung, das offensichtliche Fremdgehen Ihrer Frau, mit Ihnen gemacht? Waren Sie wütend, traurig, haben Sie sie zur Rede gestellt?

    Schwarowsky überlegte: „Eigentlich nichts von alledem. Wissen Sie, irgendwie war mir Lotte schier egal geworden, oder schietejal, um es deutlicher zu sagen. Ich wusste jetzt Bescheid, wunderte mich über ihren Erfolg bei den Männern und ging meiner Wege. Um es geradeheraus zu sagen: Sexuell war ich ausreichend versorgt. Nur dass ich mir das was kosten ließ, in einem Edelbordell in der City, Sie wissen schon."

    „Ich kann es mir denken", antwortete Punzel und verschluckte sich an dem Rest Grappa, den er etwas zu schnell hinuntergekippt hatte.

    „Was wäre Ihre zweite Frage?", schmunzelte sein Mandant über seine Verlegenheit oder sein Ungeschick.

    „Würden Sie mir bitte die nötige Vollmacht unterschreiben?"

    „Ach so, natürlich."

    Schwarowsky signierte das Papier, das ihm sein Anwalt gereicht hatte.

    „Die wirkliche zweite Frage, fuhr Punzel nun seinerseits zufrieden lächelnd fort, „ist eine, die Sie kennen würden, selbst wenn Sie ein ausgesprochener Krimiverächter wären. Sie lautet natürlich: Hat Ihre Frau Feinde?

    „Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Nein, keine Feinde, nicht einmal Menschen, mit denen Sie über Kreuz liegt. Nein, nein, man muss auch bei der Wahrheit bleiben: Lotte war … verdammt! Lotte ist eine eigentlich jedem gegenüber freundliche Frau, die es versteht, mit allen auszukommen. Und irgendetwas ausgefressen hat sie bestimmt auch nicht. Sie ist, wie soll ich sagen, ja: Sie ist einfach solide. In jeder Hinsicht. „Gut, lassen Sie uns noch einen Caffè und vielleicht noch einen Grappa ordern, dann werde ich in meiner Kanzlei alles zusammenfassen, was wir im Augenblick wissen. Nur über unsere weitere Strategie sollten wir uns noch verständigen.

    Schwarowsky entschied sich für ein weiteres Gedeck, sein Anwalt schloss sich ihm gerne an. Sie warteten noch so lange, bis ihre Getränke serviert waren, dann fuhr Punzel fort.

    „Was noch wichtig ist: Bleiben Sie dabei, die Polizei nicht einzuschalten?"

    „Ich bleibe dabei. Es ist nicht nur, dass ich ihr nicht traue, ich habe noch andere persönliche Gründe, die …"

    Schwarowsky zögerte, er schien mit sich zu ringen, ob er sein Geheimnis preisgeben sollte.

    „Herr Punzel, ich werde Ihnen vielleicht bei einem unserer nächsten Treffen mehr zu meinen Gründen sagen. Vielleicht. Kommen wir lieber zu unserer Strategie."

    „Sehr gerne. Sie sind ja offensichtlich bereit, die geforderte Summe zu zahlen. Verfügen Sie über so viel Geld und können Sie es relativ kurzfristig besorgen? Es kann ja sein, dass die Entführer uns wenig Zeit lassen. „Ich werde die Summe noch heute auftreiben. Geld soll kein Thema für uns sein, das gilt auch für Ihr Honorar. Es wird für Sie ordentlich was herausspringen, wenn Lotte wieder bei mir ist. Sie hat so eine Behandlung nicht verdient, Entfremdung hin oder her. Und auch auf die Gefahr hin, dass es gar keine Entführung gibt.

    „Also warten wir ab, bis die Kidnapper sich melden. Haben sie irgendetwas wissen lassen, auf welche Weise Sie dies tun werden?"

    „Nein, ich denke, auf die gleiche Weise wie beim ersten Mal. Sie werden einen Zettel in meinen Briefkasten werfen. Vielleicht auch anrufen. Das wäre wohl sicherer. Wenn Sie meine Adresse kennen, werden Sie auch meine Telefonnummer herausbekommen. Ich habe noch Festnetz."

    „Schön. Wie gesagt, ich gehe jetzt in mein Büro, Sie sollten sobald wie möglich nach Hause gehen, wer weiß, ob sich die Entführer nicht bald melden. Ich komme heute Nachmittag zu Ihnen. Es wird mich niemand bemerken. Ich rufe Sie an, wenn ich vor Ihrer Tür stehe, Sie öffnen und ich verwische die Spur zu Ihnen. Dann warten wir und beraten uns weiter. Überlegen Sie bitte bis dahin, was wir als Beweis dafür fordern wollen, dass Ihre Frau wirklich in ihrer Hand ist."

    „Mach ich, bis denne", erwiderte Schwarowsky, und die beiden Männer kippten ihre Grappe hinunter.

    „Ach übrigens, fügte er noch an. „Sie haben ja gar keine Glatze, Herr Punzel!

    2

    Als Punzel wieder vor dem Haus stand, in dem sich sein Büro befand, schaute er zum ersten Mal seit Monaten wieder einigermaßen wohlgefällig auf das Kanzleischild. Gerade noch hatte er befürchtet, dass den Kompagnons sein Ruin ganz recht gekommen wäre. Dann hätten sie fürderhin unter Schult und Kühne firmiert. „Je weniger Punzel, Dostojewski", hatte Gustav noch kürzlich gewitzelt. Das war schon eine ernst zu nehmende Warnung gewesen.

    Mit dem Ärmel seines Jackets fuhr Punzel nun über das Schild, um es zu säubern, obwohl das kaum nötig war, musste es doch kürzlich noch geputzt worden sein. Ihm aber kam es so vor, als ob es erst jetzt seinen vollen Glanz entfaltete. Nicht anders als selbstzufrieden, ja durchaus stolz zwinkerte er ihm zu und schloss die Tür auf.

    In seinem Zimmer sah er zuerst nach, was sich in dem Umschlag befand, den ihm Schwarowsky vor dem Café in die Innentasche seines Jackets mit den Worten „Für Ihre Auslagen" gesteckt hatte. Es waren Scheine unterschiedlichen Werts. Zusammen ergaben sie fünfhundert Euro. Punzel war zufrieden. Das ließ sich gut an.

    Dann notierte er die wichtigsten Fakten: Frau Lotte Schwarowsky war 48 Jahre alt, 1,68 Meter groß, hatte blonde Haare und eine leicht füllige, frauliche Gestalt. Feinde oder Missgünstige waren ihrem Mann nicht bekannt, sie ging fremd, was ihr Mann ihr aber nicht verübelte. Die im Moment einzige Spur führte nach Wilmersdorf in ein Haus in der Nähe der Bundesallee. Schwarowsky hatte Punzel die Adresse genannt. Personen in zwei Wohnungen hatte sie dort aufgesucht, sehr wahrscheinlich Bums- (das strich Punzel sofort wieder) Männerbekanntschaften. Das Haus würde er sich gleich nachher einmal ansehen.

    Blieb noch die offene Frage nach der Identität des Fingers zu klären. Er wollte sich im Internet schlau machen oder zumindest schlauer zu machen versuchen, nur wusste er noch nicht, mit welchen Suchroutinen er das anfangen sollte. Als er darüber sinnierte, fiel ihm ein, einem solchen „Fall" schon einmal begegnet zu sein, also die Entführung einer Frau, deren abgetrennter Finger als Beweis für das Kapitalverbrechen an den Ehemann verschickt worden war. War es bei den Blues Brothers? Unsinn, wo sollte das dort seinen Platz haben. Nein, aber ein lustiger Film musste es gleichwohl gewesen sein.

    Dann hatte er es: Der „Dude" alias The Big Lebowski war in eine Groteske verwickelt worden, gänzlich unbeteiligt, aber mit bösen Konsequenzen. In diesem Film war das Szenario ganz ähnlich, auch, dass eine Entführung zweifelhaft schien. Punzels kurze Recherche bestätigte ihn und korrigierte ihn gleichzeitig: Tatsächlich handelte es sich um einen Zeh, nicht um einen Finger, der der angeblich entführten Tochter des Millionärs abgetrennt worden war. Und es gab, wie sich herausstellte, auch tatsächlich keine Entführung. Allerdings eine Lösegeldübergabe, die durch den Dude und seinen Freund derart verkorkst wurde, dass das Geld verlorenging und deshalb die mutmaßlichen Entführer wie auch der das Geld bereitstellende Ehemann fortan äußerst schlecht auf den Dude zu sprechen waren.

    An der Stelle mit der misslungenen Lösegeldübergabe brach Punzel seine Recherche in dieser Sache ab. Regisseur Joel Coen, las er abschließend, soll über den Film gesagt haben: „Wir wollten eine Chandler-ähnliche Geschichte erzählen – wie sie sich episodisch bewegt, und von Figuren handelt, die einen Kriminalfall auflösen; und wir wollten gleichfalls eine hoffnungslos komplexe Handlung, die am Ende doch unwichtig ist." Ein absolut überzeugendes Konzept.

    Aber man war ja schließlich nicht beim Film, der ganze Fall Lotte und insbesondere das Abliefern der 100.000 Euro würden schon nicht in einer mit Lebowski vergleichbaren Katastrophe enden. Trotzdem blitzte in Punzel Hirn eine Sekunde lang der Titel The Big Schwarowsky auf …

    Er schüttelte sich kurz und besann sich dann auf die Frage, wie man, ohne ein Labor zu bemühen, die Identität des Fingers der Dame klären sollte. Aber darauf bekam Punzel keine Antwort. Um wenigstens etwas weiterzukommen, machte er sich auf den Weg zu dem Haus in Wilmersdorf, das Schwarowsky observiert hatte.

    Indem er die Kanzleihaustür aufzog, warf ihn die herein strömende Luft fast um. Es musste jetzt an jene 40 Grad haben, die der Wetterbericht am Morgen angekündigt hatte und die mit einer Schwüle daherkamen, dass es einem schier den Atem raubte. Es lag ein Gewitter extraordinärer Qualität in der Luft, und darauf galt es sich vorzubereiten. Auf gar keinen Fall kam es für Punzel jetzt in Frage, Bus oder

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