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eBook364 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Der junge Christoph Grimm führt ein trostloses und langweiliges Leben. Da kommt ihm die Mitteilung recht, dass sein Vater ihm neben einer beachtlichen Summe Geldes auch ein Mietshaus in bester Lage überschreibt, samt eigener Luxuswohnung. Die anfängliche Begeisterung weicht jedoch schnell der Erkenntnis, dass sein neues Domizil ein Eigenleben führt. Geräusche, Schatten und ein geheimes Zimmer, von dem aus er Einblicke in das Haus, in die Wohnungen seiner Mieter erhält, die er so gar nicht erhalten will. Jeder Tag bringt neue unangenehme Überraschungen und Geheimnisse und als er schließlich das Haus verlassen will, ist es zu spät...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum28. Nov. 2018
ISBN9783748200574
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    Buchvorschau

    Gespalten - Carsten Steiner

    15.Dezember

    Der Anruf

    Der Anruf kam an einem späten Mittwochabend. Ich sah Fernsehen, trank Dosenbier und fragte mich warum die tollen Typen in den Filmen nicht nur die schönsten Frauen abbekamen, sondern obendrein fast immer auch Multimillionäre waren.

    Ich ließ das Telefon klingeln.

    Niemand rief am späten Mittwochabend an, mich sowieso nicht. Der Anrufer ließ nicht locker.

    Nach ewigen Klingeln stolperte ich leicht angetrunken zum Telefon hin.

    „Spreche ich mit Herrn Christoph Grimm?"

    Eine dunkle, fast furchteinflößende Stimme.

    „Wer spricht?", kam meine Antwort leicht lallend.

    „Sind sie Herr Christoph Grimm?"

    „Ja", antwortete ich gedehnt.

    „Wir müssen einen Termin machen."

    „Einen Termin?"

    „Mein Name ist Schwarz. Notariat Schwarz und Partner." Er machte eine bedeutungsvolle Pause, als wartete er auf Beifall.

    „Ihr Vater, fuhr er fort, „hat meine Kanzlei beauftragt, mich mit ihnen in Verbindung zu setzten. Es geht um das Objekt an der Hafenkante.

    „Hafenkante?"

    „Das Mehrfamilienhaus ihres Vaters. Hafenkante sieben."

    Er machte eine kurze Pause. „Haben sie eine E-Mail-Adresse für mich? Sie erhalten dann alle notwendigen Unterlagen schon einmal zur Ansicht."

    Ich verstand nichts.

    Er schien meine Gedanken zu erraten.

    „Kommen sie Morgen ab acht Uhr in der Früh. Bringen sie ihren Personalausweis und vor allem Zeit mit."

    Widerstandslos nannte ich sie ihm. Das Bier zeigte seine Wirkung.

    „Danke, antwortete mir die dunkle Stimme am anderen Ende der Leitung. „Ich werde sie umfassend informieren. Versprochen.

    16.Dezember

    Morgens

    Ich hasse U-Bahnfahren.

    Ich hasse Busfahren.

    Aber mein eigener Wagen war bereits seit zwei Jahren abgemeldet, mit fehlte schlicht das Geld für die Haftpflichtversicherung. Mir gegenüber saßen zwei nach undefinierbaren Ausdünstungen riechende Männer unbestimmten Alters, neben mir plapperte eine junge Frau sinnloses Zeug in ihr Handy. Mein Kopf schmerzte, nach dem Notaranruf waren der Inhalt von zwei weiteren Flaschen Bier durch meine Kehle geflossen und heute Morgen stellte ich zu meinem Leidwesen fest, dass es in meiner trostlosen Wohnung nicht einmal eine Alka-Seltzer gab.

    Auf dem Fenster verkündete ein Aufkleber das ewige Himmelreich, wenn die Sünder nur bereuen würden. Ein Mann, hochgewachsen und mit starrem Gesichtsausdruck, in der Mitte des Waggons stehend, sah zu mir hinüber. Mich beschlich das Gefühl ihn irgendwo bereits einmal gesehen zu haben.

    Er war im Gesicht tätowiert, schmale, engsitzende Augen. Kurze, schwarze Haare. Kein sympathischer Eindruck. Woher kannte ich ihn?

    Ich warf einen Blick nach draußen, suchte in meinem Hirn nach einer Verbindung zu diesem Mann. Als ich ihn ein zweites Mal in Augenschein nehmen wollte, war er verschwunden.

    Im ganzen Wagen war nichts von ihm zu erblicken.

    Merkwürdig dachte ich, schob den Vorfall aber auf meine Übermüdung, um ihn sofort zu vergessen.

    Vom Bahnhof aus waren es zwanzig Minuten zu Fuß. Die Kanzlei. Ein beeindruckender Bunker, groß, protzig, viel Glas und Stahl.

    Dann saß ich vor dem Notar. Ich kam mir vor wie ein Bittsteller.

    Als mein Vater seine erste Million machte, von der er rückblickend träumerisch erzählte,

    „…es sei die schwerste gewesen…"legte er einen nicht geringen Teil dieses Geldes in einem Haus an. Nein, nicht irgendwo im Grünen, auch keine Stadtvilla, nein, es war gleich ein ganzes Mehrfamilienhaus.

    Mitten in der Stadt. Mit Hafenblick. Acht Luxuswohnungen wie der Notar sachlich und nüchtern ausführte. Hohe, garantierte Mieteinnahmen. Und eine neunte Wohnung. Für mich. Eine Sechs-Zimmer Wohnung, rundherum mit einer Dachterrasse und allem erdenklichen Luxus ausgestattet. Es sei der persönliche Wunsch meines Vaters, führte Herr Schwarz aus, notariell gegengezeichnet, mich dort einzuquartieren. Zusätzlich eine nicht unerhebliche Summe Geldes, als Anzahlung wie der Notar trocken bemerkte, auf das spätere Erbe. Der Notar mochte mich nicht. Es war wie auf die Stirn eingemeißelt. Erben, dachte er wohl. Leute, die nichts in ihrem Leben vollbrachten und nur die Hand aufhielten. In solchen Augenblicken nagte es an mir. Da war meine schmucklose Wohnung, der heftige Streit mit meiner Liebsten, die daraufhin sofort ihre Koffer packte. Sie warf mir ungute Dinge vor, Eifersucht und ähnliches und dass keine Frau es mir jemals recht machen könnte. Vor allem aber, nahm sie zwei böse Wörter in den Mund: Muttersöhnchen war das erste, das zweite gleich hinterher geschossen, Versager.

    Ich sann über mein Leben nach.

    Tatsächlich gab es auf der Habenseite wenig vorzuweisen. Weder genoss ich das Leben, noch zeigte irgendwo eine Treppe den Weg nach oben. Ganz zu schweigen vom Licht am Ende des Tunnels. Aber jetzt? Jetzt war ich reich. Seltsam, dass es im ersten Moment nicht ausreichte, mich aus meiner Lethargie heraus zu reißen.

    „Herr Grimm? „Ja?

    „Haben sie verstanden? Den Inhalt der Übertragung?"

    Ich blickte zu diesem aufgeblasenen Schreibtischtäter hinüber. Typisch für meinen Vater, sich einen solchen Notar, dem man nachts nicht auf der Straße begegnen wollte, massig und groß wie er war, auszusuchen.

    „Ja. Ja habe ich."

    „Wirklich?", hakte der Notar nach.

    Ich zuckte mit den Achseln. Was gab es misszuverstehen?

    Ich bin reich, dachte ich. Das viele Geld würde mir guttun. Meinen Job hinschmeißen, ausspannen, irgendwann etwas Neues anfangen. Die Mieten sinnvoll anlegen, und von meiner Luxusterrasse hinunter auf den Hafen schauen. Womöglich nicht alleine.

    Allein, ich fühlte mich unwohl. Ich ertrug nur mit Mühe seine langsamen und leisen vorgetragenen Ausführungen.

    Schließlich beendete er seine Rede.

    Ich nickte ihm zu.

    Schwarz versprach alles in die Wege zu leiten. Er händigte mir Schlüssel, schriftliche Unterlagen und einen Briefumschlag aus.

    „Dieser Brief, sagte der Notar in langsamen, geduldigen Worten, so als ob er vermutete, dass ich ihm intellektuell nicht folgen konnte, „dieser Brief enthält Instruktionen ihres Vaters. Bezüglich ihrer eigenen Wohnung. In die sie morgen einziehen können.

    „Morgen?"

    „Morgen", bekräftigte der Notar, ohne sich auf eine weitere Diskussion einzulassen.

    Schwarz fuhr fort, mich mit sorgfältig gewählten gesprochenen Worten über die weiteren Inhalte des väterlichen Willens zu informieren. Ich trank die mir angebotene Tasse Kaffee serviert von einer ältlichen Sekretärin, deren ganzes Gesicht hinter einer mächtigen Brille verborgen schien. Grau war sie, grau wie das ganze Büro. Auch der Notar erschien mir wie in kaltes Licht getaucht. Grauer Anzug, lichtes, farbloses Haar. Nicht nur der der ganze Vorgang, das Büro, die Personen hier, erschienen mir bizarr.

    Vor allem, wo war mein Vater? Warum überließ er die Übertragung einem wildfremden Menschen. Ich stand ohne jede Information da, ohne jede Vorbereitung.

    Für einen Moment holte ich die Bilder aus meinem Gedächtnis. Das volle blonde Haar, stahlblaue Augen und ein beachtlicher Bauch. Ein dröhnendes Lachen und eine Pranke, mit der mein Vater mir zu Unzeiten stets auf meine schmalen Schultern hieb.

    Was ihn bewogen mag, mir dieses Haus zu überschreiben, entzog sich meiner Kenntnis, doch im ersten Moment war ich ihm dankbar. Diese Dankbarkeit ging an diesem Dezembermorgen so weit, dass ich ihm großmütig seine Abwesenheit verzieh.

    Der Notar war fertig. Die Unterlagen verpackt, das Schlüsselbund in meiner Tasche. Ich erhob mich.

    Mein Gegenüber räusperte sich. Fragend sah ich zu ihm hinüber.

    „Eine letzte Sache, Herr Grimm."

    Er fischte aus einer offenen Schublade ein kleines Blatt Papier hervor. Nein, kein einfaches Stück Papier. Ein Foto. Ein alter Mann. Zerfurcht, wie von der Zeit und Rost zerfressen.

    „Wer ist das?"

    Jetzt war es für den Notar fragend zu mir zu hinüber zu sehen.

    „Ihr Vater", kam es mit fester Stimme zurück.

    Ich lachte kurz auf.

    „Ich habe meinen Vater über ein Jahr nicht mehr gesehen, aber das ist gewiss nicht mein Vater."

    „Sehen sie genau hin", forderte der Notar mit fester Stimme, mich aus seinen tiefliegenden Augen taxierend.

    Nochmal nahm ich das Foto in Augenschein.

    Nichts.

    „Ihr Vater bat mich ihnen mitzuteilen, dass er derzeit keine Fragen, bezüglich Aufenthaltsortes, persönliche Verhältnisse und weiterer Zukunftspläne beantworten würde. Deswegen bat er mich, ihnen das Foto auszuhändigen. Er sagte, sie würden sich ihre eigenen Gedanken machen."

    Ganz plötzlich sah ich ihn. Seine Augen. Immer noch stahlblau. So gar nicht zum Foto passend. Aber den Kampf gegen die unerbittliche, fortschreitende Zeit, hatte der Sieger, der Überflieger, mein Vater endgültig verloren. Wahrscheinlich war er krank, der Grund für seine Abwesenheit.

    Darauf hätte ich gleichkommen können.

    Ich ließ meinen Blick über das Gesicht des Notars gleiten. Es war ausdruckslos und starr. So als versuchte er ein Geheimnis vor mir zu verbergen. Oder war da mehr? Vielleicht Angst. Nackte Angst vor etwas Unaussprechlichen. Panik. Ich bemerkte am Haaransatz Schweißtropfen. Ich mochte diesen Mann nicht. Seine ausgesprochene, distanzierte Art flößte mir am Anfang des Termins Respekt ein. Nach einer halben Stunde Vortrag, blieb von seiner Souveränität kaum etwas übrig. Entsprechend erleichtert schien er mir, da ich mich erhob und mich verabschiedete.

    Schwarz brachte mich noch zur Bürotür und versprach für Rückfragen erreichbar zu bleiben.

    Schwafler dachte ich. Und ein Gedanke manifestierte sich: Was stimmt hier nicht?

    Vor der Bürotür stand ich einen Augenblick auf dem Gehsteig und blickte verwirrt an meinem Handgelenk hinunter.

    Eine Armbanduhr, kurz blinkend im schwachen Sonnenlicht. Schwer mit einem großen Ziffernblatt. Ein Stunden-, ein Minuten- und ein Sekundenzeiger. Der kleine Sekundenanzeiger lief schnell seine Runden, so wie für einen Sekundenzeiger vorgesehen.

    Fasziniert sah ich auf den Zeitmesser. Wie war er an mein Handgelenk gekommen? Lag die Uhr bei den Unterlagen für mein Haus und dann im Gedanken angelegt? Doch mehr noch erregtes etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Der Sekundenzeiger. Ganz richtig, der Sekundenzeiger. Er lief rückwärts. Und nach jedem Umlauf rückte der Minutenzeiger zurück. Weshalb lief die Uhr rückwärts? War es eben noch zehn nach, sprang der Minutenzeiger auf neun, der Sekundenzeiger nahm unverdrossen die nächste Runde in die falsche Richtung in Angriff.

    Ich blickte nach oben. Im ersten Stock bewegten sich die Vorhänge. Für einen Moment sah ich den Notar, wie er zu mir hinuntersah. Hinter ihm bemerkte ich einen Schatten, doch im nächsten Moment blendete mich die tiefstehende Sonne, dann verschwand das Bild.

    Am Abend gab es teuren schottischen Whiskey, garniert mit Essen aus der Pommesbude. Was solls. Ich besaß Geld. Mehr als ich je verdient, mehr als ich je erhofft.

    Trotzdem gab es unbeantwortete Fragen. Nur, dass ich diese Fragen nicht in Worte pressen konnte, sich mir entwanden, sobald ich glaubte einen Ansatzpunkt gefunden zu haben. Ich war müde. Ich wollte die Gedanken morgen zu Ende führen, heute den letzten Abend in meiner schmuddeligen Wohnung verbringen.

    Morgen würde ich in mein neues Reich einziehen.

    Ich lag in meinem Bett und starrte hinauf. Eine schmutzige, verfärbte Deckenkonstruktion.

    Mir war jeder Riss, jeder Fetzen Tapete bekannt. Fast wie ein guter Kamerad, schien mich das lange schon ausgeblichene Stück Papier anzulächeln, mich den Schlaf hinüber zu begleiten.

    Meine Eltern

    Bevor ich mit meiner Geschichte beginne, möchte ich Ihnen von meinen Eltern erzählen.

    Da war meine Mutter. Ursula Klein war so deutsch, dass einem schlecht werden konnte. Sie trug ihr blondes Haar, wie einst des Führers Eva und träumte von der Weltherrschaft und guten deutschen Tugenden. Ihr Vater war vor Stalingrad in russische Gefangenschaft geraten und kam erst 1955 mit den zehntausend Heimkehrern zu seiner Frau zurück. Zu diesem Zeitpunkt war Karl-Adolf Klein bereits kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag, seine Frau Ursula mit dreiunddreißig Jahren noch im besten Alter ein Kind zu empfangen.

    Karl-Adolf versprach seiner frisch angetrauten vor seiner Reise nach Stalingrad, die nur unerheblich um einige Arbeitsjahre wegen in Sibirien verlängert wurde, viele Kinder. Sozusagen einen ganzen Sack voller Kinder. Diesen ganzen Sack forderte Anneliese nun im wahrsten Sinne des Wortes ein.

    Zumindest eines wollte sie. Endlich sollte das lange ersehnte Kind ihr Leben bereichern. So kam es zu Hildegards Zeugung und trotz Unverständnis in der Verwandtschaft und der Nachbarschaft ob des älteren, vom Krieg gezeichneten Vaters, gebar Ursula Klein ein gesundes und munteres Töchterchen, das fortan auf den Namen Hildegard hörte.

    Karl-Adolf Klein sollte das freudige Ereignis nur kurz überleben. Er, der in den Jahren zuvor die touristischen Reize sibirischer GULAG-Lager erkundete, war mit den neuen Verkehrsverhältnissen im Nachkriegsdeutschland, mit hupenden Pkws und lärmenden Lastkraftwagen einfach nicht vertraut und geriet durch eigene Unachtsamkeit im wahrsten Sinne des Wortes unter die Räder.

    So wurde Hildegard von ihrer Mutter recht einseitig erzogen. Denn Großmutter Ursula kannte neben Männern nur ein Thema: Geld.

    Geld war immer ein Thema und Mutter Klein trichterte ihrer Tochter stets ein, dass Geld sowie materieller Besitz in den verschiedensten Formen, das wichtigste Gut im Leben einer Frau darstelle. Und wenn eine Frau über solch materielle Vorzüge nicht verfügte, galt es die eigenen, sprich die weiblichen, körperlichen Vorzüge zum Erwerb von Geld, viel Geld, einzusetzen.

    Sprach die Frau Mama. Denn da sie selbst nur über wenige materielle Besitztümer verfügte, war sie auf der steten Suche nach Möglichkeiten der Vermögensvermehrung. Sie traf sich mit Damen, mit denen anständige Frauen nicht verkehrten. Dabei entdeckte Ursula Klein für sich eine berufliche Zukunft, in der sie nur eines nicht sein durfte: Zimperlich.

    Und Ursula war alles, nur nicht zimperlich. Von Zurückhaltung ganz zu schweigen. Es gab genügend Männer, gerade solche denen es finanziell gut und besser in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwunges ging, jene mit einer fetten schwarzen Zahl auf dem Konto. Männer einer bestimmten Art, die eine harte weibliche Hand an ihrem Körper wollten und gleichzeitig die verbale Erniedrigung schätzten.

    Meine Großmutter ihrerseits schätzte die gute Bezahlung.

    Die kleine Hildegard hörte die prägenden Geräusche am Tag, in der Nacht und überhaupt zu jeder Zeit. Praktisch gesagt, sie wurde damit bestens auf ihr späteres Leben vorbereitet.

    Und sie vergaß nie die allabendlichen Vorträge über Geld, Männer und anderen Luxus, die sich in ihrem Gehirn manifestierten. Zielgerichtet suchte sie sich als großes Mädchen einen reichen Mann. Was soll ich sagen, sie wurde schnell fündig.

    Norbert.

    Ein ungehobelter Knochen, schon in frühen Jahren mit einer gewissen Körperfülle gesegnet, aber durch familiäre Beziehungen vermögend und damit ansehnlich.

    Norbert verliebte sich Hals über Kopf in die blonde Hildegard. Den Abkömmling eines Spekulanten traf sie das erste Mal in einem Krankenhaus. Dort lag er mit seinem gereizten Blinddarm. Hildegard war Krankenschwester, denn ihre Mutter war der Meinung in einem Krankenhaus würde sie am ehesten einen vermögenden Gatten in Person eines Oberarztes, besser noch eines Professors, finden. Eine Berufsgruppe bei der Großmutter Geld und Ansehen vermuten durfte.

    Norbert war kein Arzt, aber ein reicher Mann und das reichte Tochter wie Mutter. Schon wenige Tage nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus saßen sie in seinem schicken weißen Cabrio, sahen dem Sonnenuntergang an der Ostsee zu und waren sich bald herzlichst zugetan. Es war ein warmer Sommerabend, langsam zog die Dämmerung am Nachthimmel empor und genauso langsam zog Hildegard aus dem Krankenhaus mitgebrachte Plastikhandschuhe über ihre schlanken Hände. Norbert öffnete seine Hose und Hildegard ging ans Werk. Meine Großmutter war ihr eine gute Lehrmeisterin gewesen und Hildegard war mit der Funktionsweise gewisser Teile der männlichen Anatomie durchaus vertraut. Den Rest besorgte Hildegards weibliche Intuition. So brauchte Norbert kaum eingreifen und seine zukünftige, die er von nun an zärtlich „Hildi" nannte, vollbrachte ihr Werk angesichts eines sehenswerten Ausblicks auf die ruhige See. Idyllisch wie sich die Möwen sanft im Takt der Wellen schaukelten, synchron im Takt zu Hildis Handarbeit.

    Bei ihrer Kündigung im Krankenhaus nahm Hildi noch einen größeren Vorrat an Plastikhandschuhen mit, eingedenk der Tatsache, dass es noch viele Abende an der Ostsee geben könnte.

    Die Wohnung, die das junge Paar nach ihrer schnell anberaumten Hochzeit bezogen, war dem damaligen Geschmack entsprechend, vor allem aber teuer, eingerichtet.

    Hildegards Mutter vergoss ein paar Freudentränen, Norberts Eltern waren ihre mangelnde Begeisterungsfähigkeit an der Nasenspitze anzusehen. Schließlich brachte Hildi ja kein Geld ins Haus. Beim späteren obligatorischen Hochzeitsbesäufnis kamen sich die Schwiegereltern jedoch rasch näher, als gemeinsame Interessen und Vorstellungen zu Tage kamen. Norberts Vater, ebenso dick und umfangreich wie sein Sohn, griff der mittlerweile nicht mehr ganz so blonden Ursula an den Hintern, was diese lächelnd hinnahm da sie ja wusste, wie viel Geld hinter diesem Griff steckte. Später leckte er ihre Pumps, ein Anblick, der seine Frau, die das Pärchen im eigenen Auto überraschte, sexuell überhaupt nicht stimulierte.

    Woraufhin die Vertiefung jeglicher weiteren Kontakte der Elterngeneration abrupt abgebrochen wurde.

    Natürlich gab es einen handfesten Skandal und selbstverständlich wurde die Angelegenheit vertuscht. In Zukunft wurde überhaupt eine Menge vertuscht.

    Norbert fand es mit der Zeit weniger prickelnd von einer Plastik beschuhten Hand befriedigt zu werden und wünschte Abwechslung im abendlichen Eheprogramm, worauf Hildi energischen Protest einlegte. Sie waren ja erst wenige Tage verheiratet.

    Die plötzlich keusche Hildegard wartete in der Tat einen ganzen Monat lang, ehe sie sich ihrem Mann hingab, ein Ereignis, das wenig erwähnenswert blieb.

    Hildegard wurde in jener Nacht geschwängert, was sie zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht wissen konnte. Doch da ihr der Akt als solcher wenig zusagte, entsagte sie der körperlichen Liebe. Da zudem Hildegard die Plastikhandschuhe ausgingen und Norbert keine Lust mehr verspürte für Hand-Sex mit seinem Cabrio an die Ostsee zu fahren, gab es für Hildegard bald überhaupt keinen Grund mehr, mit ihrem Angetrauten sich abendlich im Ehebett einzufinden.

    Doch anstatt sich zu trennen, begann Norbert in seiner Arbeitszeit verschiedene Frauen zu besuchen. Da war er nicht wählerisch. Eine Scheidung kam natürlich nicht in Frage, denn die Meinung seiner Nachbarn und Geschäftskunden lag ihm am Herzen. Und redende Nachbarn, von redenden Geschäftskunden ganz abgesehen, sind prinzipiell schlecht, entweder fürs Geschäft oder für das nähere Umfeld oder beides zusammen.

    Hildegard, die ebenfalls viel Wert auf die Meinung ihrer Nachbarn legte, bekam im Laufe ihres Ehelebens immer häufiger Schläge. Vor allem, wenn ihr Mann zu tief ins Glas schaute. Mit der Zeit benötigte meine Mutter immer mehr Zeit, ihr lädiertes Äußeres in Form zu bringen. Hauptsache, die Nachbarn bemerkten nichts…

    In dieser freundlichen Atmosphäre wuchs ich also auf. Mein Vater nannte mich seinen kleinen, dicken Pummel. Kein Wunder. Denn meine Mutter stopfte mich mit Süßigkeiten voll. Das heißt sie kaufte die Süßigkeiten, vor allem Schokolade und versteckte diese an für mich gut zugänglichen Stellen. Als kleiner, neugieriger und ich darf bei aller Bescheidenheit sagen, intelligenter Junge, stellten ihre Verstecke keine intellektuellen Hindernisse dar. Ich stopfte ganze Berge an Schokolade in mich hinein. In immer kürzeren Abständen war Hildi nunmehr gezwungen Nachschub zu organisieren.

    Und ich wurde dicker.

    Zuerst nur an den Oberschenkeln.

    Dann am Bauch.

    Zuletzt im Gesicht.

    Ich wurde in der Tat zu einem Pummelchen, mit Verstopfung und einer langsam zunehmenden Abneigung gegen Schokolade. Schokolade in jeder Form.

    Einmal, das schwor ich mir im Alter von zwölf Jahren, würde ich mich rächen.

    Sie zu mir einladen, die Tür abschließen, die Jalousien herunterlassen und meine Mutter an einen Tisch gedeckt mit drei riesigen Schokoladenkuchen setzen. Jedes einzelne Stück in sie hineinstopfen.

    Komm schon Mutter, iss", würde ich sagen. „Iss." In ihren glasigen Augen wäre die Abscheu ihrem Sohn gegenüber zu sehen und wenn alle drei Schokoladentorten gegessen und geschluckt, dann würde ich sie töten.

    Phantasien eines Zwölfjährigen.

    Regelmäßig erschauerte ich bei diesem Gedanken.

    Ich träumte davon.

    Solange bis ich zwischen Realität und Traum nicht mehr unterscheiden konnte und meine Mutter röchelnd und aufgedunsen vor mir auf dem Fußboden liegen sah. Krepierend.

    Dann stand sie vor mir, fuchtelte mit den Händen, schrie mich an und schneller als mir lieber war, wurde mir bewusst, dass ich mich zu lange meinen Tagträumen hingab.

    So mehr ich mit meiner Mutter die Tage verbrachte, so weniger sah ich meinen Vater. Er verbrachte einen Großteil seiner Zeit mit Geld verdienen und die restliche Zeit es mit Frauen wieder auszugeben, die sich mit Männern amüsierten, die viel Geld, wenig Verantwortungsbewusstsein, aber die Fleisch gewordene Überzeugung propagierten, dass Geld sexy mache.

    Seiner Ehefrau gab er Haushaltsgeld und einmal im Monat eine kleine Summe Taschengeld, galt es den äußeren Schein zu wahren. Manchmal, wenn er sich mit seinen Kumpeln sinnlos in irgendeiner Kneipe betrank, durfte sie ihn in seinem schnieken Cabrio abholen. Und natürlich auch seine betrunkenen Kumpane, die die Ledersitze dann mit erheblicher Ausdauer vollkotzten. Aber zum Saubermachen gab es ja Hildi und Hildi erhielt für diese Sauarbeit immer ein Extrataschengeld.

    Allerdings weigerte sich Hildi ihn von seinen zahllosen außerehelichen Abenteuern abzuholen.

    „Wenn du dich bei deinen Nutten betrinkst, sieh allein zu wie du heimkommst. Übrigens, komm ja nicht auf den Gedanken, dass sich so eine unserem Haus auch nur nähern darf. Ich töte sie. Alle. Dessen sei sicher."

    Das waren die Momente in dem mein Vater Norbert Angst vor seiner Frau bekam. Mit der Zeit wurde diese Angst gegenständlich. Berechtigterweise.

    Bei dieser regelmäßig wiederkehrenden Warnung begann ihre schrille Stimme in den höchsten Tönen zu beben. Immerhin konnten wir uns so eine eigene Sirene auf dem Hausdach ersparen.

    Manchmal nahm sie das Cabrio und fuhr an die See hinaus. Sie zog ihre neuen Plastikhandschuhe an, verwöhnte den Steuerknüppel stundenlang, von oben nach unten, reibend. Dazu dröhnte aus dem Radio Puccinis Turandot. Wenn die Sonne unterging fuhr sie nach Hause, mir mein Abendessen mit verschiedenen Schokoladentafeln zu bereiten.

    Als ich älter wurde, begann ich mich für Mädchen zu interessieren. Mutter meinte, ich sei noch zu jung dafür, mein Vater fand mein erwachendes Interesse erheblich spaßiger.

    Zwar war mein Schokoladenbabyspeck mittlerweile verwachsen, doch nun war Mutter Hildi auf eine neue kulinarische Spezialität gestoßen. Sie begann Kuchen zu backen. Torten, helle Kuchen, Mandelsplitter, Kopenhagener und nicht zu vergessen Erdbeerkuchen.

    Ich begann wieder zu wachsen, in die Höhe wie in die Breite.

    Genauso begann ich zu hassen. Die Streitereien zwischen meinen Eltern, die, wenn sie sich trafen, sofort verbal übereinander herfielen, das Essen meiner Mutter, das mir überhaupt nicht schmeckte und überhaupt hasste ich das ganze Leben. So wie das Pubertierende gern machen.

    Das ich von zu Hause weglief, war eine fast schon logische Konsequenz. Ich schwor mir, in meinem Leben würde es eine Reihe von Dingen nicht geben:

    Schokolade, Kuchen in jeder Geschmacksrichtung und eine Ehefrau. Genau in dieser Reihenfolge.

    Ich war knapp achtzehn, als ich nach fast zwei Jahren auf der Straße wieder nach Hause zurückkehrte. Brav holte ich meine verpasste Schulzeit nach, brav begann ich eine Ausbildung und brav wollte ich auch in Zukunft sein.

    Meine Erlebnisse in diesen zwei Jahren sind nicht weiter erwähnenswert. Sicher aber der Auslöser für meine Anpassung. Ich sehnte mich nach den vergangenen Monaten nach einem langweiligen, angepassten und ruhigen Leben zurück. Eben einem braven Leben.

    Nur mein Vater war weg.

    Nicht weit.

    Er lebte mit irgendeiner blonden Schlampe, wie Hildegard sich auszudrücken pflegte, zusammen. Sie hatte ihn einkassiert, bemerkte sie boshaft. Mit stoischer Genügsamkeit sah sie jedoch darüber hinweg, straffte ihr Kinn, stützte sich auf ihre geballten Fäuste und ließ ihre kalten, blauen Augen über ihren letzten familiären Besitz streifen.

    Mich.

    Es ist nicht leicht sich im Besitz einer quasi jungfräulichen Mutter zu befinden.

    Norbert, seines Zeichens mein Vater, schüttelte seinen Kopf. Wie konnte sich ein junger Mann so von seiner Mutter

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