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Der Schatten des Engelmachers: Kriminalroman
Der Schatten des Engelmachers: Kriminalroman
Der Schatten des Engelmachers: Kriminalroman
eBook349 Seiten4 Stunden

Der Schatten des Engelmachers: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

"Der Schatten des Engelmachers" ist Band 2 der "Engelmacher"-Trilogie nach Band 1 "Der Engelmacher aus Frankfurt".

Es ist nicht vorbei – es war nie vorbei ... Er ist nicht allein – er war nie allein ...
Der Plan des Engelmachers ist perfider und weitreichender, als es Tom Martini je angenommen hatte. Ihm steht ein Helfer zur Seite, der mit dem Detektiv spielt wie mit einer Marionette an Fäden aus Ketten. Ein weiteres Mal wird Martini die Vergangenheit zum Verhängnis.
Doch es ist nicht nur der Killer, der den Privatdetektiv in Bedrängnis und an die Grenze seiner seelischen Belastbarkeit bringen wird ...
SpracheDeutsch
Herausgebermainbook Verlag
Erscheinungsdatum1. Feb. 2017
ISBN9783946413547
Der Schatten des Engelmachers: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Der Schatten des Engelmachers - Alexander Schaub

    Kapitel 1

    05. Dezember 2012, 23:55

    Die großen gläsernen Türen der Ratio-Bank in der Solmsstraße öffneten sich. Hans Büchner trat in die kalte Nachtluft, atmete tief ein und wieder aus, um dann die drei Stufen bis zu dem Parkplatz, auf dem sein Auto stand, herabzusteigen. Er gönnte sich ein paar Sekunden der Ruhe, um die weihnachtlich geschmückte Skyline Frankfurts zu begutachten. Die Vorweihnachtszeit mochte er am liebsten. Allerdings behielt er dies für sich, um sein Image als knallharter Banker zu bewahren. Büchner war Mitglied des Vorstands der 1980 gegründeten deutschen Filiale einer niederländischen Bank. Der attraktive Endfünfziger hatte volles, annähernd schwarzes Haar. Er war mittel groß und wirkte sportlich.

    Am heutigen Abend, oder besser in der heutigen Nacht, hatte er wieder eine seiner Besprechungen gehabt. Normalerweise endeten diese Sitzungen gegen zweiundzwanzig Uhr, aber Büchner führte nach dem offiziellen Ende meistens eine zusätzliche Besprechung mit seiner Sekretärin. So verhielt es sich auch in dieser Nacht. Seine Sekretärin war Ende zwanzig und konnte mehr äußerliche als innerliche Attribute auf der Habenseite verbuchen. Und dementsprechend sahen diese Besprechungen aus.

    Fast jedes Mal versprach ihr Büchner, dass er seine Frau verlassen würde, in Wahrheit dachte er überhaupt nicht daran. Vor einer Woche hatte er entschieden, dass er sie in einem Monat feuern würde. Er brauchte Mal wieder Frischfleisch. Bei dem Gedanken musste er lachen. Frischfleisch!

    Sie zu entlassen brachte einen zweiten, nicht zu vernachlässigenden Vorteil, denn seine Frau schien Verdacht geschöpft zu haben. Also war es an der Zeit, die Sekretärin zu wechseln und seiner Frau einen neuen Pelzmantel zu kaufen. Bei Pelzen wurde Frau Büchner immer handzahm und er konnte für das nächste halbe Jahr wieder tun und lassen, was er wollte.

    Büchner zog den Schlüssel seines neuen 7er BMW aus der Tasche und drückte die Öffnen-Taste an der Fernsteuerung. Mit einem dezenten Surren wurde die Verriegelung der Türen gelöst. Er drückte eine weitere Taste, die den Kofferraum aufschwingen ließ. Als Büchner den Koffer mit seinen Unterlagen hineinlegte, bemerkte er eine Bewegung hinter sich. Er drehte sich um und sah in ein fremdes Gesicht. Es war ihm suspekt, dass sich hier spät in der Nacht eine ihm unbekannte Person aufhielt. „Kann ich Ihnen helfen?", fragte der Banker.

    „Ja, können Sie mir sagen, wie ich in die Kasseler Straße komme? Ich habe eine Verabredung am Arche Nova-Haus." Bei diesen Worten wedelte der Unbekannte mit einem Stadtplan.

    „Kommen Sie näher, hier am Auto sehen wir besser, ich zeig es Ihnen. Büchner drehte sich zum Kofferraum, in dem die Beleuchtung aufgeflammt war. Er nahm die Karte und versuchte sich zu orientieren. „Warten Sie mal, hier sind wir, er beschrieb einen kleinen Kreis auf der Karte, „hier in der Solmsstraße, Sie müssen jetzt …" Plötzlich spürte Büchner einen Stich in der rechten Seite seines Halses. Er sprach weiter, doch in derselben Sekunde sackten ihm die Beine weg.

    27. April 1982, 07:01, Brasilien

    Der Raum wirkte schmuddelig. Putz bröckelte von der Decke und Farbe blätterte von den Wänden. Die alten Holzstühle standen in einem Kreis um einen kleinen kniehohen Tisch herum. Sie wirkten abgewetzt, als hätten sie schon viele Menschen kommen und gehen sehen. Stickige Luft füllte den rechteckigen Wartesaal, denn es gab nur ein Fenster gegenüber der Tür, die schon vor langer Zeit aus den Angeln gebrochen war und nun an der schäbigen Wand lehnte. Die Sonne brannte unbarmherzig durch das offene Fenster. Wenn der Wind wehte, brachte er noch mehr heiße Luft mit sich. Eine Klimaanlage wäre einem Gottesgeschenk gleichgekommen.

    Fünf Personen saßen in dem überhitzten Zimmer. Jeder wartete auf Nachrichten über einen seiner Angehörigen oder Freunde. Ein Lautsprecher, der meist nach irgendeinem Arzt rief, durchschnitt die gespenstige Stille, die hier herrschte.

    Der junge Mann, der auf einem Stuhl mit direktem Blick zur Tür saß, wurde immer nervöser. Schon eine Stunde saß er hier, seit ihn die Krankenschwester aus dem Kreissaal hinaus komplementiert, ja hinaus geworfen hatte.

    Dabei hatte alles blendend ausgesehen, als sie heute Morgen hier angekommen waren. Die kleine zierliche Brasilianerin bekam regelmäßig Wehen und die Ärzte meinten, es würde eine Bilderbuch-Geburt werden. Drei Stunden nach ihrer Ankunft verfrachtete die Schwester die beiden glücklichen, werdenden Eltern in den Kreissaal. Der Arzt kam zu ihnen und alles war, wie sie es sich immer vorgestellt und beim Schwangerschaftskurs gelernt hatten. Doch nach einer weiteren halben Stunde, das Baby steckte noch im Mutterleib, traten die Probleme auf. Er verstand nicht, was vor sich ging, aber er merkte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Seine Freundin glühte im Gesicht, sie schwitzte aus allen Poren. Kalter Schweiß. Der Arzt und die Schwester wirkten auf einmal nicht mehr locker und entspannt wie zu Anfang der Geburt. Weitere zehn Minuten später schob ihn die Schwester unsanft aus dem Operationssaal. Nun saß er hier und wurde von Minute zu Minute unruhiger.

    Er blickte zu Boden, schüttelte den Kopf, stand auf, blickte aus dem Fenster, setzte sich wieder, sah zur Tür und blickte wieder zu Boden. Plötzlich stand die Schwester in der Tür. In ihren Armen lag ein kleines in weiße Tücher eingewickeltes Bündel. Es wimmerte leise, sein Kind. Er hastete auf die Frau zu und stolperte dabei über den Tisch in der Mitte des Wartezimmers. Als er vor ihr stand, fiel ihm auf, dass sie nicht lächelte.

    „Ist das mein Kind?", fragte er schüchtern.

    Sie nickte. „Ja, ein Sohn." Immer noch keine Regung im Gesicht der Frau. Sie reichte ihm vorsichtig das kleine Menschenbündel.

    Er sah es an und es erfüllte ihn mit Stolz. Ein Sohn, genau was er sich erhofft hatte. Dann richtete er seinen Blick auf die Schwester, „Wie geht es meiner Frau?"

    Die Schwester blinzelte, wich seinem fragenden Blick ein paar Sekunden aus. Dann schluckte sie schwer, bevor sie ansetzte, „Sie ist leider bei der Geburt gestorben, es tut mir sehr leid." Die Welt um ihn begann sich zu drehen. Das Kind wäre ihm fast aus der Hand gefallen, doch die Schwester griff zu und behütete es davor, auf den harten Steinboden zu fallen. Ein anderer Mann sprang auf, stützte den schwankenden jungen Mann und bugsierte ihn auf einen Stuhl.

    Seine Welt brach zusammen. Alles, was die Beiden sich ausgemalt hatten, zerbrach in dieser Sekunde. Alles war vorbei, nur das Baby blieb ihm. Ein Baby, mit dem er nichts mehr anfangen konnte, ohne sie.

    Zwei Tage später. Die Trauer und der Schmerz über den Verlust seiner Frau waren unermesslich. Sie fehlte ihm so sehr, seine kleine süße Frau. Was sollte er mit dem Baby machen? Er war kein Vater, nicht ohne sie. Dazu seine finanzielle Situation. Was soll ich nur tun, dachte er immer und immer wieder, während das Baby weinte und schrie. Er rang sich zu einem Entschluss durch.

    Er saß in einem schmucklosen Büro auf einem zerschlissenen Besucherstuhl, vor ihm ein alter Massivholz-Schreibtisch. Auf den Beinen das weinende Bündel Mensch. Von der anderen Seite des wuchtigen Holzungetüms schaute ihn eine streng dreinblickende Frau an. Die Leiterin des Kinderheims.

    „Ihr Entschluss ist endgültig? Sie wollen Ihr Kind in unsere Obhut und die des Herrn übergeben?" Die grauen Augen der etwa sechzigjährigen Frau musterten ihn argwöhnisch.

    „Ja. Ich bin mir sicher. Ich kann nicht für ihn sorgen, so wie seine Mutter es gekonnt hätte." Ihm steckte ein Klos im Hals.

    „Sie sind sich der Schwere Ihrer Entscheidung bewusst? Sie werden das Kind nie wiedersehen und es wird nie erfahren, wer seine Eltern sind. Das ist die Philosophie, die unsere Einrichtung verfolgt."

    „Ja, ich weiß", war alles, was er herausbrachte. Das schlechte Gewissen nagte an ihm.

    „Gut! Damit beugte sich die Heimleiterin herunter und zog einige Formulare aus einer der Schreibtischschubladen. „Bitte füllen Sie diese Dokumente komplett und sogfältig aus. Mit Ihrer Unterschrift auf dem letzten Bogen überstellen Sie das Baby unwiderruflich in unsere Obhut.

    Sie reichte ihm einen Kugelschreiber. Er füllte alle Felder der Fragebögen aus. Seine Hand zitterte. Auf der letzten Seite, an dem Unterschriftsfeld, zögerte er einige Sekunden. Dann setzte er seinen Namen auf die dafür vorgesehene Linie. Ihm war, als habe er mit seinem Blut unterschrieben und einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.

    15. Juli 2010, 10:20

    Christopher lief die Straße entlang wie schon viele Male zuvor. Auf beiden Seiten parkten Fahrzeuge, um den Durchgangsverkehr zu verlangsamen und den Anwohnern etwas Ruhe zu verschaffen. Die Sonne, die vom blauen wolkenlosen Himmel herab brannte und die Temperaturen über die dreißig Grad Marke trieb, wurde von den Windschutzscheiben reflektiert.

    Seine Gedanken verweilten bereits bei ihm. Eine große Tat warf ihren Schatten voraus und weitere würden folgen. Vorfreude ergriff ihn, er durfte daran Teil haben. Und nicht nur er, all die anderen auch.

    Fünf Minuten später erreichte Christopher das Haus und klingelte. Der Türsummer erklang nach ein paar Sekunden. Er stieg die drei Treppen hinauf. An der Tür wartete er schon, der Meister. Christopher verneigte sich respektvoll und trat dann ein. Er folgte ihm in das Wohnzimmer und durfte auf einem der Sessel Platz nehmen. Der Meister ließ sich gegenüber nieder.

    „Meister, ich habe von Eurem Werk gelesen. Wundervoll!"

    „Das war nur der Anfang, Christopher. In zwei Wochen wird das nächste folgen. Dieses wird eine Reihe von Vorgängen auslösen und neue Spieler auf den Plan rufen. Ganz zum Schluss, zum Finale, werde ich deine und die Hilfe der anderen benötigen."

    „Wir stehen bereit und warten auf Eure Anweisungen, Meister. Christophers Wangen röteten sich vor Erregung. „Wir werden alles zu Ihrer Zufriedenheit erledigen. Habt Ihr schon einen Plan?

    Der Meister lehnte die Unterarme auf seine Oberschenkel, beugte sich nach vorne und faltete die Hände. „Ja, ich habe einen Plan. Alle werden daran Teil haben und ihn zu meinem Triumphzug werden lassen. Jeder erhält eine spezielle Rolle, keiner darf versagen. Wer versagt, stirbt." Seine dunklen Augen spiegelten Härte wider.

    „Keiner wird versagen, verlasst Euch auf uns Meister!"

    „Ich verlasse mich auf dich. Du trägst die Verantwortung. Enttäusche mich nicht."

    „Niemals, schüttelte Christopher den Kopf. „Niemals.

    „Du musst dir alles merken, es dürfen keine Notizen über den Plan auftauchen. Dies hier ist unsere letzte Unterredung, bevor alles zu Ende ist. Es darf keine nachvollziehbare Verbindung zwischen uns existieren oder auftauchen. Wenn irgendwer uns beide in Verbindung bringt, ist der Plan gefährdet. Ist das klar?"

    „Ja, Meister."

    „Dann höre mir jetzt genau zu …"

    06. Dezember 2012, Uhrzeit unbekannt

    Hans Büchner erwachte. Seine Lider waren tonnenschwer. Sein Genick schmerzte wie der Rest seines Körpers. Der Schädel pochte, als er die Augen langsam öffnete. Eine nackte Glühbirne blendete ihn und er schloss die Lider sofort wieder. Das zweite Mal hob er sie ganz langsam, damit sich die Pupillen an die Helligkeit gewöhnen konnten. Dann richtete er sich vorsichtig auf und blickte sich um.

    Was war das für ein Raum?

    Die Wände bestanden aus rohen Steinen, ebenso der Boden. Er saß auf einer Holzpritsche ohne Matratze oder Decke. Es war kalt und er fror, zitterte leicht. Hinzu kam Ungewissheit und Angst. Ihm wurde übel. „Nur nicht kotzen", sagte er zu sich selbst.

    Wo war er?

    Jemand hatte ihn entkleidet und ihm eine Jacke und Hose aus rauem, kratzigem Baumwollstoff angezogen. Seine Füße waren nackt. Die grünliche Farbe des Stoffs erinnerte ihn an seine Bundeswehrzeit. Tarnkleidung?

    Was sollte das?

    Büchner stand auf, lief durch seine Zelle. Hin und zurück. Die in die Jahre gekommene Metalltür war verrostet, stellte aber trotzdem ein unüberwindbares Hindernis dar. Er schlug dagegen. Es klang hohl und seine Hand schmerzte.

    07. Dezember 2012, Uhrzeit unbekannt

    Etwa einen Tag, nachdem Büchner eingesperrt worden war, bekam er eine warme Mahlzeit. Überraschenderweise sehr schmackhaft, wie das verwöhnte Vorstandsmitglied zugeben musste. Ein paniertes Schnitzel mit Gemüse und Salat, das ließ ihn neue Hoffnung schöpfen.

    Er steckte gerade den letzten Bissen in den Mund, da wurde das Licht ausgeschaltet und ein mörderisch lautes Pfeifen drang aus einem versteckten Lautsprecher. Er hielt sich die Ohren zu, ohne Wirkung. Der Ton war einfach zu laut, sehr hoch und schmerzte im Gehör als würde eine Nadel durch das Trommelfell gebohrt. Egal was Büchner auch tat, er konnte nicht entkommen. Teller, Tablett und Besteck fielen zu Boden. Der Teller zerbrach. Er stand auf, lief durch den Raum, trat dabei in eine der Scherben, stieß im Dunkeln an die Wände, schlug sich die Stirn blutig und suchte die Ecke, in der das marternde Geräusch am Leisesten war. Der Unterschied war minimal.

    Nach gefühlten Stunden endete sein Martyrium so schnell wie es begonnen hatte. Das Licht ging wieder an und die Luke am Fuß der Tür öffnete sich erneut. Diesmal erhielt er eine Tasse Kaffee und ein Croissant. Es schien eine Menge Zeit vergangen zu sein, denn als er den Kaffee roch, knurrte sein Magen. Als erstes untersuchte Büchner seine Fußsohle und zog die Scherbe heraus. Zum Glück war die Wunde nicht sehr tief, die Scherbe relativ klein. Seine Stirn hatte nur ein wenig geblutet, dafür brummte sein Schädel umso mehr. Er trank den Kaffee und aß das Croissant. Das Ganze erinnerte ihn an eine Versuchsanordnung in einem Tierlabor.

    Er trank den letzten Schluck Kaffee, dann begann es wieder, Licht aus und Pfeifen. Ihm schoss durch den Kopf, dass man dies weiße Folter nannte. Er hatte einmal einen Krimi von einem Hattersheimer Autor gelesen, der sich mit diesem Thema befasst hatte. Der Roman war sehr spannend gewesen, aber Büchner hätte nie für möglich gehalten, dass ihm so etwas passieren könnte.

    Nach vier Wiederholungen war endlich Schluss, am siebten Dezember gegen Mitternacht. Hans Büchner war physisch und psychisch am Ende. Als das Licht anging, lag er in einer Ecke seiner Zelle in Embryonalstellung und weinte vor Erschöpfung, Schmerz und Angst. Er hätte zu diesem Zeitpunkt alles getan, um aus dieser Zelle zu entkommen … Alles!

    08. Dezember 2012, Uhrzeit unbekannt

    Er hielt seinen Kopf mit beiden Händen fest umschlossen, um ihn zu stützen. Die Zeit verrann langsam und zäh. Das Schlimmste war für Hans Büchner, dass er nicht wusste, was sein Entführer mit ihm vorhatte. Die Angst fraß an ihm wie ein Hund an einem alten Knochen. Wie lange würde dieses zermürbende Spiel weitergehen? Wann würde er endlich erfahren, was sein Entführer, oder waren es mehrere, von ihm wollte? Ihm wurde schlecht. Er hatte sich bereits zwei Mal übergeben. Die Todesangst brachte ihn schier um den Verstand und seinen Magen dazu, alle feste Nahrung von sich zu geben. Die Situation überforderte ihn. Er war Bankchef, er konnte Entscheidungen über Millionenbeträge fällen, Kunden ins Gesicht lügen, Untergebene feuern oder seine Sekretärin vögeln, aber das ging über alles, was er fassen konnte.

    Er hörte ein Knacken aus dem verborgenen Lautsprecher. Nein, nicht wieder dieser mörderische Ton, eine weitere Folterrunde. Eine Stimme sprach diesmal zu ihm. Sein Kerkermeister und Folterknecht?

    „Guten Tag Herr Büchner. Konnten Sie sich bereits einleben?" Der Mann lachte über seinen Scherz.

    „Ich habe unbeschreibliche Kopfschmerzen. Ich brauch eine Aspirin!"

    „Darüber machen Sie sich keine Sorgen. Sie werden bald keine Probleme mehr mit Ihrem Kopf haben."

    Hans Büchners Herz verdoppelte die Schlagzahl und in seinem Mund sammelte sich Speichel, süßlich scharf schmeckend, so wie es immer war, bevor er sich übergeben musste. „Was meinen Sie? Wollen Sie mich töten? Haben Sie Lösegeld für mich verlangt?"

    „Lösegeld?, kam es hämisch aus dem Lautsprecher. „Warum glauben Sie, dass ich Geld für Sie verlangen sollte? Haben Sie einen hohen Wert?

    „Ja! Meine Bank und meine Frau, sie werden Ihnen jede Summe zahlen, egal was Sie verlangen."

    „Jede Summe?!"

    „Ja, jede! Hoffnung keimte in Büchner auf. Der ekelhafte Geschmack in seinem Mund schwächte sich ab. „Wie viel wollen Sie haben?

    „Mehr als Sie zu zahlen bereit sind."

    „Nennen Sie einen Betrag. Ich verspreche, Sie bekommen ihn."

    „Der Preis ist höher."

    „Wie hoch? Glauben Sie mir, ich habe mit Summen gehandelt und jongliert, die Sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können." Büchners Stimme wurde fester. Er fühlte sich das erste Mal, seit er hier war, der Situation gewachsen.

    „Herr Büchner, ich rede von keiner Summe … Ich rede von Ihrem Leben."

    Büchners Knie gaben nach, er sackte auf dem Boden zusammen. Im nächsten Moment schoss ein Strahl halb Verdautes aus seinem Mund, zusammen mit aller Zuversicht, die er in den letzten Sekunden gesammelt hatte. „Nein! Er hustete, wischte sich den Mund ab. „Oh Gott, was wollen Sie von mir …?

    „Genau so habe ich Sie eingeschätzt. Kein bisschen Selbstachtung. Sie sind verabscheuungswürdig, eine arme Kreatur, ich glaube, das Beste wäre, Sie einfach umzubringen. Aber Sie sollen ein faire Chance bekommen, wie Ihr Mitgefangener."

    Hans Büchner horchte auf. „Eine faire Chance?" Seine Stimme zitterte und Tränen liefen ihm die Wangen herunter.

    „Sie sind ein jämmerlicher Versager, aber vielleicht zeigen Sie einmal in ihrem Leben Rückgrat."

    „Wie? Rückgrat?"

    „Indem Sie sich wie ein Mann verhalten. Nicht wie ein Waschlappen, der bei jeder Gelegenheit anfängt zu jammern, zu weinen und zu kotzen. Sie sind erbärmlich, wie Sie da in Ihrer Kotze knien."

    „Was soll ich …?"

    „Die Fragestunde ist beendet! Die Aussage duldete keinen Widerspruch. Mit einem elektronischen Klicken öffnete sich die Tür der Zelle. „Folgen Sie dem Gang bis zur nächsten offenen Tür. Sollten Sie versuchen zu fliehen, werden Sie es nicht überleben.

    Büchner erhob sich mit wackligen Knien, der Vergleich mit Wackelpudding schoss ihm durch den Kopf. Mit unsicheren Schritten führten ihn seine nackten Füße zur Tür. Er öffnete den rostigen Verschlag. Ein langer, spärlich erleuchteter Gang lag vor ihm. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und betrat den unendlich scheinenden Flur. Der Boden bestand aus Metallplatten. Als er ein paar Schritte gegangen war, schloss sich die Tür seiner Zelle mit einem Klicken. Nun blieb ihm keine andere Möglichkeit, als dem Verlauf des Gangs zu folgen. Nach ungefähr zehn Metern passierte er eine weitere Tür. Verschlossen. Im Gegensatz zu seiner eigenen Zelle verfügte diese Tür über eine Glasscheibe in Augenhöhe. Der Raum dahinter sah aus wie seine eigene letzte Herberge, mit dem Unterschied, dass zwei Betten darin standen. In beiden lagen Menschen. Links ein Mann, rechts eine Frau. Beide Personen waren mit braunen Lederriemen an das Metallgestell ihres Bettes gefesselt. In ihren Unterarmen steckten Kanülen mit Schläuchen, die eine klare Flüssigkeit in ihre Körper leiteten. Als Büchner weitergehen wollte, erblickte ihn der Mann. Seine Arme spannten sich, als wolle er sie Büchner entgegenstrecken. Die Fesseln hinderten ihn daran. Seine Lippen formten Worte, die der Banker nicht verstand. Der Gefangene wiederholte sie wieder und wieder. Büchner gab sich einen Ruck und ging weiter.

    Nach etwa fünf Metern die nächste Tür. In dem dahinter liegenden Raum bot sich ihm das gleiche Bild. Die gleiche Zelle, zwei Betten, ein Mann und eine Frau, die gefesselt waren. Der Unterschied zum ersten Szenario bestand darin, dass diese beiden bedauernswerten Gestalten einfach nur an ihre Betten geschnallt waren. Weder der Mann noch die Frau schlugen die Augen auf. Die beiden Gefangenen sahen mager aus, unterernährt. Büchner nahm an, dass sie schliefen.

    Der Banker riss sich von dem Bild los und setzte seinen Weg fort. Was geschah in diesen Zellen? Experimente? Der Gedanke jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Und da war sie wieder, die Angst. Was würde am Ende des Ganges auf ihn warten? Würde er je wieder das Licht der Sonne erblicken?

    Ein paar Meter weiter erreichte er eine angelehnte Metalltür. Er öffnete sie vollständig, trat hindurch und lehnte sie wieder an. Mit einem elektronischen Klick schloss sich die Tür wie von Geisterhand.

    Der Raum, in dem er stand, unterschied sich in Länge und Breite von seiner bisherigen Zelle. Er war doppelt so groß, jedoch ohne Bett und sanitäre Einrichtung. Der Boden bestand nicht aus Stein, sondern wie der Gang aus Metallplatten. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine zweite Tür. Sie stand einen Spaltbreit offen.

    „Warten Sie hier!", erklang plötzlich wieder die Stimme.

    Jetzt fiel Büchner auf, dass links von ihm ein Spiegel den größten Teil der Wand einnahm, vom Boden bis zur Decke. Während er überlegte, was nun passieren würde, schob sich ein verängstigt dreinblickender Mann durch die gegenüber liegende Tür. Er schätzte den korpulenten Weißen auf Mitte vierzig. Seine braunen Augen schauten hektisch umher. Die Halbglatze verstärkte den Eindruck, einen gepeinigten Verlierer vor sich zu haben. Büchner notierte, dass sein Gegenüber die gleiche Kleidung wie er trug und keine Schuhe. Das Gesicht kam ihm bekannt vor, aber er wusste nicht woher.

    Die Tür hinter dem Dicken fiel ins Schloss. Wieder eingesperrt!

    Die Stimme meldete sich erneut: „Beschnuppern Sie sich. Ihnen bleibt eine Stunde."

    „Und was dann?", fragte Büchners Mitgefangener laut.

    Keine Antwort.

    „Wie sind Sie hier gelandet?", fragte der Mann.

    „Ich wurde mitten in der Nacht von einem Parkplatz entführt. Nach ein paar Sekunden fügte er hinzu: „Betäubungsmittel.

    „Wie ich."

    „Wie heißen Sie?", fragte Büchner.

    „Mein Name ist Sebastian Gerstel."

    „Hans Büchner. Haben wir uns schon einmal getroffen?"

    „Vielleicht, ich weiß nicht. Ganz ehrlich … Ich habe im Moment zu viel Angst, um mich an irgendwas zu erinnern", erwiderte Gerstel.

    Büchner nickte wissend. Ihm ging es genauso. Die beiden verängstigten Männer setzten sich eng nebeneinander, als ob sie sich auf diese Weise gegenseitig Schutz bieten könnten. Beide zitterten am ganzen Leib. Ob vor Kälte oder Angst gab keiner von beiden preis. Doch beide wussten die Antwort auf die ungestellte Frage.

    In der folgenden Stunde erfuhr Büchner, dass Gerstel Bankangestellter war. Er arbeitete bei der Deutschland Bank in der Taunus-Anlage in Frankfurt. Sein Job war der Wertpapierhandel, im ganz großen Stil. Die Bankenkrise war auch an ihm nicht spurlos vorbei gegangen. Gerstel hatte Verluste einstecken müsse, wie seine Kunden.

    „Ich glaube, unser Entführer ist ein geschädigter Mandant, entweder von Ihnen oder von mir. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Er denkt, wenn er zwei Banker entführt, bekommt er seine Verluste wieder rein. Gerstel sah Büchner erwartungsvoll an: „Was glauben Sie?

    Büchner klangen die Worte ihres Entführers in den Ohren: Ich will Ihr Leben. „Haben Sie gefragt, wie hoch das Lösegeld ist, das er verlangt?"

    Gerstel sah ihn verdutzt an: „Nein. Sie?"

    „Ja. Er wollte nur mein Leben. Ich glaube, er hat nicht vor, Forderungen zu stellen."

    Gerstel wurde blass. „Haben Sie sich vielleicht verhört?"

    „Bestimmt nicht", antwortete Büchner mit einem humorlosen Lachen.

    Bevor Gerstel etwas erwidern konnte, knackte es im Lautsprecher. „Hallo, die Herren. Gut unterhalten? Ich hoffe, Sie vertragen sich."

    Büchner fasste einen Entschluss, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. „Was wollen Sie von uns? Verdammt! Ich bin das scheiß Warten satt."

    „Ah, da hat sich jemand ein Rückgrat wachsen lassen, sehr interessant. Herr Büchner, ich mag mutige Männer."

    „Ich will endlich Antworten, Sie Psychopath!" Im selben Moment, in dem er das letzte Wort ausgesprochen hatte, bedauerte er es bereits. War er zu weit gegangen? Das Eis unter seinen Füßen schien dünner zu werden und er glaubte, es leise knacken zu hören. Dann spürte er ein Kribbeln an den Füßen, welches von Augenblick zu Augenblick stärker und unangenehmer wurde. Es traf ihn wie ein Hammerschlag, Strom! Die Platten unter seinen Füßen standen unter Strom. Gerstel sprang ebenfalls auf und bewegte sich hektisch von einer Platte zur nächsten, aber der gesamte Boden war elektrisch aufgeladen.

    „Was haben Sie getan?, Gerstel blickte panisch zu Büchner. „Sie Idiot. Au … au … autsch …! Er hüpfte von einem Fuß auf den anderen.

    So plötzlich wie der Spuk begonnen hatte, war er zu Ende. Gerstel blieb stehen, beendete seinen Regentanz.

    „Das war ein Vorgeschmack. Sollten Sie meinen Anweisung nicht Folge leisten oder aufbegehren … Strom! Ist diese Nachricht angekommen?", klang es aus dem Lautsprecher.

    Beide

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